54. Jahrgang Nr. 6 / September 2024
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1. Katholiken in den Vereinigten Staaten von Amerika
1. USA
2. Ukraine: Gesetzesentwurf
3. Tradition versus Postmoderne
4. Die schockierende Wahrheit
5. Gaza – des Dramas letzter Akt: töten oder vertreiben
6. Einseitige Schuldzuweisungen
7. Zwei fromme Frauen von großer poetischer Kraft
8. Buchbesprechung
9. Naturaufnahmen als Titelbilder in der EINSICHT ?
10. Mitteilungen der Redaktion
11. Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten...
Nach Osten, der Sonne entgegen
 
Nach Osten, der Sonne entgegen
Eine Weihnachtsgeschichte

von Gregor Fernbach
aus: CRISIS Nr. 6, Herbst 2023

Nach dem Durchbruch der 4. Armee westlich von Tichwin zogen sich die deutschen Truppen hinter den Fluss Wolchow zurück; am 9. Dezember nahmen sowjetische Truppen Tichwin ein und zerschlugen am 16. Dezember die deutsche Garnison in Bolschaja Wischera.

Einer der auf deutscher Seite kämpfenden Soldaten war der 24jährige Unteroffizier Karl Freyer aus Regensburg. Beim Rückzug seiner Einheit wurde diese von Rotarmisten aufgerieben. Die deutschen Landser fielen, insofern sie sich nicht, wie Karl Freyer und einige seiner Kameraden, in den Wald flüchten konnten. Seit fünf Tagen lief der junge Soldat Richtung Westen. Anfangs noch halbwegs bei Kräften, doch zusehends schwächer werdend und nicht mehr lange in der Lage, der klirrenden Kälte des russischen Winters zu trotzen. Seine Füße spürte er kaum noch, seine Hände befanden sich tief in die Ärmel gezogen, um der Erfrierung zu entgehen. Wie lange konnte er dieser Kälte noch trotzen? Tage? Stunden?

Nachdem er lange einen nicht enden wollenden Birkenwald durchwandert hatte, sah er aus dem Wald tretend in einer kleinen Senke der vor ihm liegenden steppenartigen Weite, ein kleines, mit einer dicken Schneeschicht bedecktes Holzhaus vor sich.

Der Soldat pirschte sich – überlegend, was ihn dort wohl erwarten möge – an das Holzhaus heran. Alles schien ruhig und friedlich zu sein. Es waren weder Spuren von Menschen im Schnee noch Geräusche oder Stimmen aus dem Inneren zu hören. Langsam ging er vorsichtig einmal um das Haus, um dann durch die Hintertüre, die nicht verschlossen war, das Gebäude zu betreten. Das Haus schien leer, die Spuren einer raschen Flucht der Bewohner waren deutlich zu erkennen: Töpfe und Kleidungsstücke, Werkzeuge und andere Dinge lagen verstreut umher. Doch das Wesentliche war: In einer Ecke des Wohnraumes stand ein Ofen und daneben lag Holz. Allein der Gedanke an ein prasselndes Feuer ließ den Landser jegliche Angst verlieren und er machte sich rasch daran den Ofen anzuheizen. Wenige Minuten später breitete sich bereits eine wohlige Wärme im Raum aus. Im kalten hinteren Teil des Hauses fand Karl einen Krug gepökeltes Fleisch und einen Laib Brot. Mehr hätte er sich in diesem Moment gar nicht erträumen können. Und so aß er, brühte mit Kräutern noch einen Tee über dem Ofen und fiel kurze Zeit später bereits gesättigt und warm in einen tiefen Schlaf.

Währenddessen fegte draußen der winterliche Sturm. Es schien, als seien die alten Winterriesen aus den nordischen Erzählungen erwacht und wütend über den tobenden Krieg brausten sie über den Wäldern und Lichtungen der Ebene dahin. Im Traum war der junge Karl in diesem Moment weit entfernt von Krieg und Tod, schlenderte stattdessen an der Porta praetoria vorbei, hinunter zur Donau.

