54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
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Die Evangelien auf historischem Prüfstand
 
Die Evangelien auf historischem Prüfstand

von
Christian Schumacher
(aus: „Beiträge“ Nr. 148 vom Okt.-Nov. 2019)

(Teil 1)

Das Neue Testament ist der wohl einflussreichste Text der Weltgeschichte. Doch in seiner uns heute bekannten Zusammenstellung (vier Evangelien, die Apostelgeschichte, 21 Briefe und die Apokalypse) gibt es dieses erst seit dem Ende des vierten Jahrhunderts. Hier hat die katholische Kirche den endgültigen Kanon festgelegt und alle Texte daraus verbannt, welche erstens nicht bestimmten Anforderungen bezüglich der Authentizität standhielten, sowie zweitens keine nachvollziehbare und glaubhafte Überlieferungstradition nachweisen konnten.

Übrig blieben die Texte, welche noch heute im Neuen Testament stehen. Die ersten drei, das Evangelium nach Markus, Matthäus und nach Lukas werden die synoptischen (von griech. „synopsis“ = gemeinsam schauen) Evangelien genannt, weil diese sehr viele Überschneidungen aufweisen. Hinzu kommt das Evangelium des Johannes.

In diesen vier Evangelien ist das Leben, das Sterben und die Auferstehung Jesu Christi festgehalten, welche damit den Mittelpunkt aller christlichen Glaubensüberlieferung bilden. Doch immer wieder sieht man sich als gläubiger Katholik dem Vorwurf ausgesetzt, die Evangelien seien als historische Quellen nicht geeignet. Immer wieder wird uns von Medien und auch einigen Wissenschaftlern gebetsmühlenartig eingeredet, hier würde es sich lediglich um frühchristliche Glaubenszeugnisse handeln, mitnichten jedoch um authentische Darstellungen des Wirkens Jesu. Die im 19. Jahrhundert einsetzende sog. Entmythologisierung der Evangelien machte es sich zur Aufgabe, das Neue Testament gründlich zu „entrümpeln“. Man gab an, „sauber“ zwischen dem historischen Jesus einerseits und dem Jesus der nachösterlichen Glaubensverkündigung unterschieden zu wollen.

Auf die Spitze getrieben hat es wohl der deutsche protestantische Theologe und Vater der liberalen Theologie, Rudolf Bultmann, welcher einmal schrieb: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ Nach dieser sog. Entmythologisierung blieb nicht mehr viel übrig, sodass einige Forscher zu dem Schluss kamen, der historische Jesus habe nichts – oder zumindest nicht viel – mit dem Jesus Christus, welcher seit 2000 Jahren als Sohn Gottes verehrt wird, gemein. Zurück geht diese Sichtweise auf den Philosophen und Theologen D.F. Strauß, welcher in seinem Manifest „Das Leben Jesu“ (1835/36) die Ansicht vertrat, die Evangelien seien ausschließlich mythische Texte, die es zu interpretieren gelte. Überall, wo Ereignisse geschildert seien, die gegen die Naturgesetze verstießen, handle es sich um „absichtslos dichtende Sage.“

Das würde bedeuten, Christen hätten seit jeher eine erdachte Christusfigur angebetet. So beispielsweise das sogenannte „Jesus-Seminar“, welches in den 1990er Jahren in den Vereinigten Staaten nach angeblich wissenschaftlichen Methoden vollkommen neutral und unvoreingenommen die Worte Jesu auf deren Authentizität überprüfen wollte. Das Wissenschaftler-Kollektiv kam zu dem aufsehenerregenden Schluss, 82 Prozent dessen, was die Evangelien Jesus zuschrieben, habe er nie gesagt. Immerhin 18 Prozent seien zweifelhaft und ganze zwei Prozent wären authentisch. Das so bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Jesus-Bild hat kaum bis gar nichts mehr mit dem zu tun, was allgemein über Ihn die letzten zwei Jahrtausende gesagt und gelehrt wurde. Und obwohl dieses Kollektiv nur eine kleine Minderheit der Theologen und Bibelwissenschaftler repräsentiert, hatte es dennoch sehr großen Einfluss auf die damalige gesellschaftliche Einstellung zu diesem Thema.

Diese Einstellung hat sich bedauerlicherweise im Allgemeinbewusstsein nachhaltig festgesetzt, sodass nach wie vor immer wieder die gleichen Vorwürfe gegen die Historizität des Neuen Testaments ins Feld geführt werden – meist von irgendwelchen Schreiberlingen populärgeschichtswissenschaftlicher Zeitschriften – und diese sich wider besseres Wissen hartnäckig halten.

