DER HL. BENEDIKT JOSEF LABRE Zum Gedächtnis seines Todestages am 16. April
von Heinrich Storm
Der hl. Benedikt Josef Labre gehört bis heute nicht zu den bekanntesten und populärsten Heiligen. Vielleicht liegt das daran, daß vielen die ungewöhnliche Art und Weise, in der er sich seine Heiligkeit errang, schwer-, wenn nicht gar unverständlich erscheint. Gerade deshalb ist es aber nützlich, sich mit dem Leben und der religiösen Idee dieser Heiligengestalt, die zu den bemerkenswertesten der Neuzeit gehört, zu beschäftigen.
Der Heilige kam am 26. März 1740 in Amettes, einem Dorf der französischen Provinz Artois, zur Welt. Er war das älteste Kind einer im Dorf angesehenen, alteingesessenen und wohlhabenden Familie; seine Mutter, eine starke und fromme Frau, schenkte nach ihm noch 14 weiteren Kindern das Leben. Als Ältester war er eigentlich dazu prädestiniert, eines Tages Hof und Geschäft der Eltern zu übernehmen, da er sich aber als ein sehr begabtes Kind erwies, schickte man ihn zur Ausbildung zu seinem geistlichen Onkel Franz-Joseph Labre, der Pfarre in Erin war, um ihn auf das Priestertum vorzubereiten. Nach dem Tode dieses Onkels väterlicherseits übernahm ein ebenfalls geistlicher Onkel mütterlicherseits die weitere Fortbildung Benedikts. Dieser fühlte sich aber nicht zum Weltpriestertum, sondern mit zunehmendem Alter immer mehr zur Einsamkeit, zum Mönchstum berufen. Er unternahm gegen den Widerstand der Eltern mehrere Versuche, sich den strengsten monastischen Richtungen der Trappisten oder der Kartäuser anzuschließen, mußte aber immer wieder enttäuscht nach Hause zurückkehren, weil ihm entweder wegen seiner Jugend und seiner schwachen Konstitution die Aufnahme verweigert wurde, oder weil eine seelische Krise ihn zur Aufgabe des monastischen Lebens zwang. Von 1770-1777 führte er ein Leben der ständigen Pilgerschaft zu beinahe allen bedeutenden Wallfahrtsorten und Heiligtümern Europas; so besuchte er Rom, Loreto, Assisi, Montecassino, er pilgerte nach Santiago de Compostela und anderen spanischen Stätten der Verehrung, aber auch nach Einsiedeln, in den Schwarzwald und nach Burgund. Während dieser Zeit lebte er von dem, was er in der Natur fand oder was mitleidige Menschen ihm gaben, er schlief unter freiem Himmel oder dort, wo einfache Leute den armen Pilger um Gotteslohn aufnahmen. Während er anfangs noch hoffte, durch seine Pilgerreisen das Kloster seiner Bestimmung zu finden, wurden diese mehr und mehr von einem Mittel zum Zweck seines Lebens. Pilger blieb er auch, als er sich seit 1777 ständig in Rom aufhielt. Von den Heiligtümern und Kirchen, die er dort zum Gebet und zur Verehrung aufsuchte, gehörte seine besondere Vorliebe Santa Maria dei Monti, der Scala Santa und dem Kreuzweg des Kolosseums. Als die Hinfälligkeit seines Körpers ihm nicht mehr erlaubte, wie vorher in den Trümmern des Kolosseums oder des Palatins zu übernachten; zog er 1779 in ein Hospiz für Bettler. Er starb am Karmittwoch, den 16. April des Jahres 1783 in größter Armut und körperlichem Elend und wurde in Santa Maria dei Monti, seiner Lieblingskirche, begraben. -
Benedikt Josef Labre war schon als Kind geschätzt ob seiner außerordentlichen Frömmigkeit; nicht umsonst glaubte man ihn allgemein zum Priestertum berufen. Sein wachsames Gewissen ließ ihn wegen der geringsten Fehler oder wegen eines noch so geringen Vergnügens, das ihn lockte, schwere Skrupel empfinden. Die unerbittliche Konsequenz auch der kleinsten Sünde stand ihm mit schrecklicher Deutlichkeit vor Augen. So ermahnte er seine Spielkameraden, die einen geringen Diebstahl als leichte Sünde zu entschuldigen suchten: "Ihr fangt damit an, einen Faden zu nehmen, dann eine Nadel, dann eine Schere, und zuletzt stehlt ihr Geld - und schließlich kommt ihr in die Hölle." Er wußte aber nicht nur zu ermahnen, sondern auch zu helfen: Als in Erin wo er bei seinem Onkel, dem Pfarrer, war, die Pest ausbrach ging er, zusammen mit diesem, unerschrocken in die verseuchten Häuser, wusch und pflegte die Kranken und kümmerte sich, als ihm das wegen der Ansteckungsgefahr schließlich verboten wurde, um den einzigen Reichtum der geschlagenen Bevölkerung, ihr Vieh. - Benedikts Tugendstreben war von Anfang an gekennzeichnet durch den Willen zur absoluten Vollkommenheit, der jeden Kompromiß als Verrat abgelehnt hätte. In dieser Geisteshaltung wurde er während seiner Lehrzeit in Erin noch bestärkt durch die Lektüre der Predigten des Paters Le Jeune, eines Oratorianers des 17. Jahrhunderts, dessen rigorose Strenge und dessen düstere Sicht des Menschen in den Worten gipfelte: "Ja wirklich, viele werden verdammt, und wenige werden gerettet werden." Solche Worte fielen bei Benedikt Joseph auf ein empfänglichen Boden. Wie stark und wie drohend ihm die Schrecklichkeit der ewigen Verdamnis am Anfang seiner Berufung vor Augen stand, zeigen seine Briefe an die Eltern, in denen es jedes Mal heißt: "Denkt an die Schrecklichkeit der ewigen Strafen, die die ganze Ewigkeit währen, wenn ihr leichtfertig eine schwere Sünde begeht. Gebt Euch große Mühe, unter den wenigen zu sein, die auserwählt sind.''
