54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
Datenschutzerklärung | Zum Archiv | Suche




1. Mitteilungen der Redaktion
2. Meine Begegnung mit S.E. Erzbischof Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
3. My Time with His Excellency, Archbishop Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
4. Ma rencontre avec S.E. Mgr. Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
5. Mi encuentro con Su Excelentísimo y Reverendísimo Arzobispo Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
6. Il mio incontro con S.E. l´Arcivescovo Pierre Martin Ngô-dinh-Thuc
7. DECLARATIO
Das Turiner Grabtuch – ein Beweis für die Existenz Jesu? Teil I
 
Das Turiner Grabtuch – ein Beweis für die Existenz Jesu?

von
Christian Schumacher
Teil 1

Hat Jesus Christus wirklich existiert? Gab es wirklich diesen Zimmermann aus Nazareth, der wie das katholische Glaubenskenntnis sagt, „geboren aus Maria der Jungfrau, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“ wurde und „am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten“ ist? Zentrale Fragen, die beantwortet sein müssen. Dieser Frage nach der Existenz Jesu Christi in der Geschichte müssen notwendigerweise alle andern Fragen nachgeordnet sein. Seine Gottessohnschaft oder die Erlösung des Menschengeschlechts durch Ihn. Schon seit der Epoche der Aufklärung, der französischen Revolution und des Liberalismus begann dieser Zweifel langsam aber sicher über den Protestantismus und die liberale Theologie auch in katholische Kreise vorzudringen und durchseucht nun unsere Gesellschaft in zunehmender Weise. Eine Umfrage des INSA-Instituts von 2016 offenbart Erschreckendes. Nur noch 40 Prozent der Deutschen glaubt an die Gottessohnschaft Jesu. Mehr als ein Drittel sehen in Ihm lediglich einen sozialen Revolutionär. Selbst unter den Katholiken waren es nur 56 Prozent, die noch an eine Gottessohnschaft Jesu glauben. Dass Jesus Christus der Erlöser sei, der für unsere Sünden gestorben und auferstanden sei, glauben sogar nur noch 38 Prozent der sogenannten Katholiken. Eine andere Umfrage aus dem Jahr 2010 zeigt darüber hinaus, dass knapp 30 Prozent der erwachsenen Deutschen nicht einmal glaubt, dass Jesus wirklich gelebt habe, von den „Katholiken“ sind es immerhin 14 Prozent. Daher ist es gerade in diesen Zeiten geboten, nach Argumenten gegen diese negative Einstellung historischen Nihilismus zu suchen. An anderer Stelle habe ich mich schon in aller Ausführlichkeit mit der Frage nach der Historizität der Evangelien beschäftigt (EINSICHT Nr. 3 Mai 2020) und kam zu dem Ergebnis, das Neue Testament könnte authentischer nicht sein.

Nun möchte ich mich mit einem weiteren Artefakt aus dem Leben Jesu beschäftigen, das – vielleicht noch eindrücklicher – die geschichtliche Existenz Jesu beweist und darüber hinaus eine schrecklich präzise Geschichte des Leidens und Sterbens unseres Erlösers erzählt: Das Turiner Grabtuch! Ich hatte das große Glück, im Jahr 2015 nach Turin fahren und mir dort das heilige Leinen anzuschauen zu können, welches im Turiner Dom ausgestellt war. Als ich die Kirche betrat, war es, als würde man buchstäblich aus der hektisch-betriebsamen Welt hinaustreten. Das Kirchenschiff war in fast vollständige Dunkelheit gehüllt. Nur das Grabtuch vor dem Hauptaltar, welches dort in seiner vollen Länge in einem Glaskasten rechtwinklig zum Kirchenboden aufgestellt war, war in Licht getaucht. In der Kirche herrschte andächtige Stille. Als schließlich auch ich zur Glasvitrine treten und das Tuch nur aus wenigen Metern Entfernung betrachten durfte, war es mir, als bliebe die Zeit stehen. Dabei konnte ich zunächst kaum etwas auf dem Tuch ausmachen. Zuerst fielen mir die Blutflecke ins Auge. Handfest, dunkel und Zeugnis des gewaltsamen Todes jenes „Mannes auf dem Grabtuch“. Erst als sich meine Augen ans Licht gewöhnt hatten, konnte ich endlich jenes geisterhafte, transzendente Abbild wahrnehmen. Es zeigt den Gemarterten von vorne und in Rückansicht. Beschreiben lässt es sich indes nur sehr schwer. Es ist irgendwie unscharf-scharf. Das Abbild scheint sich im Nichts zu verlieren, gleichsam wie ein Schatten auf dem Tuch zu schweben. Und doch ging eine Aura von dem Bildnis aus, der man sich nicht entziehen konnte, das „Ecce Homo“ mit einer Intensität, die in meiner Erfahrung einmalig ist. Das Gesicht des Gemarterten schien mich direkt anzusehen, zu durchdringen. Sollte dieses Abbild wirklich von Menschenhand gemacht sein? Soll es wirklich eine Fälschung aus dem Mittelalter sein, wie es schon lange von Skeptikern angenommen und von der Radiokarbondatierung aus dem Jahr 1988 scheinbar belegt wird? Diese datiert das Grabtuch irgendwann zwischen 1260 und 1390. Schon lange wird über die Frage gestritten, ob das Tuch nun echt sei oder nicht. Seitdem das Tuch zur Mitte des 14. Jahrhunderts das erste Mal in Europa auftauchte, wird es von diesem Vorwurf begleitet. Und zunächst einmal scheint die Hypothese, dass es sich hierbei um eine Fälschung aus dem Mittelalter handelt, nicht abwegig. Die Geschichte des Grabtuchs ist schließlich auch erst seit 1349 dokumentiert, wo es im Besitz des französischen Rittes Geoffroy de Charny in Frankreich in einem Örtchen namens Lirey bei Troyes auftauchte. 1453 wurde es an Ludwig I. von Savoyen verkauft und gelangte nach Chambery, der damaligen Residenz der Herzöge von Savoyen. Dort entging es 1532 nur knapp der vollständigen Zerstörung durch einen verheerenden Brand in der Saint Chapelle, in welcher das Leinen aufbewahrt wurde. Im Jahre 1578 wurde es schließlich nach Turin gebracht, wo es seit 1694 in der Capella del Guarnini aufbewahrt wird.

