von Ellen Kositza JUNGE FREIHEIT vom 14. Januar 2005
Eine Familie in Dresden lebt unter den Bedingungen offizieller Armut -
statt zu klagen, findet sich die mehrfache Mutter und Witwe
verhältnismäßig gut zurecht.
Die Rede von Armut in Deutschland hat in letzter Zeit verstärkt
Konjunktur: Die Arbeitsmarktreform bietet ein weites journalistisches
Betätigungsfeld, Leben unterhalb des Existenzminimums auszuleuchten.
Kaum ein Fernseh- oder Radiosender, wenige Zeitungen konnten sich im
vergangenen Advent enthalten, Mitarbeiter als Bettler auf die
Einkaufsstraßen zu schicken, spärlich gedeckte Tische wurden gezeigt,
traurige Kinderaugen, welche in diesem Jahr den Geschenkeberg unterm
Weihnachtsbaum deutlich geschrumpft vorfanden. In Zeiten wie diesen
werde selbst das Nötigste rar für die Betroffenen, heißt es: Nachdem
vor gut einem Jahrzehnt die erste städtische "Tafel" zur Armenspeisung
aus Kantinen- und Supermarktresten gegründet wurde, sind es heute
bundesweit über 400 solcher Volksküchen, die überall gut und gerne
angenommen werden. Zehntausende Deutsche kämpfen um ihr tägliches Brot,
heißt es.
Tatsächlich ist die Zahl der Armen seit den achtziger Jahren relativ
konstant geblieben, heute gilt jeder 11. Bundesbürger als arm, 8,7
Prozent in den alten, 10,7 Prozent in den neuen Bundesländern. Die
Altersarmut ist dabei mit vier Prozent relativ gering verbreitet,
stärker betroffen sind Einwanderer, Familien mit Kindern und
Alleinerziehende. Präziser als der weitgefaßte Armutsbegriff greift der
Terminus der "relativen Einkommensarmut", der diejenigen bezeichnet,
die hinter der allgemeinen Wohlstandsentwicklung zurückbleiben. In
Ziffern: Wessen Einkünfte sich auf unter 1.038 Euro monatlich belaufen,
gilt als arm. Längst werden auch Luxusgüter wie Fernsehen, Tabak und
Kaffee zum sogenannten Existenzminimum gerechnet.
Die Marxsche Prophezeihung vom Ärmerwerden der Armen bei gleichzeitiger
Reichtumsvermehrung der bereits Vermögenden trifft dabei im
internationalen Vergleich für Deutschland nicht zu. Der
Gimi-Koeffizient, der den Grad angibt, zu dem die Verteilung von
Einkommen von einer Gleichverteilung abweicht, liegt für unser Land bei
0,3. Damit liegt Deutschland auf Platz 17 von 105 erfaßten Staaten.
Auch wenn eine frühere Faustregel, dergemäß das Gehalt eines
Vorstandsmitglied das Zwanzigfache des Facharbeiterlohnes beträgt, der
Vergangenheit angehört - heute beträgt die Differenz das
Dreihundertfache -, liegen hierzulande die untersten Einkommensklassen
relativ nahe am Durchschnitteinkommen. Daher ist in bezug auf die
Armutsklage gelegentlich die Rede von einem "Jammern auf hohem Niveau".
Auf dem Lande ist ein Leben ohne Auto kaum denkbar
Jana Paulitz gehört mit ihrer Familie zu denen, die nach offizieller
Maßgabe ein Leben unter dem Existenzminimum führen. Ganz deutlich
empfindet auch sie eine Ungerechtigkeit in der Verteilung der Güter und
Privilegien: "Ich sehe aber auch einen tiefgreifenden Mangel an
Disziplin und Beschei-denheit. Irgendwie sind diese Tugenden unseren
Leute wohl abhanden gekommen. Vielleicht kann man das den einzelnen gar
nicht vorwerfen - Anspruchshaltungen entsprechen eben unserer Zeit. Man
müßte die Betroffenen eigentlich an der Hand nehmen und sie eines
Besseren belehren - aber wer tut das schon? Die Menschen sind doch ganz
alleingelassen in unserer bunten Konsumwelt."