Wie verbreitet inzwischen die Überzeugung ist, nach der das Bild des Jesus Christus mit jenem Zimmermann aus Nazareth nun wirklich gar nicht zusammenpasse und welch teilweise absurden Blüten diese Überzeugung getrieben hat, zeigt exemplarisch ein kleines Buch mit den Titel „Die geheime Geschichte von Jesus Christus. Was uns bis heute verschwiegen wurde“ von Frank Fabian. So stellt der Autor nach einer „kritischen“ Auseinandersetzung mit den Evangelien fest: „Die Glaubwürdigkeit der Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes ist gering, sie hält einer historisch-kritischen Betrachtungsweise nicht stand. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ehrliche Berichte handelt, liegt unserer Einschätzung nach bei allenfalls zwei Prozent. Mit 98-prozen-tiger Sicherheit handelt es sich um dreiste Lügen, die mit der Absicht geschrieben wurden, die Gläubigen zum Christentum zu bekehren oder sie bei der Stange zu halten.“

Diese Anschuldigung ist offensichtlich nicht neu. Immer wieder wurde der Kirche vorgeworfen, eine Lügengeschichte um jenen Nazarener entworfen zu haben, mit dem einzigen Ziel, ihre Macht über die Köpfe und Herzen der Menschen zu behaupten. Jetzt ist aber wenigstens deutlich geworden, welche Einstellung „Forscher“ wie der angeführte gegenüber der Kirche haben. Von wissenschaftlicher Neutralität und Ergebnisoffenheit kann nicht im Mindesten die Rede sein. Schließlich scheint das letztlich entscheidende Kriterium einzig der Unglaube an die Gottheit und Übernatürlichkeit Jesu zu sein. Und so gestaltet sich der ganze Text. Wie der Titel schon verrät, ist bereits im Vornherein das Ergebnis festgelegt, bevor auch nur in die Quellen geschaut wurde. Wenig später legt Fabian nochmals nach: „Obwohl sich die Verfasser unermüdlich darum bemühen, ihren Berichten Wahrhaftigkeit einzuhauchen, indem sie Zeugen aufführen oder behaupten, selbst Augenzeugen gewesen zu sein, verstricken sie sich in ihrem eigenen Lügennetz, das zumindest der Intellektuelle recht leicht zerreißen kann.“ Zu der ablehnenden Haltung der katholischen Kirche gegenüber gesellt sich nun noch eine gehörige Portion Arroganz. Aber weiter im Text: „Die Quellen taugen nicht viel (…) über Jesus Christus bekommen wir fast nichts heraus, abgesehen von den herkömmlichen religiösen Klischees, die jedoch jeder Originalität entbehren und denen man auch deshalb misstrauen muss, weil die zeitliche Nähe fehlt.“ So geht der „Intellektuelle“ wie üblich von einer sehr späten Entstehung der Evangelien aus, frühestens gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus, und unterstellt somit der Kirche wie selbstverständlich ein schwer-lügnerisches Handeln.

Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, die Evangelien in aller gebotenen Kürze gegen diese Anschuldigungen und Verleumdungen zu verteidigen. Es soll – um das Ergebnis vorweg zu nehmen – gezeigt werden, dass die Evangelien nicht nur als historische Quellen geeignet, sondern geradezu prädestiniert sind. Möge dieser Versuch zur Beruhigung derjenigen dienen, welche schon mit dem einen oder anderen Zweifel konfrontiert wurden.

Die Datierung der Evangelien

Lange wurden in der modernen Wissenschaft die Evangelien sehr spät datiert. Auch heute noch datieren sehr liberale Kreise von Theologen das Evangelium des Markus in die 70er Jahre des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, Matthäus und Lukas in die achtziger Jahre und das Johannesevangelium in die neunziger Jahre des ersten Jahrhunderts. Meist um darzulegen, dass die besagten Autoren eben nicht die Evangelien geschrieben hätten. Doch selbst wenn man diese Spätdatierung annehmen wollte, könnte man davon ausgehen, dass immer noch genug Zeitgenossen Jesu gelebt hätten, um etwaigen Falschaussagen, die verbreitet worden wären, zu widersprechen.

Nun sind diese späten Datierungen nicht besonders schlüssig. So sagen einige Forscher, dass die synoptischen Evangelien alle vor der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. geschrieben worden sein müssen. Denn in allen diesen (Mt 24, 1-3; Mk 13, 1-4; Lk 21, 5-7) wird die Zerstörung des Tempels durch Jesus angekündigt. Dennoch verlieren die Evangelisten kein Wort über dieses einschneidende Ereignis: Der Zerstörung der heiligen Stadt, sowie des Tempels im Jahre 70 durch die Römer. Keinerlei Anmerkungen, die Worte Jesu hätten sich bereits bewahrheitet. Über eine solche sensationelle Erfüllung der Prophezeiung Jesu hätten die Evangelisten sicher nicht geschwiegen!

