"Die Menschen vergaßen Gott, daher kommt alles"
Über die Ursachen des Hasses und der drohenden Apokalypse
von ALEXANDER SOLSCHENIZYN
(aus DIE WELT vom 4.6.1983)
Vor mehr als einem halben Jahrhundert, noch als Kind, hörte ich, wie
ältere Leute die ungeheuren Erschütterungen, von denen Rußland damals
heimgesucht wurde, so erklärten: "Die Menschen haben Gott vergessen,
daher kommt dies alles."
Und heute, nachdem ich fast ein halbes Jahrhundert lang an der
Geschichte unserer Revolution gearbeitet, Hunderte von Büchern gelesen,
die Berichte Hunderter von Augenzeugen gesammelt und selbst acht dicke
Bände zur Bewältigung dieses Erdrutsches geschrieben habe - heute
könnte ich auf die Bitte, so kurz wie möglich den Hauptgrund für diese
verheerende Revolution zu nennen, die an die 60 Millionen unserer
Menschen verschlungen hat, heute könnte auch ich mich nicht genauer
ausdrücken, als durch die Wiederholung: "Die Menschen haben Gott
vergessen, daher kommt dies alles."
Und ich möchte noch weiter gehen. Die Ereignisse der russischen
Revolution können erst jetzt, gegen Ende des Jahrhunderts, vor dem
Hintergrund dessen verstanden werden, was inzwischen in der übrigen
Welt geschehen ist. Dabei wird ein weltweiter Prozeß deutlich. Wenn man
mich nun auffordern würde, auch das wesentlichste Charakteristikum des
gesamten 20. Jahrhunderts kurz zu benennen, dann finde ich dafür
wiederum nichts Genaueres und Gewichtigeres als: "Die Menschen haben -
Gott - vergessen."
Fehler des menschlichen Bewußtseins, dem das Gefühl für die Erhabenheit
des Göttlichen abhanden gekommen war, bedingten die schwersten
Verbrechen unseres Jahrhunderts. Das erste von diesen war der 1.
Weltkrieg, auf den sich viel Heutiges zurückführen läßt. Dieser schon
fast vergessene Krieg, in dem sich das reiche, kraftvoll blühende
Europa wie von Sinnen selbst zerfleischte und sich dabei vielleicht
mehr Schaden zufügte als sonst in einem ganzen Jahrhundert (und das
vielleicht für alle Zukunft) -, dieser Krieg kann nur als allgemeine
Umnachtung des Verstandes der Regierenden gedeutet werden, eine Folge
des verlorengegangenen Wissens um die über uns waltende höhere Kraft.
Nur aus einer solchen gottlosen Erbitterung heraus konnten sich die dem
Anschein nach christlichen Staaten auch entschließen, Giftgase
anzuwenden - etwas, was schon deutlich jenseits der menschlichen
Grenzen liegt.
Der giftige Windstoß des Säkularismus in Rußland
Ein ähnlicher, auf der Verleugnung unseres göttlichen Ursprungs
beruhender Bewußtseinsmangel führte dazu, daß wir nach dem 2. Weltkrieg
der satanischen Verführung des "Atomschirmes" erlagen. Damals hieß es:
Wir lehnen alle Verantwortung ab und entlassen die Jugend aus jeder
Pflicht und Schuldigkeit, wir unternehmen keine Anstrengungen, um uns
selbst und schon gar nicht andere zu verteidigen, wir verschließen
unsere Ohren dem Stöhnen aus dem Osten und leben statt dessen auf der
Jagd nach dem Glück; und sollten sich auch über uns Gefahren
zusammenbrauen, dann wird uns die Atombombe schon schützen - und wenn
nicht dann mag die ganze Welt verbrennen und zum Teufel gehen! Der
beweinenswerte, hilflose Zustand, in den der Westen heute
hineingetaumelt ist, kann weitgehend auf den schicksalhaften Trugschluß
zurückgeführt werden, daß der Schutzwall der Welt nicht die Festung der
Herzen, nicht die Standhaftigkeit der Menschen ist, sondern allein die
Atombombe.