Über dieses Leinen wurde in den letzten 120 Jahren eine nicht enden-wollende Diskussion geführt. Seitdem das Tuch am 28. Mai 1898 erstmals von dem Turiner Amateurfotografen Secondo Pia fotografiert wurde und jenes so lebensechte Negativ um die Welt ging, wurde nicht aufgehört über dem Leinen wissenschaftlicher und intellektueller Dreck auszukübeln. Denn wann immer die Sprache auf jenen Zimmermann aus Nazareth kommt, kann nicht sein, was nicht sein darf und ein geisterhaftes, bis heute nicht erklärbares, geschweige denn reproduzierbares Abbild des gekreuzigten und auferstandenen Christi ist selbst für den hartgesottensten Atheisten zu viel um es als echt anerkennen zu können.

Zunächst einmal die grundlegenden Daten. Das Tuch besteht aus ungefärbtem Naturleinen, ist 437 cm lang und 111 cm breit und entspricht der vor 2.000 Jahren im Nahen Osten gängigen Herstellungspraxis von Leinwand. Darüber hinaus sind die großen Brandlöcher zu erkennen, die bei dem Brand von 1532 entstanden sind. Ebenso sind Wasserflecken auf dem Tuch zu erkennen, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sein müssen, da sie unterschiedliche Symmetrien aufweisen. Das lässt darauf schließen, dass das Tuch bei jedem Wasserschaden anders gefaltet gewesen sein muss. Schließlich sind noch jene L-förmig angeordneten Löcher („Pokerholes“) zu erwähnen. Sie sind zweifelsfrei eine der ältesten Spuren auf dem Leinen und offenbar vor 1516 entstanden. In diesem Jahr fertigte Albrecht Dürer seine berühmte Grabtuchkopie an. Auf diesem sind die markanten Köcher deutlich zu erkennen. Wie diese Löcher entstanden sind, ist unklar. Eine Theorie besagt, dass es sich dabei eigentlich um Säurelöcher handelt, die durch Lampenöl, welches bei einer Besichtigung des Tuches auf dasselbe tropfte, entstanden sein könnten. Lampenöl wird im Laufe der Zeit zu Fettsäure.

