55. Jahrgang Nr. 4 / August 2025
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1. Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind
2. DAS ATHANASIANISCHE GLAUBENSBEKENNTNIS
3. Über das Papsttum der Römischen Bischöfe
4. Das Konzil von Trient, Glorie der Kirche
5. Richtlinien für eine Papstwahl
6. Offener Brief an H.H. Prof. Dr. August Groß
7. Apokalyptische Betrachtung des heutigen Geschehens
8. Der Aufmarsch gegen den Irak
9. DER CHRIST IN DER ZEIT
10. DIE ERSCHEINUNGSFORMEN
11. DIE BEKEHRUNG EINES SCHISMATIKERS
12. Leserbrief
13. Betrachtungen über das Gebet
14. MITTEILUNGEN DER REDAKTION
15. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN
16. SPENDENAUFRUF
DER CHRIST IN DER ZEIT
 
DER CHRIST IN DER ZEIT

von
Graham Greene

Die Frage "Gehört der Christ der Welt?" hört sich beinahe an wie jene andere: "Gehört der Gefangene seinem Gefängnis?" Sicher besteht die Gefahr für die geistige Verfassung des Gefangenen weniger in der Haft selbst als in der Gewöhnung an die Haft. In einem Gefängnis, in dem man sich wohl fühlt, weil Blumen in der Zelle stehen und die Ernährung gut ist, wo man auf den Sportplätzen Tennis spielen kann, und wo der Direktor gütig und gebildet ist, – in solch einem Gefängnis wird die Moral des Gefangenen am ehesten untergraben. Wieviel günstiger ist in dieser Hinsicht das Schicksal der Katholiken in der Gegenwart: das Problem des Christen in dieser Welt ist einfacher geworden. Wir wissen ganz genau, woran wir sind. Im Zeitalter von Belsen besteht keinerlei Gefahr, daß wir uns mit unserm Gefängnis aussöhnen. Es ist, als ließe der ewige Feind die Maske fallen, so wie ein Duellant seinen Schutzmantel sinken läßt, weil er in satanischem Dünkel glaubt, der Endkampf sei nahe. (Aber es ist nicht das erste Mal, daß er es glaubt, und der Vermessene hat sich noch immer getäuscht.) Wenn die Welt uns zu fesseln vermag, so nur dank ihrer trügerischen, aber unleugbaren Lockungen der irdischen Liebe, des Ehrgeizes und des Hasses.

Es ist leicht, sie zu durchschauen, sogar im Augenblick des Falles. Wir sündigen, und wir bereuen. Nicht wie unsere Väter werden wir versucht, einer weltlichen Religion zu folgen, einer Religion, die ihren Materialismus hinter christlichem Gewande verbarg und die sich sogar im Herz der Kirchen versteckte, um sie zu verraten. Der große englische Kardinal Newman, der heute noch eindringlicher als zu seinen Lebzeiten zu den englischen Katholiken zu sprechen scheint, erkannte schon vor seiner Konversion die Gefahren dieser weltlichen, gebildeten und von allem Aberglauben losgelösten Religion. Folgendermaßen beschreibt er ihre Gläubigen – Sie erinnern sich wohl, daß sie sich für ebenso gute Christen hielten wie irgendein demütiger Landpfarrer, der wie der Pfarrer von Ars sein Priester-amt ausübte -: "Ihre Vision des Reiches Christi deckt sich mehr oder weniger mit der Eleganz und dem Raffinement der Zivilisation, und jedes neue Anzeichen von Wohlstand, jedes staatliche Hygiene-Gesetz und jede vom Staat zu Gunsten des öffentlichen Wohles unternommene Tat erschien ihnen wie ein Zeichen für die Ankunft ihres Heilandes. Nur darauf bedacht, ihr Ziel zu erreichen, haben sie sich wenig um die angewandten Methoden bekümmert. Sie haben Männer unterstützt, die öffentlich antichristliche Prinzipien vertraten, und mit ihnen zusammengearbeitet. Sie haben alles, was sie als Reformen und Verbesserungen der herrschenden Zustände ansahen, bejaht und verteidigt, selbst wenn sie bei der Durchführung dieser Reformen Ungerechtigkeiten begehen mußten... Sie haben die Wahrheit dem Opportunismus geopfert."   

Und an einer anderen schönen Stelle spricht der Kardinal seine Überzeugung aus, daß es unserem Lande zum Vorteil gereichen würde, "wenn es in seiner Religion noch viel abergläubischer, bigotter, finsterer und fanatischer wäre". Seit der Zeit der Verfolgungen, die in den zwanziger Jahren in Mexiko begannen, Europa 1933 erreichten und heute hinter dem Eisernen Vorhang ihren Fortgang nehmen, sind wir jedoch nicht mehr so leicht bereit, an diese weltliche Religion oder an die "Welt der Sicherheit, der Freude, des schönen Scheins und Wohlwollens" zu glauben. Ihr Dogma war zu schwach, um einem Umschwung standzuhalten, der wie eine grosse Häresie wirkte, und in den Stürmen unsrer Zeit ging sie unter wie ein Schiff, das ein Leck hat. Wir sind wieder dort angelangt, wo Newman uns haben wollte: in einer Welt der Wunder, wo Kinder Visionen haben und Steinbilder sich bewegen können, wo die Rosen auf einem Altar ein halbes Jahr lang nicht verwelken, und eine Bäuerin in Kanada jede Woche die Zeichen der Passion erleidet.