Nur durch den Verlust der Beziehung zu Gott war es auch möglich, daß
sich der Westen nach dem 1. Weltkrieg ruhig mit dem jahrelangen
Untergang Rußlands abfinden konnte, das von einer menschenfresserischen
Bande zerfleischt wurde - ebenso wie nach dem 2. Weltkrieg mit dem
Untergang Osteuropas. Damit begann doch der für das Jahrhundert
schicksalhafte Prozeß des Untergangs unserer Welt. Der Westen aber
durchschaute das nicht, ja, er trug sogar seinen Teil dazu bei. Nur ein
einziges Mal im ganzen Jahrhundert raffte der Westen seine Kräfte
zusammen - zum Kampf gegen Hitler. Die Früchte dieses Kampfes sind
jedoch längst dahin. Gegen Menschenfresser wurde in diesem gottlosen
Jahrhundert ein Betäubungsmittel gefunden: Mit Menschenfressern müsse
man - Handel treiben. Das ist das heutige Hügelchen unserer Weisheit.
Heute hat die Welt eine Grenze erreicht, die, hielte man sie den
Menschen der vergangenen Jahrhunderte vor Augen, ein einhelliges
Stöhnen zur Folge hätte: "Das ist die Apokalypse!" Wir jedoch haben uns
an sie gewöhnt, haben uns sogar wohnlich darin eingerichtet.
Dostojewskij hat gewarnt: "Es können große Ereignisse eintreten und die
Kräfte unserer Intelligenz überrumpeln." So geschah es auch, und er
sagte voraus: "Die Welt wird sich erst nach der Heimsuchung durch den
bösen Geist retten." Aber wird sie sich retten? Die Antwort steht noch
aus, es wird von unserem Gewissen abhängen, vom Grad unserer
Erleuchtung, von unseren eigenen und von unseren vereinten
Anstrengungen in der katastrophalen Situation. Aber es ist schon so
weit, daß sich der böse Geist wie ein Wirbelsturm über allen fünf
Kontinenten austobt.
Wir sind Zeugen, sei es einer erzwungenen Zerstörung, sei es einer
freiwilligen Selbstzerstörung der Welt. Das ganze 2o. Jahrhundert wird
in den Mahlstrom des Atheismus und der Selbstvernichtung
hineingerissen. Und dieser Sturz der Welt ins Bodenlose trägt
zweifellos globale Züge, ist unabhängig vom staatlichen, politischen
System, vom ökonomischen und kulturellen Niveau, von nationaler
Eigenart. Das heutige Europa, das dem Rußland von 1913 so wenig zu
ähneln scheint, steht vor dem gleichen Sturz, auch wenn es auf anderen
Wegen dahin gekommen ist. Die verschiedenen Teile der Welt haben
verschiedene Wege eingeschlagen, doch heute nähern sie sich alle der
Schwelle des gemeinsamen Untergangs.
Irgendwann gab es auch in der Geschichte Rußlands Jahrhunderte, in
denen die Menschen ihr Ideal nicht in Ruhm, Reichtum und materiellem
Erfolgsstreben sahen, sondern vielmehr im geheiligten Lebenswandel.
Damals war Rußland randvoll von Orthodoxie, der Hüterin des rechten
Glaubens der Urkirche der ersten Jahrhunderte. Diese alte
Rechtgläubigkeit hatte das Volk sogar unter dem Joch der
Fremdherrschaft zwei bis drei Jahrhunderte schützen und gleichzeitig
die unseligen Schwertschläge der Ordensritter aus dem Westen abwehren
können. In jenen Jahrhunderten fand der orthodoxe Glaube bei uns
Eingang in das Denken und den Charakter der Menschen, in ihren
Lebensrhythmus und in das Gefüge der Familie, in den Alltag, in den
Kalender der Arbeits- und Feiertage, in den Tagesablauf von Woche und
Jahr. Der Glaube war die einende und festigende Kraft der Nation.
Doch im 17. Jahrhundert wurde unsere orthodoxe Kirche durch eine
unheilvolle innere Spaltung zerrissen. Im 18. Jahrhundert erschüttern
die gewaltsamen Reformen Peters Rußland; dabei werden die Religiosität
und das nationale Eigenleben zugunsten von Wirtschaft, Staat und Krieg
unterdrückt. Zusammen mit der einseitigen Aufklärung unter der
Herrschaft Peters drang auch ein giftig-düner Windstoß von Säkularismus
bei uns ein, der dann im 19. Jahrhundert die gebildeten Schichten
durchsetzte und damit dem Marxismus eine breite Bresche schlug. Im
vorrevolutionären Rußland schließlich hatte sich der Glaube in den
Kreisen der Gebildeten ganz verflüchtigt, und auch unter den
Ungebildeten hatte er Schaden genommen.