Wann wurden sie jedoch genau geschrieben? Dazu ist es zunächst wichtig herauszufinden, welches das erste Evangelium war. Und hier stellt die Forschung fest, dass das Evangelium nach Markus das älteste sein muss - entgegen der in den Büchern des Neuen Testaments veröffentlichten Reihenfolge Matthäus, Markus, Lukas und schließlich Johannes. Das wird ersichtlich aus dem erkennbaren Aufbau der Evangelien aufeinander. Darüber hinaus existiert seit geraumer Zeit eine weitere Theorie, die die gerade angeführte Reihenfolge stützt, die sogenannte Zweiquellentheorie.

Die Zweiquellentheorie wurde von protestantischen Theologen im 19. Jahrhundert entwickelt, maßgeblich federführend war der deutsche Theologe Heinrich Julius Holtzmann. Demnach stelle Markus die erste dieser beiden Quellen dar, auf welche sich zunächst das Matthäusevangelium stützte. Die zweite Quelle sei die gemeinhin als Logiensammlung Q bezeichnete Urquelle der Evangelienberichte, der Sammlung der Worte Jesu. Diese Quelle Q sei aber nicht mehr erhalten und sei neben Matthäus auch dem Evangelisten Lukas zur Verfügung gestanden, zu genau seien die Übereinstimmungen dieser beiden Evangelien, jedoch nicht dem Markus-Evangelium. Selbstverständlich wird dies immer eine Theorie bleiben müssen – nichts desto trotz aber eine sehr plausible Theorie, wie noch zu zeigen sein wird.

Markus wird als „Dolmetscher“ des Apostelfürsten Petrus bezeichnet, indem er dessen Lehrvorträge in seinem Evangelium niedergelegt hat. Jedenfalls verkündete Petrus in der Hauptstadt des Imperiums das Evangelium. Im Zuge dessen werden die dortigen Christen den Markus gebeten haben, die Predigten des Petrus schriftlich für sie zu fixieren. Bestätigt wird diese Theorie auch von der frühesten Tradition. Immerhin notierte Papias, Bischof von Hierapolis – welcher um 120 gestorben und nach eigenen Angaben den Apostel Johannes persönlich kannte – irgendwann um 110, wobei er sich auf den Apostel Johannes selbst berief: „Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht der Reihe nach, aufgeschrieben. Denn er hatte den Herrn nicht gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, daß er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen und sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.“

Dieser Theorie zumindest entspricht der Stil, in welchem das Markus-Evangelium gehalten ist. So ist es ganz und gar nicht literarisch und entspricht in seiner Wortkargheit und Schlichtheit eher dem gesprochenen Wort. Auch der Umstand, dass das Evangelium einer Ansammlung einzelner Episoden entspricht, zwischen welchen keine eigentliche Verbindung besteht, spricht dafür, dass der Text im Wesentlichen auf den zusammengesetzten Erinnerungen des Petrus beruht, die Markus einfach zu Papier brachte. Damit könnte das älteste Evangelium bereits auf die Zeit zwischen 42 und 44 n. Chr. datiert werden, also gut ein Jahrzehnt nach dem Tod Jesu. Vermutlich wird ihn die Gemeinde in Rom gebeten haben, die Predigten Petri niederzuschreiben.

Dafür zumindest sprechen auch Papyri-Funde in Qumran, welche 1972 von dem spanischen Papyrologen José O´Callaghan mit einer Stelle aus dem Markusevangelium identifiziert wurden (Mk 6, 52f). Diese These griff der Papyrologe Carsten Peter Thiede zwölf Jahre später auf und untermauerte sie. Er konnte die auf den Papyrifetzen geschriebenen Buchstaben dem sogenannten Zierstil zuordnen, welcher für die Zeit bis 50 n. Chr. charakteristisch war. Und obwohl die Debatte um diese These in der Fachwelt oft hitzig geführt wurde, gab die Zeit den Befürwortern Recht. 1994 schrieb die renommierte italienische Papyrologin Orsolina Montevecchi: „An der Identifikation mit Markus 6, 52-53 gibt es, wie es aussieht, keine vernünftigen Zweifel mehr.“ Damit scheint die Datierung vor 50 korrekt zu sein. Dieser Datierung schloss sich auch Karl Jaros, der bekannte Theologe und Bibelwissenschaftler aus Wien an. Er datierte die Papyri in die Zeit 40-54 n. Chr.

Ein weiterer Hinweis ist eine Anspielung des Markus (Mk 13,14), welche sich auf die Verfügung des größenwahnsinnigen Kaiser Caligula aus dem Jahre 40 richtete, im Tempel zu Jerusalem eine Statue von sich aufzustellen. Dieses Ereignis muss dem Apostelfürsten einige Jahre später noch in guter Erinnerung gewesen sein.

