Die Geschichte vom armen Madonnen-Schnitzer, dem guten Hirten und bösen Magister
Eine Novelle von Klaus Lelek aus: Philosophia Perennis vom 30.7.24
(Teil 1) Das Wunder
In einem wilden Waldgebirge, mitten im Herzen Frankens, fernab der großen Städte und Handelsstraßen lebte einst ein Holzfäller, ein wackerer, unbescholtener Mann, den die Widrigkeiten des Lebens beizeiten lehrten, dem Schicksalsstrom die Stirn zu bieten. So war er einst von seinem bösen Landesherrn, welcher seine Untertanen nach England verkaufte, zum Kriegsdienst gepresst worden, dann aber den Schergen entkommen, bis er in einem einsamen Tale inmitten ausgedehnter Wälder zunächst ein Versteck und bald darauf eine feste Bleibe fand. Der Forst, in welchem der entlaufene Grenadier sich verdingte, war so weiträumig, dass selbst ein rüstiger Bursche es nicht vermochte ihn an vier Tagen zu durchqueren.
Um das kärgliche Auskommen zu verbessern, fällte der Dahergelaufene nicht nur die himmelwärts strebenden Buchen, welche allerorts die Berge bedeckten, sondern verdingte sich darüber hinaus noch als Köhler. Vor vielen Jahren hatte der vom Schicksal gezeichnete Mann eine verstoßene, gleichfalls nicht mehr junge Magd, namens Anna – einige behaupteten sie sei eine entflohene Nonne – bei sich aufgenommen, die fortan als sein heimliches Weib und Gehülfin bei ihm wohnte. Die Hütte, in denen die beiden hausten, war an vielen Stellen vom Wind, Schnee und Regen verwittert. Das Schindeldach voller Moos und vor dem kümmerlichen Gemüse-Gärtlein, das die Frau für die spärliche Zukost eingerichtet, rauschte ein munterer Bach, der in unzähligen Kaskaden aus einer engen Schlucht lauthals talabwärts polterte.
An jenem Orte, wo der Wildbach, umgeben von Sand, Kies und nacktem Felsen, in einen kleinen Fluss mündete, welcher von nun an in breiten Mäandern durch einen nassen Wiesengrund strömte, lag ein kleines Glasmacherdorf, überragt von einer ehrwürdigen Wallfahrtskirche, welches mit seinem geheimnisvollen Gnadenbild gleich einer Trutzburg seid Alters her den Menschen der Umgebung als geistige Zuflucht diente. Der Ort hieß Krähenberg. Der Name rührte von einem alten Galgenbaume her, der hier früher gestanden und oft von Todesvögeln umlagert war. Er diente der unteren Gerichtsbarkeit und es wurde voller Stolz jedem Fremden zur Warnung erzählt, dass kein einziger Dorfbewohner hier sein Leben ausgehaucht, sondern einzig herumziehendes Gesindel, das auf der Flucht vor den Amtsmännern des Fürstbischofes sich ins einsame Tal verirrt habe, um hier im Schutze der großen Wälder weiter ihrem verderbten Diebshandwerk zu frönen.
Die ehrbaren Männer des Dorfes siebten emsig den Sand des Flusses, schmolzen die Ausbeute in irdenen Öfen, eh die Glasbläser das wertvolle Gut zu kristallenen Trinkgläsern, kunstvollen Karaffen und farbigen Butzenscheiben formten. Hernach trugen sie ihre Ware rücklings in die kleine Residenz Stadt am Fuße des Gebirges, wo die Frauen sie auf dem Markte feilboten. Die aus Buchenholz gefertigte Kohle, welche sie für ihr edles Handwerk benötigten, lieferte ihnen der emsige Holzfäller, welcher im steilen Hang auf eigens gegrabenen Terrassen die gespaltenen Scheite zu haushohen Meilern auftürmte. Mühsam und gefährlich war die Arbeit, bescheiden die Kreutzer, die nach Tagen des Fällens, Spaltens und Ausglühens im rauchenden Meiler endlich im Säckel der Fleißigen landeten. Abends war das Gesicht des Köhlers oft so stark vom Ruß geschwärzt, dass selbst das glasklare Wasser des schäumenden Gebirgsbaches es nicht gänzlich reinwaschen konnte. Es blieb stets ein Rest Schwärze, gleich öliger Malerfarbe an seinen zerfurchten Wangen hängen und auch sein fleißiges Weib, das ihm bei der Arbeit half, sah ob ihrer schmutzigen Strähnen, fleckigen Schürzen, Blusen und Röcke einer Bettlerin nicht unähnlich. Trotz der Widrigkeiten welches ihnen das Leben tagaus tagein bescherte, waren die beide Waldbewohner fromm und gottesfürchtig. Jeden Sonntag saßen sie auf den hinteren Bänken der Glasbläserkirche und verfolgten von herablassenden Blicken umschwirrt den Gottesdienst.