Der gleiche Dostojewskij folgerte bei der Beurteilung der französischen
Revolution, die vom Haß auf die Kirche brodelte: "Eine Revolution muß
unweigerlich mit dem Atheismus beginnen." Und das stimmt. Doch eine
derart organisierte, militarisierte und konstant bösartige
Gottlosigkeit, wie sie im Marxismus auftritt, hat die Welt bislang noch
nie erlebt. Im philosophischen System und im psychologischen Kern von
Marx und Lenin ist der Haß auf Gott die Haupttriebfeder und rangiert
vor allen politischen und wirtschaftlichen Forderungen.
Für die kommunistischen Politiker ist der militante Atheismus kein
Detail, keine Randerscheinung, kein Nebenprodukt, sondern ihre
wichtigste Antriebskraft. Zur Verwirklichung ihrer diabolischen Ziele
brauchen sie eine religionslose Bevölkerung ohne Nationalbewußtsein,
müssen sie den Glauben an die Nation vernichten. Und das eine wie das
andere verkünden und praktizieren die Kommunisten überall ganz offen.
Wie sehr die atheistische Welt darauf angewiesen ist, die Religion zu
zerstören, wie sehr diese ihr ein Stachel im Fleisch ist, zeigt sich
auch am ganzen Spinngewebe um das jüngste Attentat auf den Papst.*
Die zwanziger Jahre in der UdSSR waren ein einziges langes Martyrium
sämtlicher orthodoxen Priester: Zwei erschossene Metropoliten, darunter
der in einer Volksabstimmung gewählte Metropolit von Petrograd,
Benjamin; Patriarch Tichon selbst, der durch die Mühlen der Tscheka-GPU
getrieben wurde und anschließend unter mysteriösen Umständen starb;
dazu Dutzende von Erzbischöfen und Bischöfen, Zehntausende von
Priestern, Mönchen und Nonnen. Sie alle sollten unter dem Druck der
Tschekisten Gottes Wort verleugnen, wurden gefoltert, in Kellern
erschossen, in Lager gesperrt oder in die menschenleere Tundra im
äußersten Norden verbannt; alte Leute wurden hungrig und obdachlos dem
Elend preisgegeben. Alle diese christlichen Märtyrer gingen standhaft
für ihren Glauben in den Tod, und nur einige wenige zuckten zurück und
schworen ab.
Gleichzeitig wurde vielen Millionen Gemeindegliedern der Weg zur Kirche
versperrt, man verbot ihnen, ihre Kinder im Glauben zu erziehen, und
schleppte sie von ihren Kindern fort ins Gefängnis; diese aber wurden
mit Hilfe von Drohungen und Lügen dem Glauben entrissen. Man kann
sagen, daß auch die sinnlose Zerstörung der russischen Landwirtschaft
in den 3oer Jahren, die sogenannte Ent-Kulakisierung und
Kollektivierung, bei der 15 Millionen Bauern umkamen und die bar jedes
ökonomischen Sinnes war, auf grausame Weise dem Hauptziel diente,
nämlich die nationale Lebensart zu vernichten und die Religion im Dorf
auszurotten.
Nicht im System, im Herzen der Menschen liegt das Böse
Die gleiche Absicht, die Seelen zu verderben, waltete auch im
tierischen Archipel GULag, wo den Menschen beigebracht wurde, auf
Kosten des Todes anderer zu überleben. Und auch zu dem jetzt in der
Sowjetunion ersonnenen letzten Mord an der russischen Natur konnten
sich nur verrückte Gottlose entschließen: den russischen Norden
aufzuheizen, den Lauf der nördlichen Ströme nach Süden umzudrehen, die
Lebensgesetze des Eismeeres zu verletzen und das Wasser in den Süden zu
treiben; in den Süden, der schon früher durch vorangegangene, ebenso
unsinnige "große Bauten des Kommunismus" zugrunde gerichtet worden war.