Dieses Evangelium wird sich in der Folgezeit in den christlichen Gemeinden verbreitet haben, bis es um spätestens 50 n. Chr. auch in Jerusalem bekannt wurde; vielleicht auch schon zum Apostelkonzil 48 n. Chr. Nun ergibt sich jedoch ein Problem. Denn zu dieser Zeit hätte der Apostel Matthäus schon sein Evangelium niedergeschrieben haben müssen. Immerhin verließ er der alten Überlieferung zufolge Jerusalem bereits um 42, um nie mehr zurückzukehren. Der Tradition nach soll er in Äthiopien und Persien als Missionar gewirkt haben, wo er dann schließlich auch den Märtyrertod starb (vgl. Biographisches-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 5, Sp. 1030-1032). Nun hat die biblische Exegese hingegen gezeigt, eine unmittelbare Abhängigkeit des Evangeliums nach Matthäus zum Markusevangelium besteht.

Während der Evangelist Lukas die Informationen aus dem Markusevangelium geschickt in seine Chronologie flocht, kommen sie bei Matthäus fast im Block vor. Dieser undifferenzierte Umgang und die Abhängigkeit von Markus könnten vermuten lassen, dass Matthäus nicht der Autor des gleichnamigen Evangeliums in seiner heutigen Form ist. Schließlich hätte er als Augenzeuge der Worte und Taten Jesu es nicht nötig gehabt, von Markus, dem Dolmetscher Petri, die willkürliche Reihenfolge der einzelnen Passagen zu übernehmen. Warum aber dieses Evangelium dennoch Matthäus zum Urheber hat, wird noch weiter unten dargelegt.
Als eine weitere zentrale Quelle des Matthäusevangeliums wird – wie oben erwähnt – die Logiensammlung Q angenommen. Diese wird wohl auf aramäisch – dem von Jesus gesprochenen Dialekt – verfasst gewesen sein. Und die älteste Quelle, in der die einzelnen Evangelien den verschiedenen Autoren zugeordnet werden, ist ein Text des Papias, Bischof von Hierapolis, welcher um 110 notierte: „Matthäus hat im Dialekt der Hebräer die Reden (des Herrn) zusammengestellt; ein jeder aber übersetzte dieselben, so gut er konnte.“ Interessant dabei ist, Papias verwendet hier das griechische Wort „lógia“, das auch „Worte“ oder „Sprüche“ bedeuten kann.

So wird wahrscheinlich Matthäus selbst der Verfasser von Q gewesen sein. Immerhin war er ein Zollpächter, wie uns der griechische Originaltext („telones“) verrät. Ihm unterstand die ganze Zollstation in Kafarnaum, welche er von König Herodes Antipas gepachtet hatte. Er war also nicht nur ein wohlhabender Mann, sondern auch ein gebildeter. Als Zollpächter musste er über die Fähigkeit verfügen, schnell und knapp zu protokollieren. Er beherrschte also vermutlich die Tachygraphie, eine Art antike Kurzschrift. Wie die Evangelien berichten, ließ Matthäus alles stehen und liegen, um Jesus nachzufolgen. Er wird Ihn also schon zu diesem Zeitpunkt zumindest als großen Propheten angesehen haben. Nimmt man noch hinzu, dass auch das Judentum die Tradition kennt, die Dialoge großer Rabbiner und Schriftgelehrten zu protokollieren, dann erscheint die Ansicht plausibel, Matthäus habe die Reden Jesu mitgeschrieben, zumindest zeitnah aufgezeichnet.

Als dann das Markusevangelium in Jerusalem bekannt wurde, könnte dies bei den dort ansässigen Judenchristen dazu geführt haben, einen noch besseren Text schaffen zu wollen, wozu die von Matthäus protokollierten Reden Jesu um die aus der Erinnerung des Petrus stammenden Eindrücke des Markusevangeliums ergänzt wurden, zusammen mit einigen lokalen Traditionen. Und damit der Verfasser der Logien als Gewährsmann für dessen Richtigkeit nicht in Vergessenheit geraten würde, benannte man das so geschaffene Evangelium nach dem Apostel und nun Evangelisten Matthäus. Damit wäre die Entstehung des Matthäusevangeliums auf die Zeit um 50 n. Chr. festzusetzen.

Der sogenannte „Jesus-Papyrus“ aus Ägypten gilt als das derzeit älteste bekannte Zeugnis des Evangeliums nach Matthäus und besteht aus drei kleinen Schnipseln, die wie bei einem Kodex gleich auf beiden Seiten beschrieben sind und wurde vom renommierten Papyrologen Carsten Peter Thiede überzeugend auf spätestens 66 datiert (vgl. Thiede, Peter Carsten: Der Jesus-Papyrus, München 1996, S. 149-189, besonders S. 184). Jedoch merkt er in seiner Untersuchung an, es sei auch ein früherer Zeitpunkt denkbar, keinesfalls jedoch ein späterer. Nimmt man also an, das Evangelium nach Matthäus wird um 50 niedergeschrieben worden sein, so kann man als Zeitspanne der Entstehung des Jesus-Papyrus die Zeit zwischen den späten 50er Jahren und 66 annehmen.