Doch kam er dort nicht an: stattdessen wurde er durch ein Geräusch aus dem Schlaf gerissen; Karl war gleich wieder Soldat, griff zu seinem Karabiner sprang auf, und riss denselben hoch. Der Schreck fuhr ihm durch die Glieder, denn er schaute genau in den Lauf eines anderen Gewehres, eines Gewehres russischer Bauart. Dann erst wurde ihm bewusst, dass ein junger russischer Soldat vor ihm stand und auf ihn zielte. So standen die beiden Männer sich angespannt und schnell atmend gegenüber, wie zwei Raubtiere zum Angriff bereit. Karl schien es, als stünden sie bereits eine Ewigkeit so da, wenngleich es sich nur um Sekunden gehandelt hatte. Ein Gedanke ging dem Unteroffizier durch den Kopf: Er oder ich! Das Atmen der beiden Soldaten wurde ruhiger und langsamer. Doch ihre Körper blieben angespannt wie die Drahtseile der Regensburger Eisenbrücke. Es war ein Duell wie zu Puschkins Zeiten, eine Spannung, an deren Ende der Tod wartet. Karl wurde sich bewusst, dass er nun handeln musste, und der ihm gegenüberstehende Russe schien so wenig wie er den Glauben daran zu haben, dass beide Landser diese Nacht überleben könnten. Karl dachte an seine Lieben daheim, dann sprach er in Gedanken das Vaterunser, in der festen Überzeugung, nach dem „Amen“ die Situation durch einen Schuss zu beenden. ,Er oder ich‘, dass schien das Ende zu sein. Doch als er die Worte ,… des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes‘ in Gedanken gesprochen hatte, vernahm er plötzlich wimmernde Laute. Waren es die Geräusche einer kleinen, hungrigen Katze? Er überlegte einen Moment, die Spannung wechselte mit Neugierde und er schaute seinem Gegenüber in die Augen. Auch der hatte das leise Wimmern vernommen, und seine jungen Züge zeigten sich gleichfalls irritiert. Beide, die Waffen im Anschlag und jeweils auf den Kopf des Gegenübers gerichtet, strengten sich an, das rätselhafte Wimmern zu erforschen. Und dann, ganz plötzlich, hob sich eine Klappe im Holzboden einige Zentimeter, um dann wieder zurückzufallen. Der Blick der Soldaten richtete sich auf die Klappe, in Bruchteilen von Sekunden dann wieder in die Augen des anderen. Doch es war nun offensichtlich, dass es sich nicht um eine Katze, sondern um ein Kind handeln musste. Die Klappe ging abermals einige Zentimeter nach oben, und kleine Finger tasteten sich langsam auf den Holzdielen nach vorn. Abermals folgte ein Blick in die Augen des Gegenüberstehenden. Ein Blick, der beiden die Gewissheit gab, dass die Situation nun eine vollkommen andere sei. So senkten beide synchron die Waffen und stellten diese – ebenfalls nahezu gleichzeitig – jeweils an die hinter ihnen liegende Wand.

Karl zog einen Teppich beiseite, der zur Hälfte die Bodenklappe bedeckte, während der Russe dieselbe vorsichtig öffnete. Herauf kam, in schmutzigem Leinen gekleidet, ein kleines Mädchen, das vielleicht vier oder fünf Jahre alt war. Der Rotarmist sprach das Kind auf Russisch an; Karl zog seinen Uniformmantel aus, breitete diesen auf der Bank vor dem Ofen aus und klopfte mit der Hand auf den Mantel, um dem Mädchen den Platz zuzuweisen. Langsam, aber ohne größere Scheu bewegte sich das Kind und machte es sich bequem. Der Rotarmist und der Wehrmachtssoldat blickten sich an; beide sagten ohne Worte, dass sie  jetzt, solange diese Situation so war wie sie war, den Krieg hinter sich lassen würden, es wurde ein stummer Waffenstillstand ausgerufen.