Die verborgene Geschichte des Grabtuchs

Bevor ich mich den wissenschaftlichen Argumenten für die Echtheit des Grabtuchs widme, soll zunächst ein Blick auf die wechselvolle Geschichte des Grabtuchs geworfen werden. Zwar tauchte es erstmals zur Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa auf, doch gibt es belastbare historische Indizien in alten Schriften, die es ermöglichen, den Weg des Grabtuchs durch die Jahrhunderte zurückzuverfolgen, weit über das Jahr 1353 hinaus, in welchem das Leintuch erstmals dokumentarisch durch Pilgermedaillen nachgewiesen werden kann. Im Jahr 1349 wendete sich ein französischer Ritter, namens Geoffroy de Charny an Papst Clemens VI. in Avignon und ersuchte ihn um einen Ablass für seine Kirche in dem französischen Dörfchen Lirey, dem Stammsitz seiner Familie. Ein kleines Dorf in der Champagne, südlich von Troyes, etwa auf halber Strecke zwischen Straßburg und Paris. Er besäße, so schrieb er dem Heiligen Vater, ein Leintuch, auf welchem die „Gestalt oder vielmehr ihre Abbildung (…) unseres Herrn Jesus Christus“ (zit. SILIATO, Maria Gratia: Und das Grabtuch ist doch echt. Die neuen Beweise, München 1999, hier S. 252) zu sehen sei. Dieses wolle er ausstellen, um es Pilgern zeigen zu können. Bezeichnenderweise ist in dem Schreiben nichts darüber zu lesen, wie Geoffroy in den Besitz dieses Tuchs kam. Woher er also dieses beeindruckende Grabtuch, welches schnell über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt wurde und tausende Pilger anlockte?

Dazu ist der Blick in den zum Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen Codex Pray zu werfen. Dieser wird als kostbarer Schatz der ungarischen Nationalbibliothek in Budapest verwahrt. Der Codex, der 11192/95 geschrieben wurde, erzählt unter anderem von einer Reise eines ungarischen Botschafters an den byzantinischen Kaiserhof in Konstantinopel um das Jahr 1150. Grund dieser Reise war das Vorhaben, die beiden Herrscherhäuser durch eine Heirat zu verbinden. Bei dieser Gelegenheit zeigte Kaiser Manuel II. den Besuchern ein großes Leinentuch, welches in Byzanz als Sindon, als Grabtuch des Herrn Jesu Christi verehrt wurde. Was den Codex aber so wertvoll macht, ist eine Zeichnung, welche vermutlich von einem Gefolgsmann des ungarischen Botschafters, zumindest auf dessen Beschreibung hin angefertigt worden war. Die Abbildung sieht dem Turiner Grabtuch verblüffend ähnlich. Deutlich zu erkennen ist das Fischgratmuster des Tuchs und auch die L-förmigen Brandlöcher/Säurelöcher sind auszumachen. Auch die Gestalt des Mannes auf dem Grabtuch ist verblüffend ähnlich. Ebenso wie auf dem Turiner Grabtuch wirkt die Gestalt seltsam verrenkt und steif. Darüber hinaus fehlen auf der Zeichnung die Daumen des „Mannes auf dem Grabtuch“, die auf dem Turiner Leinen ebenfalls nicht zu sehen sind. Die Übereinstimmung in diesen Punkten lässt schließlich keinen anderen Schluss zu, als dass das Sindon von Konstantinopel und das Grabtuch von Turin ein und dasselbe Tuch sind. Dieses Sindon – auch Mandylon genannt – wurde in Konstantinopel seit 944 aufbewahrt, war Eigentum des Kaisers und wurde nur bei besonderen Anlässen und wichtigen Besuchern gezeigt. Die meiste Zeit wurde es in der Kirche in den Blachernen aufbewahrt. Es galt als größter Schatz der byzantinischen Kaiser, bis es im Jahre 1204 während des vierten Kreuzzuges schließlich unter ungeklärten Umständen verschwand. Die Kaiser hatten das Grabtuch wiederum aus einer Stadt namens Edessa, viele tausend Kilometer nördlich von Konstantinopel in der heutigen Türkei gelegen, nach Konstantinopel überführen lassen. Dort war das Leinen während einer Belagerung im Jahre 544 eingemauert in der Stadtmauer gefunden worden und seither als „nicht von Menschenhand gemaltes Bild“ – dem Acheiropoietos – des Erlösers verehrt worden. Wie das Tuch allerdings dorthin kam, ist nur noch theoretisch nachzuvollziehen. Immerhin wäre aber die Geschichte des Grabtuchs Jesu bis in die Mitte des 6. Jahrhunderts zurückzuverfolgen – und womöglich darüber hinaus.