Das wird durch den Umstand bekräftigt, dass der Jesus-Papyrus zu einem Kodex gehört haben muss (also einer Art Buch) und nicht zu einer Schriftrolle, da er beidseitig beschrieben ist. Nun hat die Forschung aber herausgefunden, die Evangelien wurden zunächst in jüdischer Manier auf Schriftrollen festgehalten und erst später als Kodizes kopiert. Das hat mit einer zunehmenden Emanzipation des jungen Christentums vom Judentum zu tun, aber auch praktische Gründe: Ein Buch war einfach leichter zu transportieren als ein Satz Schriftrollen, weil kompakter. Dies vorausgesetzt muss der Jesus-Papyrus sogar eine Kopie der zweiten Generation sein und hat also auf einem bereits vorhandenen Text aufgebaut – nämlich der Schriftrolle.

Das dritte Evangelium, nach Lukas, wurde hingegen nach Markus (ca. 44) geschrieben, da es Teile des Markusevangeliums integriert. Vermutlich ist es auch nach Matthäus (ca. 50) verfasst worden, allerdings mit Sicherheit vor der Niederschrift der Apostelgeschichte. Denn sowohl das dritte Evangelium, als auch die Apostelgeschichte stammen aus der Feder des Lukas, einem griechischen Arzt, welcher der Begleiter des Paulus war. Lukas verweist zu Beginn seiner Apostelgeschichte auf seinen „ersten Bericht (…) von all dem, was Jesus von Anfang an tat und lehrte.“ (Apg. 1,1).

Nun wurde der Apostelfürst Paulus unter Kaiser Nero hingerichtet, vermutlich Anfang 65. Jedoch endet die Apostelgeschichte nicht mit dem Martyrium des Paulus, sondern mit dessen Ankunft in Rom, wo dieser „zwei volle Jahre in seiner eigenen Wohnung“ lebte und „das Reich Gottes (predigte) und lehrte.“ (Apg. 30, 30). Paulus traf vermutlich um 60 in Rom ein, nach einer wohl abenteuerlichen Reise aus Caesera, wo er 57-59 in Gefangenschaft war. So befindet sich die Apostelgeschichte auf dem Informationsstand des Jahres 62 n. Chr. Demnach müsste das Lukas-Evangelium vor 62 entstanden sein. Vielleicht hat Lukas es während der Gefangenschaft des Paulus in Caesera verfasst. Spätestens jedoch in Rom zwischen 60 und 62.

Und auch hier ist die erste erhaltene Abschrift nicht allzu lang nach der eigentlichen Entstehung des Evangeliums datiert. Der Papyrus P4, welcher in der Bibliothèque Nationale in Paris aufbewahrt wird, stammt womöglich aus dem frühen zweiten, gar aus dem späten ersten Jahrhundert nach Christus. Das Evangelium des Johannes ist demnach als jüngstes Evangelium nach 62 n. Chr. entstanden. Jedoch gilt auch hier, die Niederschrift vor der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. anzusetzen. Schließlich wird auch im Johannesevangelium die Zerstörung des Tempels behandelt: „Da ergriffen die Juden das Wort und sagten zu ihm: Welches Zeichen lässt du uns sehen, dass du dies tun darfst? Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? Er aber meinte den Tempel seines Leibes.“ (Joh 2, 18-21).

Dennoch wird hier kein Wort über die physische Zerstörung des Tempels verloren. Dabei kann davon ausgegangen werden, dieses für alle Juden einschneidende Erlebnis hätte auch für Johannes die Erfüllung der Worte Jesu dargestellt. Offenbar stand der Tempel aber noch zu der Zeit, da Johannes sein Evangelium niederschrieb. Denn er bezieht es hier auf „den Tempel seines Leibes“, also die Auferstehung. So gehen Forscher davon aus, dass das Evangelium nach Johannes zwischen 68 und 70 entstanden ist. Eine weitere Bibelstelle führt der Papyrologe Carsten Peter Thiede an (vgl. Joh 5, 1-18). Hier wird die Heilung eines Kranken am Bethesdateich geschildert. Interessant dabei ist die Ortsangabe, die der Evangelist Johannes voransetzt: „Zu Jerusalem befindet sich am Schaftor ein Teich, der auf Hebräisch Bethesda heißt, mit fünf Säuleneingängen.“ Denn hier schreibt Johannes im Präsens. Dieser Teich und das Tor wurden jedoch bei der Zerstörung 70 n. Chr. ebenfalls vernichtet. Daher kann man davon ausgehen, beides existierte noch, als Johannes sein Evangelium schrieb. Hingegen ist das älteste erhaltene Fragment des Johannesevangeliums ein Papyrus und wird auf die Zeit zwischen 98 und 117 datiert, also in die Regierungszeit des Kaisers Hadrian.