Karl legte Holz nach, der Russe öffnete seinen Rucksack und holte einen Beutel mit Brot, Wurst und Gurken hervor. Karl ging in den kalten Raum im hinteren Bereich des Hauses, drehte sich jedoch unsicher um, blickte in die Augen des Soldaten, dann auf das Kind, um abermals auf den Soldaten zu schauen. Ein sanftes Lächeln huschte über das Gesicht des Russen, das Karl erwiderte. Dann holte er von dem gepökelten Fleisch und Tee.

Die beiden jungen Männer bereiteten ein kleines Festmahl zu; man tischte auf, was man besaß. Das Mädchen lächelte still. Erst jetzt versuchten der junge Russe und Karl, jeweils in ihrer Muttersprache, das Kind zu befragen. Doch auch wenn es nicht ängstlich schien, antwortete es weder auf die deutschen noch auf die auf Russisch gestellten Fragen. Nach einigen Minuten gaben die beiden Soldaten auf: entweder verstand das Kind sie nicht, oder, es war stumm. Doch sprach das Kind durch sein liebliches Lächeln, in einer Sprache, die jeder Mensch auf Gottes Erde versteht.

Als alle gesättigt waren, das Feuer loderte, und die Soldaten endlich in friedlicher Ruhe entspannten, wurde Karl bewusst, dass es der Heilige Abend war. Er rief voll Freude „Christus ist geboren, wir haben Weihnachten!“ Lächelnd, wenn auch etwas irritiert, schaute ihn der Russe an. Sich der sprachlichen Barriere bewusst, zog Karl sein Tagebuch aus seinem Feldtornister und begann eine Krippe mit Josef, Maria und dem Christuskind zu zeichnen. Darüber zeichnete er einen Stern, den Morgenstern von Bethlehem. Er zeigte das Bild seinen beiden Hausgenossen, das Mädchen lächelte sanft und der junge sowjetische Soldat bekreuzigte sich dreimal. Karl zog eine Mundharmonika aus der Tasche und begann „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu spielen. Der Russe und das Kind summten dazu leise. Als er sein Spiel beendet hatte, stimmte der Russe ein ruhiges feierliches Lied an. Sie wechselten sich noch viele Male ab, bis sie schließlich nur noch die friedliche Stille des Raumes spürten. Das Mädchen schlummerte mit einem Lächeln im Gesicht zwischen den Soldaten ein. Beide schauten das Kind an. Der junge Russe streckte Karl die Hand entgegen und sagte „мир“ (Mir). Karl verstand nur einige Brocken Russisch, doch kannte er dieses Wort durchaus und reichte ihm die Hand und sagte „Frieden“. Irgendwann in dieser stillen Nacht waren auch die jungen Männer eingeschlafen.

Gegen Morgen wurden sie durch die heraufziehende Kälte im Raum wach. Das Mädchen war fort. Beide hasteten durch das Haus und riefen – jeder in seiner Sprache nach dem Kind.  Dann stürzten sie gemeinsam zur Tür. Bereits in der Nacht hatte es aufgehört zu schneien, man hätte Fußspuren im Schnee sehen müssen …

War alles nur ein Traum? Beide Männer wussten, dass diese Heilige Nacht wahrhaft eine heilige Nacht gewesen war. Das Christuskind war vom Himmel gekommen und hatte den Frieden gebracht, den die Menschen nicht fähig sind, selbst zu bringen. Die beiden Krieger zogen ihre Mäntel an, nahmen schweigend ihr Gepäck, hingen sich ihre Gewehrte um; dann standen sie sich gegenüber: Karl streckte dem etwa gleichalten Russen die Hand entgegen und sagte: „мир“, während er seinem Gegenüber tief in die Augen schaute, der dann lächelnd antwortete: „Friede“. Beide verließen das verschneite Haus. Der Wehrmachtssoldat eilte Richtung Westen – der Rotarmist Richtung Osten, der Sonne entgegen.
 
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