Der junge Kaplan, der stets ein Herz für die Mittelosen hatte, war ihnen wohlgesonnen und reichte den beiden ohne Arg die HEILIGE HOSTIE. Einmal raunte er dem Köhler ins Ohr: „Ich weiß, dass Ihr in Sünde lebt, aber noch größer sind die Sünden, die man euch und eurem werten Weibe angetan. Dann sah er hinüber zum Gnadenbild und sagte: Diese schwarze Madonna aus Lindenholz ist so alt, dass niemand ihren Meister kennt noch den Ort, an dem sie gestanden. Die Leute erzählen, dass bettelarme, aber mutige Leute sie während des großen Krieges einst aus einer Stadtkirche vor dem Raub der Flammen retteten und vor den Schweden versteckten. Später brachten Hirten, die gleichfalls vor den Landsknechten flohen, das wertvolle Kleinod in dieses einsame Waldtal. Eure Kleider sind oft vom Ruß gezeichnet, so wie die Madonna von dem Brande gezeichnet ist, mit dem böse Menschen sie einst in die Hölle schicken wollten. Mir dünkt, dass sie die große Schutzpatronin all jener ist, die gottlose Menschen in Bedrängnis brachten. Eines Tages brach ein großes Ungemach über den Holzfäller und seine Frau herein. Eine hohe Buche, die bereits der Blitz gespalten hatte, fiel, nachdem die Axt den Stamm beinahe durchtrennt, vor der Zeit mit solcher Wucht und Schnelligkeit zu Boden, dass der Holzfäller nicht rechtzeitig zur Seite springen konnte. Ein trockner scharfer abgebrochener Astsparren, der wie eine Sichel aus einem der Hauptäste ragte, erfasste den Unglücklichen und zerschnitt ihm das rechte Bein von der Kniekehle aufwärts bis zum Gesäß. Ein Schwerthieb hätte nicht schlimmer, schmerzvoller und tiefer sein können. Im hohen Bogen spritzte das Blut auf den Waldboden, färbte das Moos dunkelrot und wollt in seinem schnellen Strome gar nicht mehr versiegen. Todesmutig zerriss der gute Mann sein Hemd und wickelte es um die klaffende Wunde. Mit letzter Kraft schleppte er sich durch den unwirtlichen Wald der Hütte entgegen und brach an der Türe endgültig zusammen.
Wie lange der Köhler schmerzend und ächzend im Wundbett auf dem Lager ausharrte, vermag niemand zu sagen. Tage oder gar Wochen rang der wackere Mann mit dem Tode. Das malträtierte Bein eiterte ohne Unterlass und Fieberkrämpfe schüttelten den geschwächten Körper. Sein Weib sammelte am Waldrand heilsame Kräuter und wusch täglich den tiefen Riss aus dem nicht nur das zerstörte Fleisch, sondern auch noch Sehnen ragten. Der elende Zustand der Köhlers verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Am Ende war er so geschwächt, dass er nur noch röchelte und seinem weinenden Weibe auftrug den jungen Kaplan zu holen, damit er ihm die letzte Ölung gebe. Doch ehe die Frau eilfertig die Türe zum Schlafgemach geschlossen, rief er plötzlich hellwach und mit fester Stimme: „Anna, warte einen Moment. Sage dem Kaplan, ich habe gerade ein HEILIGES GELÜBDE abgelegt. Wenn ich wieder genese, so werde ich eine Madonna schnitzen, eine Maria aus hartem Buchenholz, aus dem selbigen, das mich jetzo dem Tode Nahe bringt. Ich bin nur ein einfacher Holzfäller und meine Werkzeuge sind Axt und Säge, aber so Gott will, wird er meine grobe Hand schicklich führen, wenn ich mit dem Messer das Antlitz der HEILIGEN GOTTESMUTTER aus dem Stammholz schäle.
Kaum dass sein Weib die Hütte verlassen und großen Schrittes den dunklen Talgrund hinabeilte, schloss sich das eiternde und nässende Ungemach, wie von Geisterhand, und als die gute Frau mit Tränen in den Augen wenige Stunden später dem Priester die niedrige Türe zum dunklen Schlafgemach öffnete, saß der Köhler bereits aufrecht im Bette und sah den Kaplan mit leuchtenden Augen an. Von seinem Gesichte ging eine solche Strahlkraft und Ruhe aus, dass man hätte glauben können der Totkranke sähe bereits das Paradies und die Himmelpforte hätte sich ihm auch ohne das heilige Sterbesakrament sperrangelweit aufgetan.
Der junge Kaplan, welcher Cyprian hieß und gleichfalls aus einem Waldgebirge stammte, welches jedoch weit im Osten lag, sah die große Wunde, die vor seinen Augen zusehends vernarbte und sagte vor Ehrfurcht erschauernd: „Egal ob euer Werk gelingen wird, guter Mann; ich werde in unserer ehrwürdigen Kirche einen Platz finden, an dem Ihr eure Dankesgabe aufstellen könnt. Mag die Figur, die Ihr schnitzt in Ermangelung von Kenntnissen über die Größe von Körpern und Gliedmaßen, auch unförmig und grob ausfallen. Weiterhin werde ich mit den kleinen Mitteln, die mir zu Verfügung stehen euch hinfort unterstützen, bis Ihr gänzlich genesen seid und eure schwere Arbeit als Holzfäller und Köhler wieder aufnehmen könnt. Auch soll es euch an Werkzeug nicht fehlen. Ein alter Herrgottsschnitzer, der kinderlos starb, hat mir seine Schnitzeisen, Feile, Raspeln und Stichel überlassen.