Letztlich fußt der folgende Versuch, dem Weg des heiligen Grabtuchs durch die Jahrhunderte nachzuspüren auf der Annahme, das Turiner Grabtuch und jenes Grabtuch aus Konstantinopel seien identisch. Wohl gemerkt, eine überzeugende Annahme, der nichts entgegenspricht und der sich nicht wenige Kunsthistoriker und Historiker, die sich mit diesem Thema beschäftigten und beschäftigen, angeschlossen haben. 1981 äußerte beispielsweise der Kunsthistoriker Hans Belting die Vermutung, dass das Leichentuch aus der Blachernenkirche in Konstantinopel „wahrscheinlich (…) identisch mit dem seit 1353 im Westen nachweisbaren Turiner Leichentuch“ war. Derselben Ansicht ist auch der Kunsthistoriker Ernst Kitzinger, der 1979 in einem Interview erklärte: „Denn wir, eine sehr kleine Gruppe von Experten rund um die Welt, glauben, dass das Grabtuch von Turin wirklich das Leichentuch von Konstantinopel ist. Sie wissen, dass die Kreuzfahrer im 13. Jahrhundert viele Schätze mit nach Europa gebracht haben, und wir glauben, dass das Grabtauch einer von ihnen war.“ (zit. nach WESSELOW, Thomas de: Das Turiner Grabtuch und das Geheimnis der Auferstehung, München 2013, hier S. 227). Und für das Mandylon aus Edessa fasst es der evangelische Neutestamentler Bernd Kollmann folgend zusammen: „Allgemein weisen Fachleute darauf hin, dass es für das Mandylion von Edessa, was die Beschaffenheit und Entstehungsart angeht, in der gesamten Kunstgeschichte nur eine einzige wirkliche Analogie gibt, nämlich das Grabtuch von Turin.“ (zit. RIESNER, Rainer: Von Jerusalem nach Edessa? Ein möglicher Weg des Grabtuchs Jesu im 1. bis 3. Jahrhundert, in: Diez, Karlheinz u.a. (Hg.): Das Christusbild. Zu Herkunft und Entwicklung in Ost und West, Würzburg 2016, S. 360ff., hier S. 360)

Aber wo fängt die Geschichte eigentlich an? Offenbar an jenem Freitag im April des Jahres 30, als Jesus gekreuzigt und provisorisch bestattet wurde. Nach der Auferstehung Jesu von den Toten wird alles, was mit Ihm in Berührung gekommen war, wie ein Schatz sorgsam gehütet worden sein. Eine mögliche Spur des Grabtuches finden wir zur Mitte des 2. Jahrhunderts. Ein erhaltenes Fragment eines judenchristlichen Evangeliums, welches unter anderem 392 von Hieronymus in seiner Schrift De viris illustribus zitiert wird. Eine Stelle des im 2. Jahrhunderts entstandenen Textes ist aufschlussreich. „Dominus autem cum dedissset sindonem seruo sacerdotis, iit ad Iacobum et apparuit eirursumque post palulum…“ (zit. SILIATO 1999, S. 368). Hier wird das Grabtuch unmittelbar mit dem Herrenverwandten Jakobus in Verbindung gebracht. Das Grabtuch verblieb also die ersten Jahre und Jahrzehnte vermutlich in Jerusalem. Dann aber kam der erste Jüdische Krieg und mit ihr die Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. In einem Dokument, welches auf dem zweiten Konzil von Niccäa vorgelegt wurde, wird von der Flucht der Judenchristen aus Jerusalem berichtet, welche zwei Jahre vor der Zerstörung Jerusalems, also 68 n. Chr., die Stadt Richtung Syrien verließen, wobei sie „ihre wertvollsten Dinge, Bilder und heiligen Gegenstände mitnahmen.“ (zit. SILIATO 1999, S. 152) Es ist im Übrigen nicht verwunderlich, dass über die erste Zeit, in der das Tuch in Jerusalem weilte, keinerlei Tradition besteht. Schließlich waren die allermeisten Christen in Jerusalem bekehrte Juden und die jüdischen Vorschriften und Gebräuche noch allgemein präsent. Eine scharfe Trennung zwischen Juden und Christen wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Im Judentum gilt aber alles, was mit einem Toten in Berührung kam als unrein. Und ein Grabtuch ist wohl das unreinste, was sich ein orthodoxer Jude vorstellen kann. Wenn also publik geworden wäre, dass sich innerhalb der heiligen Stadt ein Grabtuch eines Toten mit dessen Blut darauf befand, es wäre sicherlich konfisziert und zerstört worden. Das wollten die ersten Christen aber um jeden Preis verhindern, da ihnen das Tuch unglaublich kostbar erschien. „Wer in unserem Jahrhundert skeptisch ausführliche Dokumentationen über die ersten Jahre des Tuches verlangt, hat wohl nicht recht begriffen, in welcher Spannung die leben mußten, die es aufbewahrten.“ (SILIATO 1999, S. 157) Nachdem die Christen nach dem Aufstand 70 n. Chr. wieder nach Jerusalem zurückgekehrt waren, kam vielleicht auch das Grabtuch wieder in die Stadt. Zumindest ist die Anwesenheit einer judenchristlichen Gemeinde unter der Leitung eines Herrenverwandten in Jerusalem nach dem Krieg bezeugt. Vielleicht lagerte es aber immer noch an den Ufern des Toten Meeres. Rund ein halbes Jahrhundert später brach aber ein erneuter Aufstand in Jerusalem los, der Bar-Kochba-Aufstand von 132/36. Daraufhin entschied Kaiser Hadrian an den Juden schreckliche Rache zu nehmen und ließ Jerusalem zerstören, sodass kein Stein auf dem anderen blieb. Das bedeutete aber auch das Aus für die Christen in der Stadt, die sich nun – total verängstigt von der Brutalität des Kaisers – ein neues, vom Ort des Unglücks entferntes Zuhause suchen mussten. Das Grabtuch wird mit ihnen gegangen sein. Und dieses Mal für immer.