Die Achtunddreißigjährige mit dem hüftlangen Zopf, deren Mann vor drei
Jahren durch einen Gehirnschlag gestorben ist, hat zwei Töchter im
Alter von vierzehn und fünf Jahren und einen elfjährigen Sohn. Sie
leben für eine niedrige Miete im Haus des Schwagers, einem kleinen,
grauen Altbau mit 140 Quadratmetern Wohnfläche am Rande von Dresden. In
den Fenstern hängt selbstgemachter Adventsschmuck, Stroh- und
Faltsterne, unter dem schlicht geschmückten Weihnachtsbaum in der
mollig warmen Wohnstube steht eine geschnitzte Weihnachtskrippe,
daneben zwei Notenständer. Im einfachen Kachelofen nach DDR-Bauart
knistert das Holz. "Die Öltanks im Keller sind jetzt seit zwei Jahren
leer", erklärt die Hausherrin. Das sei mitnichten ein Verlust an
"Lebensqualität", wie ihr Freunde damals prophezeit hatten, im
Gegenteil: "Alle zwei Monate lassen wir Brennholz anliefern, und wie
man Feuer macht, haben auch die Großen schnell gelernt. Ohne
Zentralheizung zu wohnen -das ist eigentlich eine ganz gute
Lebenslehre."
Stefan Paulitz, der verstorbene Ehemann, hatte sich kurz nach der Wende
selbständig gemacht. "Damals war das noch recht einfach, da gab es
großzügige Kredite, wir konnten die Raten auch planmäßig abbezahlen und
dabei noch gut leben", erzählt die junge Witwe. Ein großes Auto war
bald erschwinglich, die beiden älteren Kinder erhielten Musikunterricht
mit Einzelstunden, einmal im Jahr wurde eine große Urlaubsreise
unternommen - ein ganzer Monat, nach Masuren oder an die
Schwarzmeerküste.
Ein "paar tausend Euro" Schulden stehen heute noch zur Tilgung aus,
demgegenüber steht eine angesparte Reserve in knapp anderthalbfacher
Höhe. In vier Jahren, rechnet Frau Paulitz vor, ist alles abbezahlt.
Sie hofft, daß der kleine Rest des Zurückgelegten bis dahin
unangetastet bleiben kann. Eine Witwenrente erhält die Familienmutter
nicht, auch keine Zahlungen aus einer Versiche-rung. "Es hört sich
unglaublich an, aber gerade in den Wochen vor Stefans vollkommen
unerwartetem Tod erschien ihm dieses Thema der finanziellen Absicherung
akut. Verrückt, aber genau eine Woche vor seinem Todestag hatten wir
einen Versicherungsvertreter eingeladen, der uns diese ganzen
Unterlagen zur Risikolebensversicherung dagelassen hat." Als Frau
Paulitz später die Sachen ihres Mannes ordnete, hatte sie die
Vertragsblätter bereits teilweise ausgefüllt in einer Schublade
gefunden.
Daß Stefan Paulitz seine Familie ohne klassische Altersvorsorge
hinterließ, habe "viel weniger bei mir, mehr im Verwandtschaftskreis,
der insgesamt auch nicht eben wohlhabend ist" eine regelrechte Panik
ausgelöst: "Das Bild von mir und den Kindern 'auf der Straße' habe ich
in jenen Wochen wohl dutzendmal gemalt bekommen." Als erstes habe sie
das Familienauto abgemeldet und verkauft - damit fiel der größte Posten
der monatlichen Ausgaben weg. Sie und die beiden Schulkinder bezögen
verbilligte Monatskarten und hätten sich bisher in ihrer Mobilität nie
eingeschränkt gefühlt. "Das Nahverkehrsnetz in Dresden ist aber auch
wirklich beispiellos", gibt Jana Paulitz zu, "wenn jemand in meiner
Situation auf dem platten Lande sitzt, ist ein Leben ohne Auto
natürlich kaum denkbar."