Wenige Tage später streifte der Köhler zum ersten Male nach langer Zeit wieder durch den Wald und ging justament zu jener Stelle, an der ihn das Ungemach so unvermittelt hart getroffen. Da lag das Ungetüm, das ihn so schmerzlich niedergestreckt, nun selbst wie ein Sterbender inmitten des vor der Zeit verwelkten Laubes. Er schritt bedächtig den Stamm ab, der sich zusehends gen Wipfel verjüngte und blieb auf einmal wie angewurzelt stehen. Dort wo sich die obersten Äste verzweigten, hatte die Natur eine Nische geschaffen, die einem Medaillon glich. Darin zeichnete sich, einem kunstvollen Relief nicht unähnlich deutlich ein Gesicht ab. Wie er genauer hinschaute, entdeckte er, dass es eigentlich zwei Gesichter waren, die ihn mit tiefem Ernst, aber zugleich heiter, unentwegt ansahen. Die bis dato glatte und ebenmäßige Rinde der Buche hatte an dieser Stelle die Gesichter und Körper der HEILIGEN MUTTERGOTTES und ihrem KINDE geschaffen. „Dies ist eine Botschaft des Himmels“, rief er begeistert aus und eilte, so schnell es sein immer noch ein wenig malträtiertes Bein erlaubte, nach Hause. Außerdem schwor er, den Baum nicht seiner ursprünglichen Bestimmung gemäß in kleine Stücke zu spalten, sondern ihn in seiner Natur zu belassen. Schließlich war die Buche ein Werk des Schöpfers und in dieser Weise dazu erwählt, auf natürliche Weise in den ewigen Kreislauf des Lebens einzugehen.
Am nächsten Morgen sägte er zusammen mit seinem wackeren Weibe die ellengroße Baumscheibe aus dem Stamm und trug den hehren Holzklotz heim in seine Hütte. Den Rest des Baumes überließ er dem bald eifrig wachsenden Unterholz, den immergrünen Farnen, Moosen, Pilzen und all den anderen vielfältigen Pflanzen, die mit Gottes Segen im wilden Waldgebirge wundervoll gediehen.
Spornstreichs ging der Köhler mit den Messern, welche ihm der gute Seelenhirte überlassen, an das ehrsame Werk. Er brauchte nur den wundersamen Linien und Zeichnungen der Rinde zu folgen, den Gesichter gleichen Auswüchsen des Stammes, den Einkerbungen und Rissen nachspüren, und wie durch ein Wunder traten von Tag zu Tag immer deutlicher die Umrisse und Körper der HEILIGEN GOTTESMUTTER und des JESUSKINDES hervor, ebenso wie deren Gewänder mit Faltenwurf, Borten und edlen Stirnreifen.
Als das Werk nach geraumer Zeit vollendet war, stellte er fest, dass die Figur noch etwas bedürfe. Dass es ihr augenfällig an etwas Kostbarem, Wertvollen mangele. An edlen Schätzen, wie sie die Madonna und Jesus inmitten güldener Altäre in den Händen halten. Ein edles Zepter, eine Kugel aus Gold, zum Zeichen, dass GOTT sie und CHRISTUS zum heimlichen Herrscher allen Irdischen ernannt. Aber ach, was konnte der arme Köhler seinem wohlfeilen Kunstwerk als letzte Dankesgabe vermachen? Mehr als kupferne Kreutzer fanden nie den Weg in den mageren Beutel, und jene waren überdies nach Wochen des Siechtums so gut wie aufgebraucht. Da erinnerte sich der Köhler an einen durchscheinenden Quarzkristall, den er einst im Bach gefunden. Jener war nicht größer, wie ein Taubenei und von Geröll und Sand so geformt, dass er ein wenig an einen trüben Glaskegel erinnerte. Jenen Fund holte er geschwind hervor und rieb ihn so lange mit gleichfalls harten glatten Bachkieseln, bis er vollends durchscheinend wurde und gleich einem edlen Kleinod schimmerte und glänzte. Mehr noch: Sobald ein abendlicher Sonnenstrahl, der schräg durch die niederen Hüttenfenster fiel, den wundersamen runden Steine traf, leuchtete sein Inneres wie himmlisches Feuer. Dieses vortreffliche Werkstück legte er als güldenes Zepter dem Jesuskinde in die zierlichen Hände; und damit es nicht verlorengehe bestrich er die Unterseite des Quarzes mit Harz und verband somit Holz und Stein zu einer untrennbaren Einheit. Als letzten Akt schnitzte der fromme Mann, des Schreibens kaum kundig, geleitet von seiner klugen Frau die Worte „Maria sei Dank“ in den Sockel.
Tags drauf klopfte der Genesene frohgemut an die Pforte des Pfarrhauses und gab die hölzerne Madonna in die Hände der Kirche. Der Kaplan traute seinen Augen nicht, als er die wohlgeformte Statue in den Händen hielt. Beinah zweifelte er daran, dass der einfältige Holzfäller und Köhler mit seinen groben Händen allein ohne fremde Hülfe das Wunderwerk aus hartem Buchenholz vollbracht, aber war nicht auch die schnelle Heilung ein Werk des großen Schöpfers gewesen. Hebt Gott nicht so manchen bislang verborgenen Schatz? Wird nicht aus einem König hin und wieder ein Bettler und aus einem Bettler über Nacht ein König. War nicht David ein Hirte, bevor ihn der Herr zum Führer Israels salbte? Kann nicht aus einem Manne, der im Walde Kohlenmeiler errichtet, mit Gottes Beistand ein Künstler werden? In selbiger Weise sprach Cyprian zum Köhler und machte zugleich Andeutungen das hölzerne Standbild am Sonntag feierlich einzuweihen und dem Stifter in Anwesenheit der Glasmachergemeinde für seine feine Kunstfertigkeit zu loben. Der gute Hirte tat dies in dem Glauben, er könne dem armen Waldarbeiter auf diese Weise für die Zukunft ein Zubrot bescheren, denn Herrgottsschnitzer waren in diesem abgelegenen Gebirge bislang eine Seltenheit.