Obwohl er sich selbst sein ganzes Leben hindurch nicht nur große Mühe gegeben, sondern alle seine körperlichen und geistigen Kräfte auf dieses Ziel hin ausgerichtet hat, mußte er im Kampf um seine eigentliche Berufung Stunden der schwersten Verzweiflung und Angst durchmachen. Das Bewußtsein, vor Gott nichts, ein Unwürdiger zu sein, drückte ihn zu Boden: "O Majestät Gottes! ... Wenn die Engel ihr Antlitz mit den Flügeln bedecken mußten, was wird der Mensch tun, der nur ein Wurm auf der Erde ist?" Nicht selten litt er aus diesem Grunde beim Empfang der hl. Kommunion unter furchtbaren Gewissensqualen, die manchmal soweit gingen, daß er sich für verworfen hielt.
Aber nicht nur der Gedanke an seine eigene Schuld war es, der seine Seele in das furchtbar mystische Erleben der Dunkelheit, der Nacht der Gottesferne stieß, sondern das Bewußtsein der menschlichen Sündhaftigkeit und Schuld überhaupt, der Unmöglichkeit, diese Schuld, die auf ihm lastete wie seine eigene, und die unendliche Größe der Liebe Gottes miteinander zu verbinden. Wenn dieses Problem der Sünde, der eigenen und der fremden Schuld, Benedikt, wie viele andere heilige Mystiker, an den Rand der Verzweiflung geraten ließ, so kann man das wohl weder mit einem gewöhnlichen Mangel an Gottvertrauen noch mit einem Hang zur Übertreibung - die ja eine Form der Lüge und als solche mit Heiligkeit unvereinbar ist - erklären. Nur weil er die Liebe Gottes in einer Tiefe erfaßt hatte, die den meisten Menschen in diesem Leben verschlossen bleibt, trug er auch an ihrer Ablehnung, der Sünde, schwerer als selbst ein großer Sünder, der bereut. Ihm, der die Forderung Gottes nach absoluter Vollkommenheit klar eingesehen und bejaht hatte, legte sich die tatsächliche Unvollkommenheit der Menschen wie eine Zentnerlast auf die Seele. Weil er dazu ausersehen war, diese schwere Last in einem Leben der Sühne zu tragen, darum mußte, wie grundsätzlich bei jedem Menschen, die Größe seiner Prüfungen der Größe seiner Berufung entsprechen.
Die Prüfungen waren aber erst der Anfang der Berufung, nicht bereits ihre Erfüllung. Nicht in den Abgründen der Verzweiflung selbst liegt die Größe des hl. Benedikt Joseph Labre, sondern in dem Geist, in dem er sie als Prüfung Gottes aus seiner Hand entgegennahm: im Geiste des Gehorsams. Nicht eines Gehorsams, der murrt und widerstrebt, sondern der freudig und bereitwillig alles, auch das Schwerste, aus der Hand Gottes entgegennimmt, der sagt: "Die Welt ist ein Tränental und wir werden erst jenseits des Grabes getröstet werden... Wir müssen uns selbst verachten und wir müssen gedemütigt werden. Wir müssen zu Füßen des Kreuzes beten, wir müssen uns gänzlich der Güte Gottes anvertrauen und mit Hoffnung und Ergebung auf das warten, was uns das Leben bringen mag." Eben diese Haltung, die Benedikt an sich selber verwirklicht hatte, riet er auch auf einer seiner Pilgerreisen einem Mädchen an, das an seiner körperlichen Krankheit zu verzweifeln drohte wie er vorher an seiner seelischen: "Die Krankheit ist eine ebenso große Gnade von Gott wie die Gesundheit... Viele Heilige haben gewünscht zu leiden, was du leidest, und es wurde ihnen nicht gewährt... Du wirst von deinem Bette geradenwegs in den Himmel gehen... Gott beruft dich zu etwas Großem, meine Tochter."