Lediglich für eine kurze Zeit, als es notwendig erschien, alle Kräfte
gegen Hitler zu mobilisieren, erlaubte sich Stalin ein zynisches Spiel
mit der Kirche - und auf dieses betrügerische Spiel, das später mit
Breschnewschen Versatzkulissen und publikumswirksamer Reklame
fortgeführt wurde, ging man leider auch im Westen ein und nahm es für
bare Münze. Doch wie sehr der Haß auf die Religion im Kommunismus
tatsächlich verwurzelt ist, kann man am Beispiel seines liberalsten
Führers, am Beispiel Chruschtschows, erkennen. Obwohl dieser sich zu
einigen tatsächlich befreienden Schritten bereitfand, fachte er
gleichzeitig mit diesen Reformen von neuem das rasende Feuer der
Vernichtung der Religion an.
Was die Kommunisten jedoch nicht erwartet haben: In diesem Lande, in
dem die Kirchen niedergewalzt sind, wo der Atheismus schon fast 7o
Jahre lang triumphiert und hemmungslos entfesselt wütet, wo die
Hierarchie bis zum äußersten erniedrigt und ihres Willens beraubt ist,
wo die sichtbaren Reste der Kirche lediglich aus Gründen der Propaganda
für die westliche Welt geduldet werden, wo man auch heute nicht nur des
Glaubens wegen in ein Lager gesperrt wird, sondern auch im Lager selbst
diejenigen in den Karzer geworfen werden, die sich zum Ostergebet
zusammenfinden - in diesem Lande ist die christliche Tradition lebendig
geblieben! Ja, Millionen sind bei uns durch die von der Staatsmacht
verordnete Gottlosigkeit innerlich verödet und verdorben, doch ebenso
sind auch Millionen von Gläubigen erhalten geblieben; sie sind
lediglich nach außen hin heute noch gezwungen zu schweigen, doch wie
das bei Verfolgung und Leiden oft zu sein pflegt, hat die
Gottesgewißheit in meiner Heimat nun eine besondere Tiefe erreicht.
Und hier sehen wir ein Morgenrot der Hoffnung: wie bedrohlich bestückt
mit Panzern und Raketen der Kommunismus auch sein mag, und wie
erfolgreich er den Planeten auch erobert haben mag - er ist dazu
verurteilt, das Christentum nie besiegen zu können.
Der Westen hat die kommunistische Invasion noch nicht erlebt, es
herrscht Religionsfreiheit. Doch sein historischer Werdegang hat auch
ihn zur Verkümmerung seines religiösen Bewußtseins gebracht. Auch hier
gab es zerfleischende Schismen und blutige Religionskriege und
Feindschaften. Und natürlich wurde der Westen schon seit dem späten
Mittelalter von einer Welle der Säkularisierung überschwemmt, und diese
Bedrohung des Glaubens, nicht durch einen von außen gelegten Brand,
sondern durch inneren Wurmfraß, ist fast noch gefährlicher.
Durch jahrzehntelange Aushöhlung ging im Westen der Begriff eines
höheren Lebenssinnes verloren; übrig blieb nur die Jagd nach "Glück",
und dies wurde sogar ausdrücklich in den Verfassungen verankert. Nicht
erst in unserem Jahrhundert werden die Begriffe Gut und Böse ins
Lächerliche gezogen; mit Erfolg merzte man sie aus dem allgemeinen
Sprachgebrauch aus und ersetzte sie durch politische oder
klassenkämpferische Thesen von kurzer Lebensdauer. Es gilt als
peinlich, diese uralten Begriffe überhaupt noch zu benutzen, als
peinlich auch nur zu erwähnen, daß das Böse viel mehr im Herzen eines
jeden Menschen und weniger im politischen System liegt. Nicht peinlich
ist es aber, dem integralen Bösen tagtäglich nachzugeben.
Nach diesem erdrutschähnlichen Zurückweichen im Laufe einer einzigen
Generation gleitet der Westen nun unwiderruflich in den Abgrund. Die
westlichen Gesellschaften verlieren immer mehr ihren religiösen Gehalt
und überlassen ihre Jugend sorglos dem Atheismus. Welcher Beweise für
die Gottlosigkeit bedarf es denn noch, wenn sogar in den Vereinigten
Staaten, die doch im Rufe eines der allerreligiösesten Länder der Welt
stehen, kürzlich ein Jesus Christus verhöhnender Film gezeigt werden
durfte? Oder wenn eine in der amerikanischen Hauptstadt erscheinende
Zeitung schamlos eine Karikatur der Gottesmutter veröffentlichen kann?
Wenn das Recht schon öffentlich mißachtet wird, warum sollen sich die
Menschen dann die innerliche Würdelosigkeit versagen?