Beschämt sah der Holzfäller ob dieser Lobesrede zu Boden und sprach: Wie Ihr zurecht erkannt, werter Cyprian, hat wirklich fremde Hülfe mein Werk wie von Zauberhand geschaffen. Ich will mich darob nicht mit fremden Federn schmücken. Der Herrgott hat meine Hand geführt. Jedoch nicht, um vor aller Welt als Wunderknabe zu glänzen, sondern um meine Dankesgabe in rascher Folge zu vollenden. Gebt meiner Holzfigur nur einen rechten Platz, aber verschweigt um Himmels Willen meinen Namen. Mir dünkt, das kleine Fenster auf der linken Mauerseite, nah am Eingang, wäre ein guter Ort. Der Platz ist dunkel dort. Nur im Winter fällt durch jene engen Butzenscheiben ein wenig Licht auf die tiefe Fensternische. Die meisten werden die Madonna erst erheischen, wenn sie nach dem Gottesdienst dichtgedrängt zur Kirchenpforte streben. Dort prangen an der schmucklosen Wand bereits eine Menge steinerne und hölzerne Tafeln, darob die Frommen für ihre wundersame Heilung dankten. So geschah es, dass die Figur noch am gleichen Abend, als die Kirche menschenleer war, ihren gewünschten Platz in der Fensternische bekam. Blicke erheischte sie trotz ihres bescheidenen Platzes zuhauf, und mancher der Betenden sah unablässig hinüber zu ihr und einmal geschah es sogar, dass zur Weihnachtszeit, als die Sonne weit im Südosten unterging, die letzten Abendstrahlen das Kristall in der Hand des JESUSKINDES für einen kurzen Augenblick hell aufleuchten ließ, so wie einen gerade aufgegangenen und schnell wieder untergegangenen Stern. In diesem Augenblick soll Cyprian den Köhler und seinem heimlichen Weib Anna ein strahlendes Lächeln zugeworfen haben. Das Lächeln eines Engels, wie man später erzählte. Auch sollen Frauen, die ein Kindlein unter dem Herzen trugen, Kerzen vor der Madonna entzündet haben und daraufhin ohne Schmerzen sorgenfrei entbunden. Weiterhin soll den Glasmachern nicht entgangen sein, dass die Gesundung des Holzfällers und Köhlers, den man schon totgeglaubt hatte, in den gleichen Zeitraum fiel, wie das Auftauchender der rätselhaften Figur, von der niemand wusste, welche Werkstatt sie geschaffen, denn im Dorfe lebten allesamt nur Glasmacher und Glasbläser, die in ihrer kostbaren Zeit keine Lust hatten, sich an einem anderen Material als das Ihrige zu versuchen.
Die Herkunft der MUTTERGOTTES blieb also für dahin ein Rätsel, aber so mancher Glasmacher dachte insgeheim daran, dass der Köhler der Urheber jenes Kunstwerkes gewesen sein könnte, wenngleich die meisten ihre Ahnungen für sich behielt. So geschah es mitunter, dass man im Dorfe dem betagten Paar fortan mit mehr Respekt begegnete und manch einer, der sonst mit Kreuzern geizte, ohne lange zu feilschen dem Schöpfer der wunderbaren Figur für seine grobe Köhlerarbeit ein wenig mehr in den Beutel legte.
Die Geschichte vom armen Madonnen-Schnitzer, dem guten Hirten und bösen Magister (Teil 2).
Eine Novelle von Klaus Lelek
Sieben Jahre gingen so geschwind ins Land. Das Glashandwerk blühte und auch der Köhler und sein Weib Anna gelangten zu ein klein wenig Wohlstand, der sich in ihren Kleidern und schmackhaften Speisen niederschlug. Am Sonntag stellte Anna sogar eine Flasche güldenen Frankenwein auf den Tisch, begleitet von der Sorge ihr Mann könne sie an einem Tage leeren, was nicht selten geschah. Die Hütte trug ein neues Schindeldach und angelehnt an die Außenwand hatte der Köhler einen kleinen Stall errichtet, davor eine Ziege fröhlich meckerte.
Eines Tages klopfte jemand zur Mittagszeit an der Tür der abgelegenen Waldhütte. Draußen stand der Kaplan. Mit trauriger Stimme sagte er zu dem wackeren Paar: „Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen. In meinem Heimatort, im fernen Mähren, welches zu den Ländern unseres geliebten Kaisers Josef zählt, ist eine Pfarrerstelle frei geworden und der Herr der Gegend, Fürst L. sowie der Bischof haben mich gebeten diese in Beschlag zu nehmen, da ich neben dem Deutschen auch das Mährische, sowie das nahe Polnische beherrsche und eine Vielzahl von Gläubigen einzig allein der wendischen Sprachen mächtig sind. Lebt also wohl, vertraut auf Gott, und sollte euch mein Nachfolger nicht wohlgesonnen sein, denkt immer daran, es gibt stets zwei Kirchen in unserem Land: Eine sichtbare irdische, die mancherorts Anlass zu Klagen gibt und eine unsichtbare ewige, die Kirche der HEILIGEN, der BARMHERZIGEN, der GERECHTEN, der FROMMEN und MUTIGEN. Sollte euch ein Leid widerfahren; meine Türe im Mähren Lande steht hinfort offen. Mein gütiger Landesherr hat gewiss in seinem großen Hausstand Platz für tüchtige und ehrbare Leute.“ Er reichte Anna, die des Lesens und Schreibens mächtig war, ein kleines Pergament, darin er den genauen Ort der Pfarre beschrieben, versehen mit dem Vermerk, dass der Köhler und sein Weib seiner Einladung folgen. Dieses Schriftstück sollte ihnen für den Fall eines Unglückes als Passierschein dienen, denn bis zum Reich des Kaisers Josefs, zu denen auch das Markgraftum Mähren gehörte, waren viele Schlagbäume zu überwinden, und vor manchem stand ein böser, gottloser Scherge, der nur darauf wartete, einem arglosen, ehrlichen Wandersmann das Fell über die Ohren zu ziehen, während er vor Kutschen mit landgräflichen oder kurfürstlichen Wappen demütig den Buckel beugte. Nach diesen Worten zog der sanfte Seelenhirte von dannen und Anna sprach zu ihrem Manne: „Mir dünkt Herr Cyprian hat in die Zukunft gesehen. Mir ist so bang ums Herz, als zöge gerade ein schweres Gewitter heran, das den rauschenden Bach zu brausenden Fluten anschwellen lässt, um uns gleich einem Dämon zu verschlingen.