Aus Jerusalem geflüchtet, musste sich die christliche Gemeinde eine neue Heimat suchen. Und so ging das Grabtuch auf Wanderschaft. Da die Judenchristen einen Ort suchten, an dem sie sich gefahrlos niederlassen konnten, sicher vor römischen Zugriff und unter Glaubensgenossen, wird die Reisegesellschaft sehr schnell in einer Stadt namens Edessa gelandet sein. Edessa heißt heute Ufra und ist ein kleines formloses Dorf im Norden der Türkei, in dem es nichts von Wert zu sehen gibt. Vor zwei Jahrtausenden aber war es die Hauptstadt des kleinen Königreiches Osrohene. Dieses hatte sich im Jahr 132 v. Chr. unabhängig gemacht und lag zwischen dem Römischen Imperium im Westen und dem persischen Reich im Osten an einer der wichtigsten Handelsstraßen der damaligen Zeit. Außerdem sprach man in Edessa hebräisch und es gab wohl schon Christen in der Stadt. Zumal sich das noch junge Christentum vor allem entlang der Handelsstraßen des Imperiums ausbreitete. Da Osrohene allgemein als das erste christliche Königreich der Welt gilt, wird auch bei der Ankunft der christlichen Flüchtlinge ein den Christen wohlgesonnenes Klima geherrscht haben. Zwar nahmen die Könige Osrohenes erst im Jahre 170 den christlichen Glauben an, jedoch ist davon auszugehen, dass um die Jahre 130/40 schon eine starke christliche Gemeinde existierte. Eine gute Voraussetzung dafür, hier eine neue Heimat zu finden. Wo, wenn nicht dort war das Grabtuch Jesu in Sicherheit? Für diese Theorie spricht auch die sogenannte Doctrina Addai („Abgar-Legende“), die legendarisch den Weg des Leinens von Jerusalem nach Edessa nacherzählt. In der Abgar-Legende, die erstmals zu Beginn des 4. Jahrhunderts schriftlich fixiert wurde, ist der Hinweis zu vernehmen, dass mit der Missionierung Edessas – durch den Apostelschüler Addai unter König Abgar V. von Edessa in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts auch ein Christus-Bild nach Edessa kam. Der Ursprung der Abgar-Legende geht wohl bis auf die Wende vom 3. in das 4. Jahrhundert zurück. Osrohene war zumindest schon früh dem Christentum offen. Laut dem Kirchenhistoriker Eusebius (4. Jh.) gab es dort um 190 schon 18 Ortsbischöfe. Und auch die 12. Legion, welche sich aus dem Gebiet um Edessa rekrutierte, bestand bereits unter Mark Aurel (161-180) zu einem erheblichen Teil aus christlicher Soldaten.

