55. Jahrgang Nr. 4 / August 2025
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1. Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind
2. DAS ATHANASIANISCHE GLAUBENSBEKENNTNIS
3. Über das Papsttum der Römischen Bischöfe
4. Das Konzil von Trient, Glorie der Kirche
5. Richtlinien für eine Papstwahl
6. Offener Brief an H.H. Prof. Dr. August Groß
7. Apokalyptische Betrachtung des heutigen Geschehens
8. Der Aufmarsch gegen den Irak
9. DER CHRIST IN DER ZEIT
10. DIE ERSCHEINUNGSFORMEN
11. DIE BEKEHRUNG EINES SCHISMATIKERS
12. Leserbrief
13. Betrachtungen über das Gebet
14. MITTEILUNGEN DER REDAKTION
15. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN
16. SPENDENAUFRUF
DIE ERSCHEINUNGSFORMEN
 
DIE ERSCHEINUNGSFORMEN

von
Leon Bloy

Die herkömmlichste aller Illusionen ist es, zu glauben, man sei wirklich das, was man zu sein scheint, und diese weitverbreitete Illusion wird das ganze Leben lang durch den hartnäckigen Betrug aller unserer Sinne bestärkt. Nicht weniger als der Tod wird nötig sein, um uns zu zeigen, daß wir uns immer getäuscht haben. Im gleichen Augenblick, da unser völlig unbekanntes eigentliches Ich offenbar wird, werden unbegreifliche Abgründe vor unseren wahren Augen enthüllt werden, Abgründe in uns und außerhalb von uns. Menschen, Dinge, Ereignisse werden uns endlich kundgetan, und jeder wird die Behauptung jenes Mystikers als wahr erkennen können, daß seit dem Sündenfall das ganze Menschengeschlecht in tiefen Schlaf gesunken ist. Erstaunlicher Schlaf der Geschlechter, der seiner Natur nach von grenzenlos unzusammenhängenden und formlosen Träumen begleitet ist. Wir sind Schlafende voll halb verlöschter Bilder des verlorenen Paradieses, blinde Bettler an der Schwelle eines erhabenen Palastes, dessen Pforte verschlossen ist. Nicht allein, daß wir uns gegenseitig nicht zu sehen vermögen, es ist uns auch unmöglich, unseren unmittelbaren Nachbarn nach dem Klang seiner Stimme zu erkennen.

Hier ist dein Bruder, ist uns gesagt worden. Ach, Herr, wie soll ich ihn in dieser ununterscheidbaren Menge erkennen, und wie soll ich wissen, ob er mir gleicht? Er ist doch nach deinem Bildnis gemacht, ebenso wie ich selbst, und ich kenne nicht einmal mein eigenes Gesicht. Möge es dir gefallen, erst mich aufzuwecken, ich habe nichts als meine Träume, und sie sind zuweilen entsetzlich. Um wieviel schwerer ist es für mich, die Dinge ins Klare zu bringen! lch glaube an die Wirklichkei-ten dessen, was dinglich, sinnlich, handgreiflich, fühlbar ist wie das Eisen und unbestreitbar wie das Wasser eines Flusses, und doch versichert mir eine innere Stimme, die aus der Tiefe kommt, daß es nur Zeichen sind, daß mein Leib selbst nur eine Erscheinungs form ist, und daß alles, was mich umgibt, rätselhafte Erscheinungsform ist. Wir sind belehrt worden, daß Gott seinen Leib als Speise und sein Blut zum Trinken nur unter den Erscheinungsformen der Eucharistie gibt. Warum sollte er uns auch nur das kleinste Stückchen seiner Schöpfung in einer weniger verhüllten Art überlassen? Wäh-rend die Menschen sich nur in den Gesichten ihres Schlafes unruhig betätigen, schafft Gott, der allein fähig ist zur schöpferischen Tat, wirklich etwas. Er schreibt seine eigene Offenbarung in der Erscheinungsform von Ereignissen dieser Welt, und darum ist das, was man Geschichte nennt, so völlig unbegreifbar...

Es ist schon zu einem Gemeinplatz geworden, zu sagen, das Wunder sei die Wiederherstellung der Ordnung. Es gibt indessen kein anderes Mittel, den Fortbestand der Erscheinungsformen aufzuzei-gen! Alle Welt glaubte, daß jener Bettler lahm geboren war. Petrus spricht zu ihm: "Silber und Gold habe ich nicht, was ich aber habe, das gebe ich dir." (Apg. 3,6) Sogleich ist der Sieche vollkommen geheilt. Was hatte denn der Apostelfürst zu geben, und was fehlte jenem Unglücklichen? Das einzig Notwendige, das irdische Paradies. Petrus hatte seit dem Hahnenruf der Passahnacht nicht aufgehört zu wachen, und der Bettler vor der Schönen Pforte war tief eingeschlafen. Petrus hatte zunächst mit einer unwiderstehlichen Autorität zu ihm gesprochen: "Sieh mich an!" (Apg. 3,4) und der Schläfer öffnete halb die Augen und nahm zum erstenmal die ungefallene Schöpfung des Uranfangs wahr, die übernatürlichen Hügel des Paradieses, die unendlich reinen Quellen, die heilbergenden Pflanzen, die unbeschreiblichen Alleen dieser Stätte der Unschuld. All dies in dem Gesicht und in den Augen des Menschenfischers, den Jesus erwählt hatte. Mehr war nicht nötig, um unverzüglich die mangel-hafte Erscheinungsform vergehen zu lassen und die völlige Gesundheit wiederherzustellen, das eigentliche Leben für einen Unglücklichen, der nichts Besseres kannte als die lllusion eines Stückes Brot zu erbetteln von ebenso Unglücklichen, welche die Illusion hatten, etwas zu besitzen. Es ist sogar berichtet worden, daß der Schatten des Petrus heilte. Wir haben heute seinen 260. Nachfolger. Man weiß nicht, ob er einen Schatten hat oder ob er selbst nur ein Schatten ist. Von irgendeinem Wunder ist jedenfalls nicht die Rede, und sein Gesicht erweckt bei niemandem die entfernteste Er-innerung an das verlorene Paradies. Er ist der einzige unter den Stellvertretern des Gottessohnes, der, urbi et orbi, die NEUTRALITÄT unseres Herrn Jesus Christus proklamiert hat. Er ist eine Er-scheinungsform des Papstes, die etwas sichtbarer vielleicht und sicherlich erschreckender ist als die Erscheinungsformen der Kaiser, der Könige oder der Republiken, die sich an der Roten Pforte der Apokalypse drängen, die ganz weit sich öffnen wird zu den Greueln der Hölle.

(aus "Dans les Ténèbres", zitiert nach: "Leon Bloy - Der beständig Zeuge Gottes" hrsg. von Raissa Maritain, Salzburg 1955, S. 371 ff.)
 
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