Die Größe dieser Berufung liegt aber darin, daß sie dem Menschen die Teilnahme am Erlösungswerk Jesu Chrísti ermöglicht. Und da diese Erlösung durch Kreuz und Tod zur Auferstehung führt, darum war das Leben Benedikts eine ständige mystische Teilhabe an der Passion Christi. Nie konnte er daher die Worte der Schrift, die sich auf Christi Sühnetat beziehen, hören, ohne zu Tränen erschüttert zu werden, und wenn er in Rom vor allem den Kreuzweg des Kolosseums und die Scala Santa aufsuchte, dann deshalb, weil er sich dort dem Leiden des Herrn besonders nahe fühlte. Bis in seine letzten Lebensjahre hinein wurde Benedikt zwar von Zeiten der Nacht der Gottesverborgenheit heimgesucht, aber auch in ihnen fand er die Vereinigung mit dem leidenden Christus: "Wenn das eintritt, vereinige ich meine Verlassenheit mit der Verlassenheit Christi im Ölgarten." Wenn aber dann die Nacht dem Lichte Gottes wich, dankte er aus übervollem Herzen: "O mein Geliebter, ich dachte an dich während dieser Nacht, in der Du mir solches Leid verursachtest, in der Du mich solche Tränen vergießen ließest. Ich glaubte, meine Undankbarkeit habe Dich dazu getrieben, dem Gebote Deiner Gerechtigkeit zu folgen und Dich von mir zurückzuziehen. Ich suchte, ich lief, um Dich zu finden, und ich fand nur Dunkelheit. Zweifle nie, mein Erlöser, daß ich ganz Dein bin, denn die erste Bewegung meines Herzens geht dahin, mich zu überzeugen, daß Du mich heute noch liebst und daß Du nicht soweit von mir entfernt bist, wie meine Sünden es verdienen. Doch selbst wenn Du Dich von mir entfernst, will ich noch auf Dich hoffen."
Der Geist eines Menschen prägt, ob er will oder nicht, auch sein Fleisch. So wurde der hl. Benedikt Labre, dessen Geist ganz von der sühnenden Liebe erfüllt war, auch im Äußeren dem ähnlich, "der sich selbst erniedrigt hat und gehorsam ward bis zum Tode" (Phil. 2,8). So radikal wie das nur möglich ist, verzichtete er auf alle irdischen Güter, sei es eine feste Bleibe oder ausreichende Nahrung und Kleidung. Seinen Körper, den er mit Vorliebe "il mio corpaccio" (mein Leichnam) nannte, achtete er für nichts und suchte ihn, wo es nur ging, zu erniedrigen und seine Bedürfnisse abzutöten. Zu diesem Zweck ertrug er sogar das Ungeziefer, das er sich irgendwann auf seinen Reisen zugezogen hatte und versuchte nicht, sich davon zu befreien. Alles Böse, das ihm von seinen Mitmenschen in reichem Maße zugefügt wurde - er wurde verspottet und verhöhnt, als Heuchler beschimpft und nicht selten mißhandelt - ertrug er geduldig, ja freudig. "Ich kann mich nicht ohne tiefe Rührung daran erinnern, wie dieser Diener Gottes die große innere Freude beschrieb, die er fühlte, wenn er von Menschen verachtet wurde." Er verdemütigte sich so sehr, daß er sogar dann, wenn er ungerecht beschuldigt wurde, darauf verzichtete, sich zu rechtfertigen und nahm es widerspruchslos hin, von den Menschen verachtet und getreten, ja schlechter als ein Hund behandelt zu werden, kam es ihm doch einzig darauf an, mit Gott, der die Liebe selbst ist, vereinigt zu sein.