Schon sehr früh wird in der Tradition eine enge Verbindung zwischen dem Apostel und Herrenbruder Jakobus und dem Aposteljünger Addai und dadurch Edessa überliefert, was dafürspricht, dass das Tuch ursprünglich von der Familie Jesu aufbewahrt wurde und danach nach Edessa ging. Ein apokrypher Text, der spätestens im dritten, womöglich auch schon Ende des zweiten Jahrhunderts entstand und im koptischen Codes Tschakos enthalten ist, der sogenannten „Ersten Apokalypse des Jakobus“, ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Demnach hätte der auferstandene Christus den Herrenbruder unterwiesen: „[Du sollst] dieses [verbergen], was ich gesagt habe, und es wird in dir sein und du wirst darüber schweigen. Du wirst es aber, wenn du aus dem Fleisch herauskommst, dem Addai enthüllen.“ (zit. RIESNER 2016, S. 388) Jakobus hat also dem Addai das Grabtuch anvertraut und dieser hat es mit nach Edessa genommen, als er dort zur Mission um das Jahr 100 war, vielleicht auch schon etwas früher. Wenn man noch hinzunimmt, dass sich die Herrenverwandten durch Mission von Palästina nach Osten verbreitet haben, würde eine solche Bewegung spätestens nach 70 durchaus Sinn ergeben. Wie viel Wahrheit in dieser Legende steckt, darüber ist sich die Forschung bis heute noch nicht einig. Wohl aber wird das Tuch irgendwann zwischen dem Jahre 70 und dem Ende des zweiten Jahrhunderts nach Edessa gekommen sein. Interessanterweise fängt gerade in Edessa um die Zeit der Flucht der christlichen Gemeinde aus Jerusalem nach dem Bar-Kochba-Aufstand 132/36 die Verehrung des Eikon Acheiropoietos, des „nicht von Menschenhand geschaffene Bildnis“ Christi an, so will es zumindest die Überlieferung. Interessanterweise passt die Beschreibung des Bildes genau zum Antlitz, welches das Turiner Grabtuch ziert. Auch dass man das Bildnis als nicht von Menschenhand geschaffen bezeichnete, lässt an das Grabtuch aus Turin denken. Wenn es also dasselbe Tuch war, tritt das Turiner Grabtuch erstmals in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts in Edessa ins Licht der Geschichte. Wie es dort hinkam, ist wie gesagt nur Spekulation, doch ist es nur billig anzunehmen, jene christlichen Flüchtlinge haben es aus der zerstörten Heiligen Stadt mitgebracht als ihren wertvollsten Besitz.

Die Christen kamen also von einer jüdisch geprägten Umgebung in ein Königreich, deren Herrscher dem Christentum wohlgesonnen waren. Nun war endlich Schluss mit dem Versteckspiel um das Grabtuch. Jetzt konnte es den Gläubigen erstmals öffentlich zur Verehrung gezeigt werden. Das Grabtuch war nicht mehr ein Hort der Unreinheit und Erinnerung an die Kreuzigung Jesu, sondern ein heiliger Gegenstand, ein Wunder geworden. 75 Jahre lang herrschte Frieden und Wohlwollen. Das Grabtuch war Magnet für Pilger aus Osrohene und darüber hinaus. Doch leider war damit im Jahr 212 Schluss. In diesem Jahr wurde Osrohene von seinem großen Nachbarn, dem Römischen Imperium erobert, das Geschlecht der Agariden gestürzt und Edessa ein römischer Militärstützpunkt. Zu dieser Zeit verschwand auch das wundersame Acheiropoieton aus der Geschichte. Es wird in späteren Werken auf nicht mehr existente Dokumente verwiesen, die berichten, dass noch während der Belagerung der Stadt ein Bischof, dessen Name nicht überliefert ist, auf die Festungsmauer stieg und das Acheiropoieton in eine Mauernische legte und diese anschließend zumauern ließ. Diese Aktion wurde offenbar in größter Eile und unter Geheimhaltung ausgeführt, da sich kurze Zeit später die Spur des Leinens verliert. Wir wissen es nicht, aber es ist gut vorstellbar, dass vielleicht der unerwartete Tod des letzten Lebenden der verschworenen Gemeinschaft, diesen das Geheimnis um das Tuch in der Mauernische mit ins Grab nehmen ließ. Vielleicht sind sie auch allesamt der Belagerung zum Opfer gefallen. Man weiß es nicht. Aber für die nächsten drei Jahrhunderte wusste niemand mehr um das Leinen, welches „nicht von Menschenhand gemacht“ war. Für die Christen in Edessa brach unterdessen eine schlimme Zeit an. Im ganzen Imperium war das Christentum mittlerweile Verfolgungen ausgesetzt, die nun auch nicht mehr vor den Grenzen des ehemals ersten christlichen Königreichs der Geschichte Halt machten.