Durch die Arbeitsmarktreform steht Familie Paulitz 2005 finanziell
nicht schlechter da als im Vorjahr: "Das ist klar, von den Einsparungen
betroffen sind ja schließlich die Arbeitssuchenden." Sie sei nicht
verlegen, ihre niedrigen Bezüge offenzulegen, sagt Frau Paulitz, die
Scham gehe eher in eine andere Richtung: "Es ist ein ganz dummes
Gefühl, jemandem auf der Tasche zu liegen, und sei es einer anonymen
Größe wie dem Staat. Ich kann mich nur damit trösten, daß ein weitaus
größerer Haufen an Steuergelder für Unsinnigeres verpulvert wird."
Inklusive des Alleinerziehendenzuschlags und des maximalen
Pauschalbeitrages für Kinder - "hätte ich fünf Kinder, bekämen wir
keinen Cent mehr" - erhält die Witwe etwa 570 Euro pro Monat, dazu
kommen 353 Euro für Heizung und Unterkunft. "Rechne ich jetzt noch das
Kindergeld dazu, sind das beinahe anderthalbtausend Euro." Weil Frau
Paulitz bereits vor dem Tod ihres Mannes ein Haushaltsbuch führte, weiß
sie, daß ihre monatlichen Ausgaben diese Summe nie übersteigen. Zu
manchen Zeiten, etwa bei Schuljahresbeginn oder wenn ein unerwarteter
Einzelposten zu Buche schlägt, wird es knapp - dafür bleiben in anderen
Monaten zwei, drei Hunderter übrig.
"Die besten Dinge im Leben kosten eben nichts"
"Was in der öffentlichen Diskussion untergeht", gibt die Familienmutter
zu bedenken, "ist der hohe Wert der Freizeit, die ich nach Belieben für
mich und mit den Kindern gestalten kann." Für diese Stunden ist Frau
Paulitz dankbar. Sie verbringt viel Zeit mit ihren Kindern, legt großen
Wert auf deren musische Bildung - "Instrumentalunterricht leisten wir
uns immer noch, allerdings ohne Einzelstunden, und der Chor ist
kostenlos" -, frequentiert wöchentlich die Stadtbücherei und engagiert
sich mit dem Nachwuchs in der katholischen Gemeinde. "Es mag banal
klingen, aber die besten Dinge im Leben kosten eben nichts:
Spaziergänge, Bastelstunden, der sonntägliche Gottesdienst - ach,
langweilig wird uns nie!"
Und wie ist das mit den kleinen Luxuswünschen des Nachwuchses, mit
etwaiger sozialer Ausgrenzung, weil die Kinder bei Moden nicht
mithalten können? Man hört oft, wie zermürbend es für weniger
wohlhabende Eltern sein könne, bei Bitten um Markenklamotten,
Spielzeug, aufreizend verpackten Süßigkeiten an Supermarktkassen stets
nur abschlägig zu urteilen. Jana Paulitz schüttelt lachend den Kopf.
"Wissen Sie, entweder ist das ein Klischee, das unhinterfragt von jedem
nachgeplappert wird, bis es dann zu einer Art selbsterfüllender
Prophezeiung wird, oder meine Kinder sind wirklich ganz besonders. Das
würde ich aber gar nicht behaupten! Ich kenne solche Probleme einfach
nicht! Klar, die vielzitierte Kassengeschichte, also diese Art
Drängelgitter mit den vielen Süßigkeiten, erlebt vielleicht jede Mutter
einmal. Bei uns hat ein klares 'Nein' immer ausgereicht."
Jana Paulitz lächelt wie in Gedanken an vergangene Erlebnisse.