Vor wenigen Monaten noch hatte ich Gelegenheit, in einer kleinen franziskanischen Kirche in Italien um halb sechs Uhr früh die Messe zu hören, und, als ein Ärmel zurückglitt, die schreckliche schwar-ze Wunde der Stigmata zu sehen, mit denen Pater Pio seit einem Viertel Jahrhundert an den Händen und Füssen und an der Seite gezeichnet ist. Und im Dämmerlicht dieser sehr frühen Morgenstunde erinnerte ich mich an ein anderes Bild, dessen Zeuge ich früher gewesen. Es war im Jahre I938, während der Karwoche, am Ende der Christenverfolgungen in Mexiko; ich befand mich in einer Stadt des Tschiapas, die den Namen des großen Indianer-Missionars Las Casas trägt. Kein Priester hatte das Recht, eine Kirche zu betreten, alle Messen wurden heimlich in Privathäusern gelesen; aber am Karfreitag kamen die Indianer – kleine, von ungeheuren Traglasten gebeugte Gestalten – von den Bergen herunter und strömten in Scharen in die Kirche. Seit zehn Jahren hatten sie keine Messe mehr gehört, sie verstanden kaum Spanisch, und von Kenntnis des Lateins konnte natürlich keine Rede sein. Sie bemühten sich, die Zeremonie der Messe in ihren von Dorf zu Dorf verschiedenen, geheimen Dialekten wiederzugeben.   

Es ist klar, daß es in den jetzigen Zeiten ausgesprochen überflüssig geworden ist, unsere Gedanken noch für einen Kampf zwischen der Welt und den Katholiken aufzubieten. Wir brauchen nicht mehr vor der Welt zu bangen, wie auch die Furcht vor dem Feind schwindet, sobald er sich entlarvt hat. (Am Tage, als Hitler zu den Waffen griff, atmeten wir erleichtert auf und hörten uns nicht länger seine Radiobotschaften an.) Auch heute braucht man nur eine Tageszeitung in die Hand zu nehmen, um sich gewissenhafter seiner Religion zuzuwenden, und diejenigen, die gleich mir arme, unvollkom-mene Katholiken sind und oft im Begriffe stehen, zu straucheln, vernehmen aus dem Zeitgeschehen den unablässigen Aufruf, treu zu sein.   

Wir, die wir zu unserm heiligen Schutzpatron Thomas beten, haben wie er die Wundmale gesehen. Und wenn wir uns, wie Bossuet sagt, fast mit Schaudern erkannt haben, so spüren wir jetzt doch, daß wir vielleicht nicht ein ganzes Leben lang mit uns allein leben müssen. Anstatt uns Geschenke zu machen, schickt die Welt sich an, uns wegzunehmen, was wir mehr als unsern Glauben zu lieben vermeinten. In einer Zusammenkunft wie der heutigen sind wir uns ganz bewußt, daß eine unsrer künftigen Begegnungen vielleicht noch auf Erden, jedoch unter Umständen in aller Heimlichkeit stattfinden kann.   

Aber um noch einmal Newman zu zitieren: "Bis dahin ist es unsere sehr einfache Aufgabe, die Stellungen, die wir auf dem Schlachtfelde innehaben, zu befestigen und zu halten und jede Furcht vor der Zukunft zu überwinden." Im Augenblick, wo der Krieg offen erklärt wird, endet die Spannung zwischen den Christen und der Welt. Wenn der Geschichtsschreibung ein Fortleben beschieden sein sollte, dann wird diese Epoche zweifellos als Beginn eines zweiten "Finsteren Zeitalters" bezeichnet werden, und jene Übergangszeit von Sankt Augustin zu Sankt Bernhard wird eher als eine Epoche des Lichtes erscheinen. Was wird vom "Zeitalter des Lichtes", seiner aufgeklärten Wissenschaft und Philosophie einmal übrig bleiben außer seiner makellosen, lähmenden Prosa? Nein, nicht während des sogenannten "Finsteren Zeitalters" haben wir Anlaß, für unsere Religion zu fürchten. Unsere Feinde sind zahlreicher als wir, aber sie werden an Zahl übertroffen durch unsre Toten, denen die Kirche mehr noch als uns gehört. Unsere Toten können sie weder töten noch verderben, und selbst ihre Toten sind jetzt auf unserer Seite.
(aus: Graham Grene: "Vom Paradox des Christentums" Zürich 1952, S. 27-32)

 
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