Am Festtag des Heiligen St. Martin, der seit alters her den Zeitpunkt bestimmt, dass Mägde und Knechte ausbezahlt und neue Arbeitsverträge geschlossen werden, machte ein neuer Pfarrer im Glasmacherdorf seine Aufwartung. Er war ein großgewachsener Mann mit schwarzem Haar und starkem dichtem Barte, der, obwohl er ihn jeden Tag mit Sorgfalt rasierte, wie ein dunkler Wald von Stoppeln die Wangen einrahmte. Seine Augen glichen Kohlen und durchbohrten ihr Gegenüber mit brennender Schärfe, strahlten jedoch im Gegenzug Kälte und Herablassung aus. Nur wenn er einem stattlichen wohl gewachsenem Weibe begegnete, huschte ein süffisantes, verschlagenes Lächeln über Wangen und Lippen. Die Gesichtszüge bekamen dann jenen dunklen Glanz, den man von Maskenbällen kennt, wenn ein Kavalier voller brennender Begierde sich seinem holden Ziele unausweichlich nähert. Er war stets nach der neusten Mode – allerdings in tiefstem Schwarz – gekleidet und trug dazu gleich einem Galanteriedegen einen Stock aus Ebenholz, dessen Knauf ein runder Onyx zierte. Wenn er durch den Ort schritt, wurde er meist von einem großen, grimmig aussehenden Hund begleitet, welcher seinem Herrn aufs Wort gehorchte und daher der Leine nicht bedurfte. Selbst kecke Glasmacherburschen begegneten ihm mit Respekt und manches Weibsbild, welches mit ihrem Angetrauten unzufrieden, warf dem Kavalier im Talar einen schmachtenden Blick zu, welcher er ohne Umschweife erwiderte.
Einige raunten unter vorgehaltener Hand, der neue Seelenhirte wäre ein Weltgeistlicher und hätte sich nach Jahren, die er als Diplomat im Heidenland verbracht hatte, an einem Fürstenhofe niedergelassen. Hätte dort die Tochter eines adligen Offiziers geschwängert und wäre daraufhin von seinem Herrn, dem Fürstbischof in jenes Glasmacherdorf geschickt worden, um auf diese Weise Buße zu leisten. Andere berichteten, dass er einst mit schön gewachsenen Knaben in einem Teich nackt gebadet und ihnen über die Funktionen der Körperöffnungen Aufschluss gegeben habe, was gleichermaßen zur Klage Anlass bot, weil daraufhin ein Jüngling, der bereits mit einer Jungfer verlobt, diese über Nacht verlassen und sich am nächsten Tag im Walde erhängt habe. Wieder andere erzählten, er wäre ein Magister und Ordenspriester, käme aus der Theologischen Universität in Paris, wo ihn der Landesherr hingeschickt habe, um jene neue Ideen mit Fleiß zu studieren, die allem Aberglauben abholt sind und den Menschen ein neues Gottesbild lehren, dass nämlich Regen, Hagel, Schnee, Krankheit und Gesundheit keinesfalls Gottes Werk seien, sondern einzig das Werk der Natur. Die Aufgabe des gelehrten Mannes sei es nun, so erzählten sie weiter, mit den im Welschland erworbenen Kenntnissen, die tumben Menschen in den abgelegenen Walddörfern Frankens von ihrem verderbten Aberglauben und ihrer Rückständigkeit zu befreien. War es doch noch nicht lange her, dass am Rande des Waldgebirges zuvorderst in Gerolzhofen die Scheiterhaufen brannten und manch ehrlicher Mann und manch holdes Weibsbild von bösen Menschen verleumdet und denunziert als Hexe und Teufelsjünger vor dem Folterknecht standen.
Wie alle Männer seines Schlages tat er nicht sofort seine Absichten kund, sondern redete zunächst mit Engelszungen von der Liebe Christi, wobei er in seinen Predigten, die wie Donner durch das Kircheninnere hallten, stets den Apostel Paulus anführte, der als oberster Lehrmeister die wahre Richtschnur des Glaubens sei. Um dieser Meinung Nachdruck zu verleihen, hatte er vor Jahren, als er in den Orden eintrat, den Namen Pater Paul angenommen. Weiterhin forschte er eifrig in dem alten Kirchenbuch, damit er über alle Familien genau Bescheid wisse, und weil ihm dies allein nicht genügte, lud er jeden Dorfbewohner in das stattliche Pfarrhaus, um auf diese Weise mehr über die Freunde und Feinde, die Gewohnheiten und Laster seiner ihm anvertrauten Schafe zu erfahren.