Keinesfalls wird diese sanfte Frau je als Prototyp einer streng
autoritären Mutter wahrgenommen werden. "Und was die Klamotten angeht -
auch zu Lebzeiten meines Mannes sind wir nie auf die Idee gekommen, für
die Kinder 'shoppen' zu gehen. Von der Säuglingsausstattung an haben
wir alles immer gebraucht genommen, und dafür brauchten wir meist nicht
einmal auf Kinderwarenflohmäkte zu gehen, die es ja wirklich überall
zuhauf gibt. Diesen 'ach-wie-süß-Impuls' mancher Mütter, die dann bei
H&M einen ganzen Einkaufskorb von diesem bedrucktem Schnickschnack
aus Fernost einpacken, den kenne ich einfach nicht. Wir waren immer
dankbare Abnehmer von Sachen aus dem Freundes- und Verwandtenkreis oder
der Nachbarschaft. Diese Sachen werden doch immer nur kurz getragen,
und oft nur von einem Kind. Da ist auch nichts abgewetzt oder geflickt
- nicht, daß das eine Schande wäre. Gerade jetzt im Herbst, da hab ich
die Sommersachen von der Kleinen aussortiert, und da bin ich wirklich
auf Kleidchen und Hemden gestoßen, ganz nette, neuwertige Dinger, die
hatte Ronja nicht ein einziges Mal getragen, weil sie eben ihre sieben,
acht Lieblingssachen hat."
Dabei habe sie den "Markenwahn" nie eigens zum Thema machen, keine
Überzeugungsarbeit leisten müssen. "Zum einen haben wir seit Jahren
keinen Fernseher", versucht die Mutter eine Erklärung, "früher schon,
aber nachdem wir Anfang der Neunziger uns ziemlich unbedacht eine
Satellitenschüssel haben installieren lassen, ging uns recht schnell
auf, welch ein Zeiträuber dieses Gerät ist - und beim ersten Defekt
wurde es dann kurzerhand abgeschafft. Wir haben's nie bereut." Manchmal
guckten die Großen bei Freunden, "dagegen hab ich gar nichts, ich sehe
das ja nicht ideologisch. Aber die Kinder haben noch nie darum gebeten,
daß wir uns wieder einen anschaffen." Zum anderen, so erklärt Frau
Paulitz die "Luxusresistenz" ihrer Kinder, habe der elterliche
Erziehungsansatz nie darauf abgezielt, die Kinder zu
"stromlinienförmigen Mitgliedern der Gesellschaft" zu machen, wie sie
sagt, "sondern zu freien Menschen. Meiner Tochter sind Marken
nachgerade peinlich: Als neulich ein Paket abgelegter Kleider von der
Cousine ankam, hat Esther die Teile mit sichtbarem Label aussortiert:
'Sowas trag ich nicht, da komme ich mir ja affig vor', hat sie gesagt."
Aber allein die Schuhe, die gehen doch ins Geld: Halbschuhe,
Winterstiefel, Sandalen, Gummistiefel, Turnschuhe, Hausschlappen, ein
Paar zum Wechseln - und das alles mal drei, jährlich neu für die
wachsenden Füße? "Ja, die Halb- und Winterschuhe, das ist schon immer
ein ganz schöner Posten, gerade, wenn man Qualität will und keine
Discounterware", gibt Frau Paulitz zu. "Aber den Rest, ob Gummistiefel,
warme Hüttenschuhe oder Turnschläppchen - die hole ich eigentlich immer
für eine Minispende oder kostenlos bei 'Kaleb', einer katholischen
Lebenschutz- und Sozialeinrichtung. Und jetzt schauen Sie sich doch mal
bitte meine eigene Schuhabteilung an." Frau Paulitz geht in den Flur
mit den alten, breiten Dielenbrettern und öffnet eine
Ikea-Schuhkommode: "Da - fünf , sechs Paar besitze ich selbst. Halten
Sie das für ärmlich? Die Birkenstocksandalen werden alle zwei Jahre
fällig, und hier, der Rest", sie zeigt auf recht zeitlose
Freizeitschuhe, elegante gefütterte Stiefeletten und modische
Glattlederstiefel mit Absatz, "das ist alles aus den Neunzigern. Die
hohen Stiefel hier, die trag ich so gern, die haben 1999 150 Mark
gekostet. Als ich die vor kurzem ein zweites Mal zum Schuster brachte,
um die Sohle richten zu lassen, hat der den Kopf geschüttelt und
gemeint: Legen Sie doch zwanzig Euro drauf zu den Reparaturkosten, und
Sie kriegen bei Deich-mann ein neues Paar. Da sieht man eben deutlich,
wie unsere Gesellschaft funktioniert!"