Warum sollte man es sich dann versagen, den Haß anzuheizen - den
Rassenhaß, den Klassenhaß, den überspannten ideologischen Haß? Dieser
Haß zerfrißt heute viele Seelen. Viele Lehrer erziehen doch die Jugend
zum Haß auf ihre Gesellschaftsordnung. Bei der Geißelung derselben wird
aber übersehen, daß die Laster des Kapitalismus angeborene Laster der
menschlichen Natur sind, den Menschen grenzenlos freigegeben zusammen
mit den übrigen Menschenrechten. Beim Kommunismus aber (und dieser
sitzt allen maßvolleren, wenig widerstandsfähigen Formen des
Sozialismus heiß im Nacken), beim Kommunismus sind die gleichen Laster
unkontrolliert bei allen verbreitet, die auch nur ein bißchen Macht
haben; alle übrigen, nicht an der Macht Beteiligten aber haben
tatsächlich "Gleichheit" erreicht, die Gleichheit bettelarmer Sklaven.
Der so entfachte Haß bestimmt heute die Atmosphäre in der freien Welt;
und je umfassender die persönlichen Freiheiten sind, je größer die in
der Gesellschaft erreichte soziale Sicherheit, ja sogar der Komfort
ist, um so heftiger ist paradoxerweise auch dieser blinde Haß. Damit
liefert der heutige, zivilisatorisch entwickelte Westen den Beweis
dafür, daß die Rettung des Menschen nicht im materiellen Überfluß und
nicht im erfolgreichen Geschäftemachen liegt.
Dieser so entfachte Haß breitet sich auf alles Lebendige aus, auf das
Leben selbst, auf die Welt, auf ihre Farben, Töne und Formen, auf den
menschlichen Körper - und an diesem widerwärtigen Haß geht auch die
herzlos-verbitterte Kunst des 2o. Jahrhunderts zugrunde, denn ohne
Liebe ist die Kunst unfruchtbar. Im Osten verfiel sie, weil man sie
niederwarf und zertrat, im Westen stürzte sie freiwillig als Folge
prätentiöser, konstruierter Bemühungen, bei denen der Mensch versucht,
anstatt den Willen Gottes zu erkennen sich selbst an Gottes Stelle zu
setzen.
Im übrigen stünde es der christlichen, der ehemals christlichen Welt
gut an, beispielsweise auch den Fernen Osten nicht aus den Augen zu
verlieren. Vor kurzem hatte ich Gelegenheit zu beobachten, wie sich in
Japan u d im freien China - bei scheinbar geringer Deutlichkeit der
Konturen ihrer religiösen Vorstellungen, jedoch bei ebenso
unbehinderter "Freiheit der Wahl" wie im Westen - sowohl die
Gesellschaft wie auch die Jugend mehr Moral bwahrt haben als im Westen
und daß sie von der Leere des säkularen Geistes weniger berührt sind
als wir.
Was soll man von der Aufspaltung der Menschheit in so viele Religionen
halten, wenn schon das Christentum in sich zerrissen ist? Während der
letzten Jahre wurden zwar von den größten christlichen Kirchen Schritte
der Versöhnung unternommen, doch das geschieht zu langsam, die Welt
stirbt hundertmal schneller. Man erwartet zudem ja auch nicht eine
Vereinigung der Kirchen, keinen Wechsel der Dogmen, sondern lediglich
ein einträchtiges Zusammenstehen gegen den Atheismus - und dafür werden
diese Schritte zu langsam unternommen.**
Es gibt auch eine organisierte Bewegung für den Zusammenschluß der
Kirchen, allerdings eine recht sonderbare, denn dieser Weltkirchenrat
ist mindestens ebensosehr mit den Erfolgen der revolutionären
Bewegungen in der Dritten Welt beschäftigt; dabei ist er blind und taub
in bezug auf die Verfolgung der Religion dort, wo sie am
konsequentesten betrieben wird - in der UdSSR. Das zu übersehen ist
völlig unmöglich, und das bedeutet dann doch wohl, daß man es aus
politischen Gründen vorzieht, nichts zu sehen und sich nicht
einzumischen? Doch was bleibt dann vom Christentum übrig?
Heute sieht es so aus, als zöge sich bei allem raffinierten politischen
Hinund Herlavieren die Schlinge um den Hals der Menschheit mit jedem
Jahrzehnt immer enger und hoffnungsloser zusammen; es scheint für
niemanden nirgendwohin einen Ausweg zu geben - keinen atomaren, keinen
politischen, keinen ökonomischen, keinen ökologischen. Ja, es sieht
ganz danach aus.