Bei dieser Gelegenheit brachte er in Erfahrung, dass die zweite hölzerne Madonna, die anders als das drei Ellen hohe Altargnadenbild nicht aus weichem Lindenholz, sondern aus hartem Buchenholz gefertigt war, erst seit sieben Jännern die Filialkirche ziere und dass sie wohl aus den hiesigen Wäldern stammen müsse. Ungeklärt war auch ihr Werkmeister. Als gesichert galt, dass sie wohl kaum aus einer Künstlerwerkstatt stammen könne, denn Buchenholz wird von Herrgottsschnitzern mitnichten verwendet. Es gab für dahin nirgendwo eine Handschrift, die den Kauf der Skulptur mit Kirchengeldern dokumentierte. Des Weiteren hatte er durch fleißige Nachforschungen herausgefunden, dass der Holzfäller und seine Frau zugewanderte Fremde waren, deren Namen genauso falsch sein könnten, wie die Namen von durchreisendem Lumpenpack. Also jenen, die man bis vor wenigen Jahrzehnten wegen kleiner Vergehen auf dem Hügel, welcher dem Ort seinen Namen verliehen, elendig aufgeknüpft hatte. Nach dem schrecklichen, großen Kriege freilich, der die Gegend beinahe menschenleer gemacht, war jeder Landesherr froh, wenn sich eine dahergelaufene Seele – selbst Gaugler und fahrendes Volk – zu ihm verirrte und gelobte von nun an die brachliegende Scholle oder den Forst nach Kräften zu beleben.
Auf diese Weise hatte der schlaue Pater fast alle Dorfbewohner bei üppigen Speisen, die eine wunderschöne Frau aus Afrika auftrug, in sein Palais eingeladen, nur die seltsamen, stillen Menschen, die in den hinteren Bänken saßen, waren bislang seinem heimlichen Verhören entgangen. Dies hatte wohl seine Ursache darin, dass die beiden Forstbewohner sofort nach dem sonntäglichen Hochamt verschwanden, und da sie beinah neben der Kirchenpforte saßen, verließen sie als erstes die Vorhalle und waren von niemanden mehr gesehen. Wenn der Magister sich des Talars entledigt hastig aus der Sakristei trat, hatte der Köhler und sein Weib längst den schmalen Weg erreicht, der an windschiefen Apfelbäumen vorbei direkt in den Forst führte.
Eines Tages – der Tau war gerade erst gefallen und der spätsommerliche Morgennebel kroch wie eine böse Schlange vom Glasmacherdorf die Berghänge aufwärts – fuhr Anna mit einem entsetzlichen Schrei aus dem tiefen Schlafe und stieß ihren Gefährten unsanft an: „Er kommt! Er kommt. Pater Paul ist mit seinem schrecklichen Hund auf dem Weg zu uns. Ich sehe es genau. Er will uns verderben. Ich kenne ihn genau. Er ist ein böser Mann. Schnell! Lass uns tiefer in den Wald fliehen. Hier sind wir nicht sicher. HEILIGE MUTTER GOTTES steh uns bei.“ Der Holzfäller rieb sich ungläubig die Augen und sprach: „Ach Weib, was redet Ihr? Warum sollte er uns verderben?“
„Das fragt Ihr noch“, antwortet das verzweifelte Weib. „Ich bin eine entlaufene Nonne aus gutem Hause und Ihr, mein lieber Mann seid ein entlaufener Soldat. Die verderbten Engländer haben viel Geld für euch bezahlt, dass Ihr im wilden, fernen Amerika euer Leben aushaucht. Rasch! Zieht euch an, wenn wir mit den blanken Füßen dem Wildbach folgen wird uns sein Bluthund nicht aufspüren. Die Bestien riechen nichts im Wasser. So manches Wild ist auf diese Weise schon der Meute entkommen. Bei den Felsen folgen wir dem kleinen Saumpfad über den Bergkamm. Von dort können wir beobachten, was der Häscher im Talar im Talgrunde treibt und wann er sich zusammen mit seinem Cerberus gen Krähenberg trollt.
Eilig raffte Anna einige Vorräte zusammen, etwas Brot, ein wenig geräucherten Schinken und eh sich der Nebel verzogen, hatten beide den rettenden Gebirgskamm erreicht. Die Schnitzmesser des werten Cyprians hatte der Köhler schon vor Jahren inmitten eines Felsenlabyrinthes in einer tiefen, trocknen Felsspalte verborgen, wo sie in einem Holzkästchen sorgsam verwahrt, die strengen Winter schadlos überstanden.
Es dauerte nicht lange da trat der gestrenge Pater gleich einem unheilvollen Schatten hinaus auf die kleine Waldlichtung und stand schon in Bälde vor der niedrigen Hütte, welche noch erfüllt war vom Geruch der Unglücklichen, die nicht einmal Zeit hatten, die Nachttöpfe vor dem Gartenzaun zu leeren. Er klopfte mit der geballten Faust fest an die dicke Eichentür und rief mit lauter Stimme: „Hier ist Pater Paul. Ist jemand zu Hause. Macht auf!“. Seine harschen Worte erklangen begleitet von wütendem Hundegebell eindringlich, beinah bedrohlich. Dies lag auch daran, dass er in Unkenntnis des Weges sich keinen Proviant mitgenommen hatte und nun darauf hoffte, die Köhler könnten ihn mit einem Mittagsmale dienen. Unterwegs hatte der Pater, der selten sein Palais verlies, lediglich ein Paar schwarze Waldbeeren am Wegesrand eingesammelt, die zwar köstlich aussahen und verlockend glänzten jedoch nicht sonderlich gut schmeckten. Was ihn am meisten erzürnte war der Umstand, dass er bereits kurze Zeit nach dem Verzehr einen heftigen Durst verspürte, den auch das Wasser der zahlreichen Quellen, die links und rechts des Weges aus den Felsen traten, nicht zu löschen vermochten.