Ihre Schwester, erzählt Jana Paulitz, wohne in Thüringen auf dem Lande,
in einem Ort mit über 20 Prozent Arbeitslosigkeit. "Was da geklagt
wird! Zu Weihnachten waren wir dort, da war so eine unausgesprochene
Meisterschaft in Adventsbeleuchtung ausgebrochen, das war kaum zu
glauben, wie sich gerade die Bewohner der ärmsten Häuschen mit
glühenden Nikoläusen und Glitzerkram übertroffen haben. Zuletzt waren
wir zur Jahrtausendwende dort gewesen, und seither haben da drei Läden
neu eröffnet: ein Studio für 'Acrylnadelmodellage', ein Kosmetiksalon
und ein Fitneßcenter. Ich möchte ja kein Klischee bedienen, aber da
wurde mir klar, was diese Massen an Arbeitslosen mit ihrem Zuviel an
Freizeit anfangen!"
Gäbe es also gar nichts, was sich die Familie bei eigenem Einkommen
zusätzlich leisten würde - Zufriedenheit rundherum? "Aber sicher sind
solche Wünsche offen!" Die hübsche Frau lacht: "Zunächst käme eine
richtig teure, neue, rückengerechte Matratze dran - für mich. Dann ein
moderner Computer für uns alle - unser alter Rechner ist
vorsintflutlich. Aber", da ist sich Jana Paulitz sicher, "das wird
schon. Manchmal muß man eben ein wenig Geduld haben mit seinen
Bedürfnissen!"
Hinter dem Wohnhaus steht zwischen schmalen Blumenrabatten ein
baufälliger Schuppen. Der soll im Frühjahr abgerissen werden - der
Schwager als Eigentümer unterstützt dieses Vorhaben. "Dort möchte ich
mir einen kleinen Acker urbar machen. Nicht, daß sich so ein bißchen
Selbstversorgung den Sommer über wirklich bezahlt macht - aber frisches
Gemüse und Kartoffeln aus dem eigenen Garten, das stelle ich mir schön
vor. Die Großen haben schon auf Papierbögen detaillierte
Bepflanzungsskizzen entworfen, mit viel Platz für Erdbeeren und
Tomaten."
Natürlich gebe es auch Momente, sagt Frau Paulitz, wo sie sich "den
ganz großen Lottogewinn" herbeisehne, etwa, wenn wie im vergangenen
Herbst binnen eines Monats erst eine Dachrinne entzweigeht, dann im
Flur ein Quadratmeter Putz einfach von der Wand fällt und schließlich
noch die Waschmaschine ihren Geist aufgibt. "Um solche Sachen hat sich
immer mein Mann gekümmert, oder man hat halt schnell einen Handwerker
beauftragt. Da verflucht man schon mal die eigenen beiden linken Hände.
Aber man wächst eben mit den Aufgaben." Und statt eines neuen Geräts
gab es eben ein gebrauchtes für 150 Euro - "aber das läuft sparsam und
tadellos". Ihr zustehende Zuschüsse für derlei Gebrauchsgegenstände hat
sie nie in Anspruch genommen: "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott,
das ist doch kein schlechter Leitsatz", findet die Mutter.