Vor dem Hintergrund der Berge und Gebirgsrücken derart weltbedeutender
Ereignisse scheint es nun geradezu unangemessen und unpassend zu sein,
daran zu erinnern, daß der Hauptschlüssel zu unserem Sein oder
Nichtsein in jedem einzelnen Menschenherzen liegt, darin, wie es sich
entscheidet: für das tatsächlich Gute oder für das Böse. Das gilt auch
heute noch, das ist der einzige zuverlässige Schlüssel. Die
vielversprechenden sozialen Theorien sind bankrott und haben uns in
einer Sackgasse im Stich gelassen. Fruchtlos sind die Versuche, einen
Ausweg aus der heutigen Weltlage zu suchen, ohne dabei das Bewußtsein
wieder reuig dem Schöpfer zuzuwenden. Zunächst aber muß man den ganzen
Schrecken erkennen, der nicht von außen, von irgend jemandem geschaffen
wurde, nicht von Klassenfeinden oder nationalen Feinden, sondern von
uns selbst in jeder Gesellschaft, und ganz besonders in der freien und
hochentwickelten Gesellschaft, denn dort haben wir alles selbst in
freier Willensentscheidung. Wir selbst ziehen mit unserem täglichen
leichtsinnigen Egoismus die Schlinge zu. (Was uns nahe an den Rand des
Nichts geführt hat)
Wir fragen uns: Sind die Ideale unseres Jahrhunderts nicht verlogen?
Ebenso verlogen wie unsere zuversichtliche modische Terminologie? Und
daraus folgend - was ist mit den oberflächlichen Rezepten zu
Verbesserung der Lage? Diese Rezepte müssen in allen Bereichen, solange
es noch nicht zu spät ist, mit ungetrübtem Blick überprüft werden. Die
Lösung der Krise liegt nicht im Fahrwasser angelernter alltäglicher
Vorstellungen.
Der Sinn unseres Lebens ist nicht das Streben nach materiellem Erfolg,
sondern das Streben nach würdigem geistigem Wachstum. Unser ganzes
Erdendasein ist lediglich eine Zwischenstufe in der Entwicklung zum
Höheren, und von dieser Stufe darf man weder herabstürzen, noch sollte
man auf ihr sinnlos herumstampfen. Die materiellen Gesetze allein
erklären nicht unser Leben und öffnen ihm auch keine Wege. Die Gesetze
der Physik und Physiologie werden uns nie zweifelsfrei enthüllen, daß
der Schöpfer ständig und täglich am Leben eines jeden von uns teilhat,
daß er uns stets Daseinskraft zuführt. Wenn uns diese Hilfe verläßt,
sterben wir. Und mit nicht geringerer Anteilnahme wirkt Er auf das
Leben des ganzen Planeten ein. Dies alles muß man in unserer dunklen
schrecklichen Zeit spüren.
Der voreiligen Hoffnungsfreudigkeit der zwei letzten Jahrhunderte, die
uns ins Nichts und an den Rand des atomaren und nicht-atomaren Todes
geführt hat, können wir nur die beharrliche Suche nach der
ausgestreckten Hand Gottes entgegenstellen, die wir so unbekümmert und
überheblich zurückgestoßen haben. Unsere fünf Kontinente sind von einem
Wirbelsturm erfaßt. Doch gerade bei solchen Heimsuchungen zeigen sich
die größten Fähigkeiten der menschlichen Seele. Sollten wir untergehen
und diese Welt verlieren - dann wäre es unsere eigene Schuld.
(aus dem Russischen übers, von Bernd Nielsen-Stokkeby)
Anmerkungen:
*) Das Attentat auf Johannes Paul II. wurde primär aus politischen
Überlegungen heraus im Auftrag des Moskauer KGB (Antropow damals)
verübt - wegen der immens politischen Rolle, die Wojtyla in der
polnischen Entwicklung spielte und noch immer spielt (man vgl. seine
jüngste Reise in sein Heimatland).
**) Hier spricht Solschenizyn als russisch-orthodoxer Christ, dem die
falschen ökumenischen Bestrebungen und die spezifisch dogmatische
Zerstörung der röm.-Kath. Kirche weitgehend verborgen geblieben sein
dürfte. |