Nach dreimaliger Aufforderung stieß er mit dem Stiefel bewehrten Fuße unsanft gegen Türe, die sich sofort ohne Widerstand öffnete. Sie war nämlich nur von Innen mit einem Riegel zu verschließen. War niemand zu Hause, stand sie allenthalben offen, so dass jedermann in die ärmliche Behausung eindringen konnte, was jedoch bislang noch nie geschehen, denn die Glasmacher, die hin und wieder dem Köhler ihre Aufwartung machten, waren allesamt ehrbare Leute und warteten brav vor der Hütte, bis Anna oder ihr Mann – die beiden waren meist nicht weit entfernt mit dem rußenden Meiler beschäftigt – sie freundlich empfingen.
„Wo sind eure verderbten Schnitzmesser, feiger, kleiner hinterlistiger Gaukler, Bastard und Hurensohn,“ schnaubte der Weltpfaffe und sagte für dahin laut zu sich selbst: „Hätte ich nicht den geistigen Stand gewählt, so wäre ich bestimmt ein guter Maréchaussée geworden und hätte so manchen von euch Strauchdieben an den Galgen gebracht.“ Er durchmaß mit energischen Schritten die kleine Wohnstube, riss alle Schränke und Schubladen auf, wühlte in den Kleidern, klopfte die Dielen nach Hohlräumen ab, sah im Schlafgemach unter die Betten, doch die Messer blieben verschollen. Nur Äxte und Sägen hingen an der hölzernen Wand, und in seinem Zorne glaubte er zu erkennen, wie die Werkzeuge ihn spöttisch anlachten.
„In dieser elenden Hütte herrscht kein guter Geist!“ rief er aus. „In diesen engen Wänden herrscht der stinkende Geist des Aberglaubens, und ihr fallt darauf rein, ihr Ungläubigen! Ihr glaubt, die jämmerliche Götzenfigur hätte euch den Würgeengel vom Hals gehalten, die Lilith für immer aus eurem armseligen Dorfe verbannt. Hätten euch das Gebären erleichtert. Ihr ungläubigen, einfältigen Weiber! Ich werde eigenhändig diese Götzenfigur vernichten, so wie Mose einst das goldene Kalb vernichtete, als er vom Berg Sinai herabstieg, so wie Mohamed die Götzenbilder der Kaaba in Mekka zerstörte.“ Er trat, umtänzelt von seinem treuen, wild bellenden Begleiter unwirsch aus der Hütte und rief laut in die immer noch dampfenden Berge: „Wo seid ihr Götzendiener und Ungläubige? Ich werde euch finden und euer verderbtes Werk vor aller Augen vernichten. Ich werde zeigen, dass es nur einen „einzigen Gott“ gibt, dessen Ruf wie Donnerhall über den Erdball schallt. Ich werde vor aller Augen beweisen, dass ihr es wart, die mit List und Tücke ein Götzenbild geschaffen, das die einfältigen Glasmacher vom wahren Glauben abringen soll. Such sie Anubis! Sie können nicht weit sein. Ich rieche ihren Angstschweiß. Er liegt förmlich in der Luft. Besonders jenes verderbte Weib muss eine Menge Angst vor mir haben. Mir dünkt, ich habe sie schon einmal irgendwo gesehen, die verdammte Hexe.“
Der gewaltige Hund nahm hechelnd Witterung auf. Die Nüstern des Rüden bebten und die Nackenhaare sträubten sich. Aber welcher Fährte sollte er folgen? Es gab ja nur die beiden armen Seelen. Ihre Spuren waren jedoch überall verstreut. Mal hetze das Ungetüm zum Kohlenmeiler, dann rannte es zum Bach, schließlich verschwand es, die Lefzen dicht über den Boden schleifend in einem schmalen Pfad, der alsbald in ein dichtes Unterholz führte. Erst gestern Abend hatte der Köhler diesen Weg eingeschlagen. Die Spur war daher noch taufrisch, das feuchte Gras zu den Seiten des Saumpfades vor nicht langer Zeit zu Boden getreten, was der Hund mit aufgeregtem Geifern und demütigem Winseln bezeugte. Der Pfaffe stob gleich einem Wirbelwind hinter dem Fährtenführer her und stand plötzlich vor einem mächtigen Baum, der jedoch nicht aufrecht, sondern gleich einem schlafenden Riesen auf der Erde lag. Zwischen seinen kahlen trocknen Ästen sprossen bereits junge Buchen und Birken, die ihn so vollständig einhüllten, als läge er in einem grünen Tuche. Der Pfad folgte, den sperrigen Astgabeln ausweichend, noch eine Weile dem hingestreckten Stamm und endete dann an einer Stelle, wo viele Schritte und Tritte die Erde zu einem kleinen Platz festgetrampelt hatten. Der Stamm jedoch, dem der Pfaffe gefolgt war, hörte an dieser Stelle keinesfalls auf, sondern war einfach nur unterbrochen. Jemand hatte ein kleines Stück, etwa eine Elle lang, aus dem mächtigen Buchenstamm herausgeschnitten und den gewaltigen Rest einfach liegen lassen…
Was nun geschah, können auch Menschen bezeugen, die bislang gar nichts von dem Ansinnen des Weltpriesters wussten, geschweige denn ahnten. So um die Mittagszeit, als der Küster gerade mit dem Angelusläuten begann, war ein gellendes hämisches Gelächter aus dem Wald vernehmbar. Das Lachen klang so fremd und eigenartig, dass es nur mit Mühe als menschlicher Laut erkennbar war. Dazwischen ertönte das Bellen des Hundes, jedoch so rasend, jaulend geifernd und von Sinnen, dass man meinen könnte eine ganze Meute Bluthunde habe einen wunden Hirsch gestellt. Einige Glasbläser, die gerade ihre Arbeit beendet hatten, erzählten später, sie haben sich beim Vernehmen des aus dem Holze dringenden Lärmes justament bekreuzigt. Wieder andere glaubten Räuber hätten die einsame Hütte der Köhler heimgesucht und die Bewohner auf grausame Art dahingemordet. Der Lärm, der aus dem Wald hallte, wäre in Wahrheit kein Lachen, sondern ein Schmerzens- oder sogar Todesschrei gewesen.