Ganz frei von "diesem Versorgungsdenken" sei sie aber auch nicht. Die
ausgebildete Ernährungsberaterin erzählt, daß sie kürzlich eine
fachfremde Beschäftigung - "so etwas wie Adressenschreiben" - angeboten
bekam, acht Stunden die Woche für einen geringen, der Aufgabe eben
angemessenen Stundenlohn. Damit würde die kleine Tochter aber aus der
niedrigen Betreuungskostenstufe im Kindergarten herausfallen. "Ich
würde also fünfunddreißig Stunden monatlich arbeiten, hätte zwei freie
Vormittage weniger und unterm Strich gerade dreißig Euro mehr. Das wäre
mir dann doch zu blöd", gesteht sie ein. Ein Vormittag ist bei Frau
Paulitz für den Haushalt reserviert, an zwei weiteren Tagen besucht und
versorgt sie eine gebrechliche Nachbarin - "eine 87jährige Greisin,
deren drei Kinder alle im Westen sind, sie hat Pflegestufe II und
vegetiert so ziemlich vor sich hin - das ist Armut!" Montags und
freitags geht sie einkaufen und ins Schwimmbad: "Sich eine Stunde lang
im Wasser ausstrecken, sich verausgaben oder nur entspannen - ist das
nicht Luxus?" Gelegentlich hält Jana Paulitz Vorträge vor
Krabbelgruppeneltern, Diabetikern oder Schulklassen, das wird frei
honoriert, ist ein kleines willkommenes Zubrot und macht ihr Freude.
"Wenn Ronja nächstes Jahr eingeschult wird, werde ich wohl auch wieder
regulär arbeiten, halbtags nach Möglichkeit."
"Wir sind sogar zweimal pro Jahr in den Urlaub gefahren"
Daß ein Alltag unter dem "Existenzminimum" durchaus lebenswert zu
gestalten ist, mag angehen, aber verlangt das nicht geradezu ein
Übermaß an Selbstbeschränkung, die man heute eben nicht von jedermann
verlangen kann? Frau Paulitz schüttelt den Kopf. "Nein, da muß ich doch
hartnäckig widersprechen. Schauen Sie, wir hier schöpfen ja längst
nicht alle Möglichkeiten aus, die uns der Sozialstaat bietet. Und
dennoch ist es überhaupt nicht so, daß wir zum Monatsende aus
Blumenkohlstrünken unser Mittagessen kochen - obwohl ich so einen
Gedanken nicht mal abwegig und unzumutbar fände. Durch den Dresden-Paß,
der Sozialhilfeempfängern und Beziehern niedrigster Einkommen zusteht,
könnte ich beispielsweise die Kinder verbilligt am Schul- und Kitaessen
teilnehmen lassen. Mach ich nicht, diese Mahlzeiten voller
synthetischer Zusatzstoffe halte ich nicht für gut. Ich kaufe sogar
manches im Bioladen ein, obwohl mich die hohen Preise dort grämen. Und
stellen Sie sich vor, wir sind in den letzten Jahren sogar jeweils
zweimal Wochen in Urlaub gefahren, nicht mit Hotel und Palmen zwar, und
einmal hat auch die Caritas mitgeholfen - aber wer könnte da noch von
Armut reden?" Apropos Urlaub erzählt Frau Paulitz, daß die ältere
Tochter im kommenden Sommer mit drei Freundinnen verreisen möchte: "Das
eine Mädchen hatte so eine organisierte Malta-Reise aus einem Katalog
für Jugendferien herausgesucht, über tausend Euro für zwei Wochen.
Obwohl sich das alles ganz toll und aufregend las in der Beschreibung,
hat sich meine Tochter aufgeregt und für eine Fahrt mit der Gemeinde
oder einen selbstorganisierten Zelturlaub an der Ostsee plädiert.
Nachdem die teuere Planung dann also an ihrem Veto gescheitert war,
riefen mich die zwei mitbeteiligten Mütter an und sagten, sie seien mir
sehr dankbar, daß dieser 'wahnsinnige Druck' von ihnen genommen sei.
Vielleicht ist es komisch, aber so einen Druck spüre ich nie." Zum
Abschied gibt Frau Paulitz mit einem Augenzwinkern auf: "Schreiben Sie
bloß nicht zu viel von Bescheidenheit und Selbstbeschränkung, schreiben
sie, daß wir glücklich sind - denn das ist die Wahrheit!"