Aber es ist zu bilanzieren, dass in die Wissenschaft der Papyrologie in den vergangenen zwei Jahrzehnten neue Dynamik gekommen ist. In zunehmender Weise werden althergebrachte Deutungs- und Datierungsmuster hinterfragt. Daher ist es gut möglich – ja sogar wahrscheinlich – zukünftig auf bisher falsch datierte und in Wahrheit bereits im ersten oder frühen zweiten nachchristlichen Jahrhundert geschriebene Papyri zu stoßen. Im Allgemeinen ist der Aussage des Kirchenhistorikers Eusebius von Caesarea zuzustimmen, welcher um 330 notierte: „Nachdem nun Markus und Lukas die von ihnen gepredigten Evangelien herausgegeben hatten, sah sich nach der Überlieferung schließlich auch Johannes, der sich ständig mit der mündlichen Predigt des Evangeliums beschäftigte, zur Niederschrift veranlasst, und zwar aus folgendem Grunde: Nachdem die zuerst geschriebenen drei Evangelien bereits allen und auch dem Johannes zur Kenntnis gekommen waren, nahm dieser sie, wie man berichtet, an und bestätigte ihre Wahrheit und erklärte, es fehle den Schriften nur noch eine Darstellung dessen, was Jesus zunächst, zu Beginn seiner Lehrtätigkeit, getan hatte.“

Die Glaubwürdigkeit der Evangelisten als Autoren

Wie sieht es aber mit dem Inhalt der Evangelien aus? Zwar sind sie sehr wahrscheinlich in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Tod Jesu entstanden. Jedoch sagt dies nicht zwingend etwas über die Wahrheitstreue des Inhaltes aus. Hier gilt es nach den Motiven zu fragen und nach der Art und Weise, wie die Evangelien geschrieben wurden.

Zunächst einmal ist festzustellen, die Evangelien sind sehr schlicht geschrieben. Man beschränkt sich da auf das Wesentliche. Zumal alle eigenwilligen Ausschmückungen und offensichtlichen Mythologisierungen fehlen, die man in anderen antiken Schriften findet. Bereits 1915 stellte der Altphilologe Clyde Weber Votaw fest, die Evangelien seien im Stil und Aufbau der „populären griechisch-römischen biographischen Literatur“ gehalten. Daher sollte man sich nicht zuletzt fragen, ob die christlichen Urgemeinden die Evangelien als „Viten“ erstellt hätten, wären sie nicht an der geschichtlichen Person Jesu interessiert gewesen. Nun ist das allein noch kein Beweis. Doch muss man sich die Frage stellen, was den Verfassern für ihre Überzeugungen als Lohn winkte: Kritik, Ächtung und das Martyrium. Hätten sie da fabuliert, hätte man erwarten können, sie würden stillhalten, Jesus zu verleugnen und das Ganze schnellstmöglich zu vergessen. Stattdessen spricht es für ihre Integrität, das Erlebte und Geschehene öffentlich zu machen – auch wenn es Folter und den Tod bedeutete.

Ein weiterer Punkt, der für die Evangelien spricht, ist der Umstand, dass diese sehr ehrlich wirken. Ein Beispiel: Am Kreuz schrie Jesus laut: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk. 15,34; Mt. 27, 46). Wenn doch alles nur ausgedacht wäre, wieso dann ein Satz wie dieser? Wirft er doch mehr Fragen auf, die wahrlich schwer zu beantworten sind. Auch der ganze Umstand der Kreuzigung – in der damaligen Zeit der schlimmsten Strafe für die niedersten Verbrecher und Sklaven – wirkt wenig schmeichelhaft auf die römische, griechische und jüdische Umgebung. Und auch die Jünger selbst werden oft in keinem guten Licht gezeigt. So ist das Bild von Petrus, welches Markus zeichnet, alles andere als schmeichelhaft. Und dabei ist er doch der Anführer. Und auch die anderen Apostel missverstehen Jesus wiederholt. So beispielsweise Jakobus und Johannes, die Plätze zur Rechten und Linken Jesu haben wollten und Jesus ihnen daraufhin eine Standpauke über Demut hält. So erscheinen die Jünger oft als Leute, die manchmal wirklich schwer von Begriff sind.