Die Ursache jenes höhnischen Lachens, das irgendwann urplötzlich ohne Nachhall verstummte und einer gespenstigen Ruhe wich, ist leicht zu erklären: Pater Paul hatte genau das gefunden, nachdem er die ganze Zeit vergeblich gesucht hatte. Ein Schnitzmesser? Nein, dies allein hätte noch gar nichts bewiesen. Das Beweisstück, das sich nun vor seinen weit geöffneten Augen auftat, war viel stichhaltiger und plausibler als das, was er sich erhofft hatte. Es war ein Dokument, ein Geständnis, eine Unterschrift, ein Mosaikstein von dem jeder Maréchaussée, der einen Dieb überführen will, nur träumen kann. Schon mit bloßem Auge, dessen schwarze Pupillen sich zwischenzeitlich zu einem großen Brennglas geweitet hatten, konnte der Polizist Gottes haarscharf erkennen, dass der Umfang und Durchmesser des durchgesägten Stammes haargenau dem Umfang der verderbten Götzenstatue entsprachen. Gänzlich alles, einschließlich Anzahl der Jahresringe, passte zusammen und endete in dem vernichtenden Urteil:
Die Figur wurde vom Holzfäller und Köhler aus dieser gefällten Buche geschnitzt. Der Gauner hat anschließend die Götzenfigur heimlich in die Kirche geschafft und sie in der Fensternische platziert, in der Hoffnung die gutgläubigen Glasbläser würden in ihr ein Wunderwerk erkennen. Dabei war sie doch nichts weiter als eine Laune der Natur. Das Gesicht der Göttin, die man für das Antlitz der Gottesmutter hielt, war nicht weiter als eine Beule im Buchenstamm, die der Betrüger mit wenigen Schnitten zu einem menschlichen Kopfe mit Krone geformt hatte. Die zweite kleine Ausbuchtung, Apfelgroß war unschwer als Kinderkopf zu erkennen. Die Einkerbungen des Faltenwurfs waren teils natürlichen, teils künstlichen Ursprunges. All dies machte den Magister noch wütender, denn er war ein großer Liebhaber der klerikalen Künste und wurde bei Expertisen gerne zu Rate gezogen. Er konnte aus dem Stegreif heraus bestimmen, aus welchem Jahrhundert eine Figur stammte. Auch antike Statuen, die Zuhauf im Welschland entdeckt wurden, waren ihm wohlvertraut.
„Oh ihr einfältigen Glasmacher!“ rief der Pater und presste als letzten Beweis ein blütenweißes Blatt Papier gegen den durchgesägten Stamm, um auf diese Weise das passende Pendant zu seinem Korpus Delicti zu erhalten. „Ich habe immer geglaubt die kunstfertige Arbeit mit dem Glase hätte euren Blick geschärft, euch zu Klarheit und Weitsicht, Umsicht und Präzision verholfen, euren Verstand erhellt. Wie sagte unlängst ein weiser Mann: Sapere aude – habet den Mut euch eures Verstandes zu bedienen. Gott ist vor allem Licht. Erleuchtung. Aufklärung. Illumination. Ihr aber wandelt immer wie eure Vorväter in nächtlicher Finsternis. Kein Wunder, dass euer elendes Dorf den Namen jener verfluchten Vögel trägt, die als Unheilsboten und Totenbegleiter den Hexen und Zauberern voran fleuchen. „In nomine patris et filii et spiritus sancti!“
Er machte, um den Ort für alle Ewigkeit zu bannen, drei Kreuzzeichen, trat einen Schritt zurück und stieß unsanft an einen messerscharfen, spitzen, herausragen abgebrochen Ast, welcher ihm, ehe er sich versah, die edle, schwarze Kniehose zerriss und schmerzhaft, gleich einem Pfeil in die Haut drang. „Merde! Ce n´est pas vrai! C´est trop maintenant!“ Er sprach auf einmal fließend Französisch, fiel kurze Zeit später ins Spanische und parlierte schließlich in jener Sprache, die er für gewöhnlich anwendete, wenn er sich mit seiner schwarzen Haushälterin unterhielt, dem Arabischen.
Im gleichen Moment jaulte Anubis ängstlich auf und dünkte hernach nicht mehr so machtvoll, wie gen Mittag, als sie die Hütte erreichten, und hernach mit Triumphgeheul den Baumriesen in Augenschein nahmen. „Lass uns gehen!“ zischte der Pater. „Dieser Ort ist verflucht. Ein Hort des Satans. Das gleiche gilt für jene die hier wohnen.“ Er machte erneut drei Kreuzzeichen, sprach etwas, was wie eine Beschwörungsformel klang, und humpelte alsdann zurück ins Dorf, wobei der große Hund, welcher für gewöhnlich stets zehn Ellen vorauseilte, seinem geistlichen Herrn dicht auf den Fuß folgte, sich sogar angstvoll an dessen malträtiertes Bein drückte, als könne es ihn vor einer unheilvollen Macht beschützen, die sie von nun an hinlänglich bedrohte.
Fortsetzung folgt...
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