Voll und ganz traf auf ihn das zu, was Louis de Granada, ein spanischer Mystiker, dessen Werke er immer bei sich trug und oft las, über das Gebet geschrieben hat: "Vertrautheit ist die Mutter der Freundschaft bei den Menschen, meine Brüder, und da das Gebot nichts anderes ist als eine liebevolle Unterredung mit Gott, kann es keine größere Hilfe geben, um seine Liebe zu gewinnen, als oft mit ihm zu reden. Ein Mensch, der vollkommen liebt, denkt immer an die Liebe." Die letzten Jahre in Benedikts Leben waren ein einziger Akt der Anbetung. Er war vor allem dort zu finden, wo das Allerheiligste zum Vierzigstündigen Gebet ausgesetzt war, so daß man ihn spöttisch den "Bettler des Vierzigstündigen Gebetes" genannt hat. Oft geriet er beim Gebet in Ekstase und vergaß dann alles um sich herum. Man hat beobachtet, wie er in diesem Zustand, allen physikalischen Regeln geradezu hohnsprechen, gleichsam über dem Boden zu schweben schien. Nur selten sprach er über diese Entrückungen, aber das Wenige, was er sagte, läßt uns ahnen, welche mystischen Höhen er erreichte: "Wenn ich beginne, an die Dornenkrönung zu denken, fühle ich mich zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit hinaufgezogen." Als ein Priester ihn erstaunt fragte, was er als einfacher Mann denn über die Dreifaltigkeit wissen könne, gab er zurück: "Ich weiß nichts, aber ich werde entrückt, über mich selbst hinausgehoben."
Der Heilige besaß auch die besondere Gabe, im Herzen der Mitmenschen lesen zu können, und hat dadurch nicht wenige von ihnen zu aufrichtigen Bekenntnissen ihrer Schuld veranlaßt. Viele Wunder und Prophezeiungen sind uns von ihm überliefert. Im Traum sah er die französischen Revolution voraus: "Ich sehe ein sehr großes Feuer mein Land verwüsten..." Die schrecklichen Visionen zerstörter Altäre, verfolgter Priester und von Schändungen des hl. Altarssakramentes trieben ihn zu noch größeren Bußübungen an. Auch den eigenen Tod hat er vorausgesehen und erwartete ihn in völligem Frieden und mit großer Zuversicht, unbehelligt von den Ängsten und Gewissensqualen, unter denen er so lange hatte leiden müssen. Kurz vor seinem Tode gestand er seinem Beichtvater, nun von jeder Versuchung frei zu sein, und als dieser ihn einmal fragte, um ihn auf die Probe zu stellen: "Was würdest du tun, wenn ein Engel käme und dir sagte, du seiest verdammt?" gab er zur Antwort: "Ich würde Vertrauen haben." Es ist wohl ein tiefer Sinn darin zu erblicken, daß Benedikt, der sich im Leben so sehr mit dem Leiden des Herrn identifiziert hatte, in der Karwoche, also in der Zeit des Kirchenjahres, die auf das engste mit diesem Leiden verbunden ist, aus dem zeitlichen Leben in das ewige hinüberging. Benedikt Joseph Labre, in seinem irdischen Leben so oft als Heuchler gebrandmarkt und verhöhnt, erlebte nach seinem Tod eine geradezu beispiellose Verehrung. Kaum hatte sich die Nachricht von seinen Tolle verbreitet, als sich schon Menschenmengen bildeten, die seinen Leichnam sehen wollten, und binnen kürzester Zeit verbreitete sich über ganz Rom der Ruf: "E morto il santo!" (Der Heilige ist tot!) Ungeheure Massen drängten sich bald in die Kirche Santa Maria dei Monti, wo er aufgebahrt und begraben wurde, jeder wollte den Leichnam sehen und, wenn möglich berühren. In den ersten Monaten nach dem Tode Benedikts wurden bereits über 100 auf seine Anrufung hin geschehene Wunder registriert. Obwohl seine offizielle Heiligsprechung erst 1883 (die Seligsprechung 1860) erfolgte, war er für das römische Volk bereits wenige Stunden nach seinem Tod ein Heiliger. -
Benedikt Joseph Labre ist ein Heiliger, der nur von der Mitte des Christentums, der Erlösungstat Christi her verstanden werden kann. Sein Leben ist die vollkommene Erfüllung des paulinischen Wortes: "... ich ergänze an meinem Leib für Seinen Leib, die Kirche, was dem Leiden Christi mangelt." (Kol. 1,24) Verliert man aber diesen einzig wahren Maßstab aus den Augen, dann wird man notwendig zu dem Urteil kommen, die Handlungsweise des hl. Benedikt Labre sei nutzlos, ja töricht gewesen gemäß den Worten desselben Apostels, wenn er sagt: ''Das Wort vom Kreuz ist nämlich Torheit denen, die verlorengehen, doch Gotteskraft für uns, die wir gerettet werden." (1 Kor. 1,18)
Literatur: Agnès de la Gorce, Der Heilige der Heimatlosen, B.J. Labre, Colmar 1955. Pierre Doyère, Saint Bénoît Labre, Eremite, pêlerin, Paris 1964 . |