Dann, nach der letzten großen Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian, die die Märtyrerlisten füllte, war endlich Stille eingekehrt. Nachdem das Christentum von Kaiser Konstantin legitimiert und gefördert wurde, begann der Siegeszug des Kreuzes im ganzen Imperium. Und auch in Edessa tauchten die Christen wieder aus dem Untergrund auf. Die Legende vom Grabtuch konnte aber auch von der Zeit nicht vollends auslöscht werden. In Edessa blieb die schmerzliche Erinnerung über den Verlust in den Jahrhunderten lebendig. So berichtet die Äbtissin Egeria, welche im Jahre 388 das Heilige Land besuchte, davon, wie sie nach Edessa kam und ihr dort sogar das Tor gezeigt wurde, durch das das heilige Bildnis in die Stadt gekommen sein soll. Wo es aber sei, konnte ihr niemand beantworten. Selbst ins ferne Georgien war die Kunde vom heiligen Grabtuch gedrungen. 325 berichtete der Historiker Niaphoris von jenen Grabtuch Christi, welches nach der Kreuzigung sorgsam verwahrt, dann aber versteckt wurde und niemand wisse, wo es sich befinde. Mit dem sechsten Jahrhundert wiedererstarkte das persische Reich unter Chosrau I. und wandte sich alsbald gegen seinen Erzfeind, das Römische Imperium im Westen. 544 stand schließlich eine riesige Streitmacht vor den Toren Edessas und suchte die Mauern zu überwinden. Und während die Perser gegen die Mauern der Stadt anrannten und die Bewohner Edessas verzweifelt versuchten, die Mauern zu halten, hatte – so wird es überliefert – der Bischof der Stadt, Eulalios, einen Traum, das Acheiropoieton sei in der Stadt. Nun wurde fieberhaft nach dem heiligen Antlitz gesucht, erhoffte man sich davon doch den Sieg. Schließlich fand ein Arbeiter über dem höchsten Tor der Stadt einen sorgsam zugemauerten Hohlraum, der unter seiner Spitzhacke hallte. Das Versteck wurde geöffnet und darin lag zusammengefaltet ein altes Leinentuch und darauf das heilige Antlitz. Man hatte das Acheiropoieton in höchster Not wiedergefunden. Voller Freude über die Entdeckung zog eine große Schar von Bürgern und Soldaten Psalmen singend aus der Stadt und trug das Grabtuch in den Himmel gestreckt vor sich her. Die heidnischen Perser beobachtete diese Prozession voller Misstrauen, witterten sie dahinter doch eine kluge List des Feindes.

Wie uns aus einem Bericht eines Zeitgenossen, dem syrischen Anwalt und kaiserlichen Präfekten von Antiochia, Euagrios Scholastikos (geb. um 530) über die Belagerung Edessas bekannt ist, drehte nun auch plötzlich der Wind und steckte das Lager der Perser in Brand. Seiner Kriegsmaschinen und der Siegesgewissheit beraubt, gab Chorsau I. auf und zog sich zurück. Das „theoteuktos eikon“, wie es Scholastikos in seinem Bericht bezeichnet, hatte die heidnischen Perser in die Flucht geschlagen. Im darauffolgenden Jahr wurde der Bau einer großen Kirche in Edessa von Kaiser Justinian beendet, die er Hagia Sophia nannte, gleich der großen Kirche in Konstantinopel. In dieser Basilika wurde fortan das Grabtuch in einem kostbaren Schreib aufbewahrt. Das Tuch war so gefaltet, dass nur das Antlitz zu sehen war. Ein Grund dafür warum in den Quellen immer nur von dem heiligen Antlitz geredet wird und nicht von einem Grabtuch. Die Faltspuren auf dem Turiner Grabtuch machen überdies deutlich, dass es wirklich einmal in dieser Art gefaltet gewesen sein muss. Dass es sich bei dem Acheiropoieton aber um das Grabtuch von Turin handelt, geht aus einem alten syrischen Text hervor, der im Jahr 544 in Edessa verfasst und im Jahr 950 von einem Arzt namens Smera in Rom ins Lateinische übersetzt wurde. Demnach war auf dem wieder aufgefundenen Leinen nicht nur das Antlitz Christi abgebildet, „sed totius corporis figuram cenere poteris“ (sondern die vollständige Gestalt des Körpers). Interessant ist dabei auch, dass seit der Wiederentdeckung des Grabtuchs im Jahr 544 eine Vereinheitlichung der Ikonographie des heiligen Antlitzes stattfand. Wurde Christus bis dahin zumeist im hellenistischen Stil einer griechischen Gottheit, bartlos und mit jugendlichem Angesicht abgebildet, hatten fortan alle Darstellungen in der ganzen byzantinischen Welt eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Grabtuch. Die Haare waren lang und in der Mitte gescheitelt. Jesus trug nun einen Bart. Auffällig dabei: die Ohren, der Hals und die Schultern waren kaum zu erkennen. Ebenso waren die Augenbrauen von leichter Asymmetrie. Genauso wie auf dem Grabtuch.