Als zweiter Kritikpunkt wurde aber auch immer wieder darauf hingewiesen, die Evangelien seien auf jeden Fall erst einige Jahrzehnte nach der Kreuzigung Christi verfasst worden. Bis dahin hätten sich die verschiedensten Fehler einschleichen können, denn vorwiegend wurde der Text ja mündlich weitergegeben. Wer garantiert also, dass hier dem einen oder anderen die Erinnerung nicht einen Streich gespielt hatte. Denn wie schnell vergisst man genau Zusammenhänge oder bringt etwas durcheinander. Dem kann entgegnet werden, mündlicher Tradierung von Informationen wurde in der weitgehend schriftlosen Welt der Antike ein ungleich höherer Wert beigemessen, als wir uns das in unserer heutigen Zeit voller Bücher, Zeitungen und dem Internet vorstellen können. Nicht umsonst galt das Auswendig-Lernen, das Rezitieren als wichtige Eigenschaft eines Erzählers. Es war nicht unüblich, dass Menschen ganze Texte oder Bücher im Gedächtnis hielten durch die Kunst des Memorierens. So war es unter jüdischen Schriftgelehrten nicht selten, das Alte Testament auswendig zu können.

Zudem war es Brauch, den Erzähler zu korrigieren, wenn er etwas falsch wiedergab. So konnte die Gemeinde durchaus korrigierend eingreifen. Demgemäß kann der mündlichen Überlieferung durchaus Glaubwürdigkeit zugesprochen werden. Darüber hinaus ist davon auszugehen, hierbei handelte es sich für die Autoren um Ereignisse, welche ihr ganzes Leben radikal umkrempelten. So kann man annehmen, die betreffenden Ereignisse um Jesus brannten sich ungleich stärker in ihr Gedächtnis ein, als dies bei weniger bedeutsamen Geschehnissen gewöhnlich der Fall ist. Untersuchungen haben ergeben: die Synoptiker unterscheiden sich in ihren Darstellungen um 10 bis 40 Prozent. Jedoch stimmen alle in den wesentlichen Punkten überein. Die Abweichungen finden sich vor allem in der Art der Beschreibung, wie etwas passierte – aber nicht, dass es passierte. Das wiederum spricht für eine authentische Überlieferungsform, wie der Rechtsgelehrten Simon Greenleaf von der Harvard Law School feststellte: „Es gibt genügend Diskrepanzen, um zu zeigen, dass sich die Autoren vorher nicht abgesprochen haben. Und gleichzeitig finden sich solche wesentlichen Übereinstimmungen, die zeigen, dass sie alle unabhängige Autoren desselben großen Vorgangs waren.“ Auch der deutsche Historiker Hans Stier bestätigt: die Übereinstimmung im Wesentlichen und die Abweichungen im Detail sprächen für die Glaubwürdigkeit der Evangelien, weil erfundene Berichte eher dazu neigen, gänzlich übereinstimmend und harmonisch zu sein.

Es ist also nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich, dass es sich bei den Autoren um Augenzeugen handelte. Auch wenn man bezweifeln sollte, die genannten Autoren hätten wirklich die Evangelien geschrieben – wozu es jedoch keinen Grund gibt; vielmehr spricht die älteste Tradition eben dafür. Die Evangelien wurden also alle in der ersten Generation nach der Kreuzigung verfasst. Am Maßstabe antiker Überlieferungstradition kann dies als topaktuell gelten. Und auch der Inhalt der Überlieferung kann als gesichert angesehen werden.

Gerade die Geschehnisse in den Evangelien werden in zunehmender Weise durch die Archäologie bestätigt. Vor allem im 20. Jahrhundert, aber auch im 21. Jahrhundert hat die Archäologie Erstaunliches zu Tage gefördert und viele Orte und Ereignisse, die in den Evangelien geschildert sind, gefunden beziehungsweise deren Existenz bestätigt. Und in der Tat gibt es keinen archäologischen Fund, der einer Beschreibung in den Evangelien widerspräche. Alle bisherigen Funde bestätigen indes die Glaubwürdigkeit und Genauigkeit der Schilderungen.

So wird das Evangelium nach Lukas beispielweise von der Archäologie immer wieder aufs Neue verifiziert in seinen akkuraten Beschreibungen. So schreibt Lukas beispielsweise, dass Lysanias um 27 n. Chr. Tetrarch von Abilene war (vgl. Lk 3,1). Lange Zeit werteten Wissenschaftler dies als Beweis, Lukas hätte keine Ahnung, wovon er schrieb. Wusste man doch, Lysanias war kein Tetrarch, sondern ein halbes Jahrhundert später der Herrscher von Chalcis. In jüngster Zeit fand man jedoch bei Ausgrabungen eine Inschrift, die besagt, Lysanias sei zur Zeit der Regierung des Kaiser Tiberius (14-37 n. Chr.) Tetrarch von Abylene bei Damaskus gewesen – genauso, wie es Lukas schrieb. Gleiches gilt für andere Zeitangaben im Evangelium nach Lukas. Sie konnten alle bestätigt werden, auch wenn man bei einigen zunächst annahm, sie seien falsch. Wenn also Lukas so genau bei den Zeitangaben gearbeitet hatte, wieso sollte man dann annehmen, er sei bei anderen Dingen nicht genauso sorgfältig vorgegangen?