Die öffentliche Verehrung des Grabtuches kam mit dem Jahr 638 an sein abruptes Ende. In diesem Jahr eroberte die junge Religion des Islams (Mohammed war zwei Jahre zuvor gestorben) Edessa. Zwar handelte die Stadt eine Kapitulation aus und durfte auch zukünftige frei ihre Religion ausüben. Öffentliche Bezeugungen, wie Glockengeläut oder sichtbar angebrachte Kreuze waren aber nicht mehr erlaubt. Genauso wenig wie die Ausstellung von Bildnissen, da dies im Islam als blasphemisch gilt. Es wurde zwar weiterhin in der großen Kirche in Edessa aufbewahrt – jedoch wieder im Verborgenen. In dieser Zeit tauchte auch erstmals der Begriff Mandil (Tuch) in Verbindung mit dem Grabtuch auf. Aus diesem wurde im Laufe der Zeit Mandylon.  Und so senkte sich für weitere drei Jahrhunderte der Schatten der Geschichte über das Grabtuch Christi. Nachdem das byzantinische Reich den Bildersturm überstanden hatte, wiedererstarkte es und brachte seinen Feind, den Islam, vielerorts in Bedrängnis der zu dieser Zeit durch innere Kriege geschwächt war. Im Jahr 942 war es schließlich so weit: das byzantinische Reich setzte dazu an, Edessa zurückzuerobern. Die Chancen standen gut und der Kalif machte Friedensvorschläge. Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos erklärte seine Bereitschaft zur Verhandlung. Kernpunkt seiner Forderung war die Herausgabe des Acheiropoieton, welches seit den Tagen des großen Kaisers Justinians in der Hagia Sophia Edessas aufbewahrt würde. Da die Byzantiner dem Tuch offenbar einen so großen religiösen und emotionalen Wert beimaßen, der alle politischen und strategischen Überlegungen bei Weitem überwog – in der Tat war Edessa in diesen Tagen strategisch nicht mehr von Wichtigkeit –, war es für den Kalifen und seine Berater auch noch möglich, aus den Verhandlungen Kapital zu schlagen, obwohl sie militärisch unterlegen waren.

Die Araber forderten den Abzug der byzantinischen Truppen, eine Garantie, künftig Edessa nicht mehr anzugreifen, die Auslieferung von 300 jungen arabischen adligen Gefangenen und die unverschämt hohe Summe von 12.000 Silberschillingen. Und sie bekamen alles zugesprochen. Das Mandylon ging hingegen nach Konstantinopel. Die Christen in Edessa selbst hatte indes niemand gefragt. Begeistert werden sie wohl nicht gerade gewesen sein, ihr Acheiropoieton verloren zu haben. Dafür zumindest spricht, dass zunächst versucht wurde, den Gesandten aus Konstantinopel eine Fälschung unterzuschieben, was natürlich nicht funktionierte. Schließlich ist es bis heute unmöglich, eine vernünftige Kopie des Grabtuches herzustellen. In den Archiven des Vatikan lag jahrhundertelang unentdeckt eine verstaubte alte Handschrift, die uns über die Ankunft des Grabtuchs in Konstantinopel Auskunft gibt. In ihr wird ein gewisser Gregorius erwähnt, Archidiakon und Referendar der Hagia Sophia in der kaiserlichen Stadt. Dieser war der Hüter des Leinens auf der Überfahrt von Edessa nach Konstantinopel. Nachdem ihn die aufgebrachte Bevölkerung Edessas noch bis an die Ufer des Euphrat verfolgt und Verwünschungen gegen ihn ausgestoßen hatte, machte Gregorius auf der Heimreise einen längeren Halt in einem alten Kloster, welches auf dem Weg lag. Hier hatte er erstmals die Möglichkeit, das Leinen genauer zu untersuchen. Was er entdeckte, hat sicherlich großen Eindruck auf ihn gemacht. Als er den Schrein im Halbdunkel einer Zelle des alten anatolischen Klosters öffnete, konnte er das Tuch erstmals auseinanderfalten. Es war über vier Meter lang und auf ihm war nicht nur das heilige Antlitz, sondern der ganze Körper in der gleichen geisterhaften Gestalt abgebildet. Was für eine Entdeckung. Er bewahrte Stillschweigen, faltete das Tuch wieder zusammen und setze seine Reise fort. Interessant ist, die verrenkte Haltung des Abbilds auf dem Tuch, bedingt durch die bereits am Kreuz eingetretene Leichenstarre, ist auch den Zeitgenossen nicht unbemerkt geblieben. So wirken die Arme ungewöhnlich lang, wohingegen das linke Bein kürzer aussieht als das rechte. In Byzanz, nachdem das Grabtuch dort angekommen war, glaubte man daher urtümlich, Jesus hätte ungleich lange Beine gehabt und habe daher gehinkt. Deshalb ist die Fußstütze auf orthodoxen Kreuzen auch nicht gerade, sondern schräg, nach rechts geneigt, dargestellt.

 
(c) 2004-2018 brainsquad.de