Ein weiteres interessantes Beispiel ist die Volkszählung, die bei Lukas erwähnt wird, die Joseph und Maria dazu veranlasste, von Bethlehem nach Nazareth zu ziehen. Laut Lukas habe sie stattgefunden, als Quirinius unter Herodes dem Großen Statthalter von Syrien war. Das wirft zunächst einmal ein Problem auf, da Herodes im Jahre 4 starb, Quirinius aber erst im Jahre 6 die Herrschaft über Syrien übernahm. Hier klafft also eine zeitliche Lücke von zwei Jahren. Der Archäologe Jerry Vardaman entdeckte jedoch eine Münze, die Quirinius als Prokonsul von Syrien und Kilikien nennt für die Zeit von 11 v. Chr. bis in die Zeit nach Herodes Tod. Das bedeutet, dass es entweder zwei Stadthalter mit demselben Namen gegeben haben muss oder derselbe einfach zwei Amtsperioden Stadthalter von Syrien war.

An dieser Stelle sei im Besondern noch auf das vierte Evangelium hingewiesen, das Evangelium nach Johannes. Vor allem diesem wurde seit dem 19. Jahrhundert zunehmend immer wieder vorgeworfen, es sei als historische Quelle am geringsten einzuschätzen von allen vier Evangelien. Ein Beispiel hierfür wäre der deutsche Religionspädagoge Gerd Laudert-Ruhm, welcher noch 1996 behauptete, das Johannesevangelium „nehme aus verschiedenen Gründen eine Sonderstellung ein und (eigne) sich am wenigsten als historische Quelle.“ In das gleiche Horn bläst auch der US-amerikanische Theologe Edgar J. Goodspeed, wenn er beispielsweise in Bezug auf den Bethesda-Teich (Joh 5, 2f.) und dessen vermeintliche Nicht-Existenz kühn behauptet: „Man muss daran denken, dass Topographie und Chronologie mit das letzte war, was den Autor (Johannes) interessierte. Sein Kopf schwebte zwischen den Sternen. Er versuchte, die Stellung Jesu in einem spirituellen Universum und seine Beziehung zu den ewigen Wirklichkeiten zu bestimmen. Das waren Fragen, die ihn interessierten und absorbierten, nicht Reise-routen und Zeitpläne, so dass praktische, weltliche Fragen, die bei Markus, Matthäus und Lukas eine Rolle spielten, für seine Arbeit von geringer Bedeutung waren.“

Wie jedoch der Historiker Michael Hesemann in seinem Buch Jesus von Nazareth so treffend und stichhaltig aufzeigt, haben archäologische Befunde in den letzten Jahrzehnten die Existenz des Bethesda-Brunnens als jüdische Mikwe – ein kultisches Reinigungs-becken, welches vor dem Betreten des Tempels aufgesucht werden musste – zweifelsfrei nachgewiesen (vgl. Hesemann, Michael: Jesus von Nazareth. Archäologen auf den Spuren des Erlösers, Augsburg 2009, hier S. 152-174). In gleicher Weise verfährt Hesemann mit anderen Orts- und Zeitangaben im Johannesevangelium. Die allgemeine Detailtreue des vierten Evangeliums lassen letztlich nur zwei Schlüsse zu. Entweder der Autor hatte eine blühende Fantasie – oder er war ein Augenzeuge mit einem ausgezeichneten Gedächtnis.

Vor dem Hintergrund, dass alle überprüfbaren Angaben in besagtem Text stimmen, kann man davon ausgehen, dass letzteres der Fall gewesen ist. Unbestreitbar ist natürlich die symbolhafte Ausprägung des Evangeliums wie in keinem weiteren sonst. Nirgends finden sich so viele Metaphern oder tiefere Sinnzusammenhänge auf einer Metaebene in den Aussagen. Jedoch schließt das eine historisch exakte Darstellung der Ereignisse mitnichten aus. So stellte 2006 der US-Theologe Paul Anderson fest, das Johannesevangelium „sei viel näher am historischen Jesus, als die meisten Gelehrten seit gut einem Jahrhundert behaupten oder gedacht haben. (…) Vieles der Johannes-Tradition scheint authentisch und ist den Darstellungen Jesu bei den Synoptikern sogar überlegen, was weitreichende Konsequenzen für die Jesus-Forschung hat.“

(Fortsetzung folgt)

 
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