54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
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1. WEIHNACHTEN 1996
2. PREDIGT AUF DAS WEIHNACHTSFEST
3. Allen aber, die Ihn aufnahmen...
4. BEWUSSTER BETRUG JOHANNES PAULS II.?
5. Avantgarde eines neuen Faschismus
6. DIE HEILIGEN DREI KÖNIGE BESUCHEN DAS JESUSKIND
7. WIR KÖNNEN HELFEN, WIR KÖNNEN HELFEN...
8. Gedanken über Formen heidnischer Antizipationen der Jungfrauengeburt
9. Ein prachtvoller Raufbold des Herrn
10. DAS BLAUE KREUZ
11. PSALM VON DER GÖTTLICHEN GLÜCKSELIGKElT
12. Buchbesprechungen
13. DER HEILIGE AMBROSIUS
14. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN
15. Mitteilungen der Redaktion
16. BUCHEMPFEHLUNGEN
Ein prachtvoller Raufbold des Herrn
 
"Ein prachtvoller Raufbold des Herrn"

Zum 60. Todestag des katholischen Schriftstellers
G.K. Chesterton

von
Gerd-Klaus Kaltenbrunner

"Die Tür tat sich nach innen auf, und ins Zimmer herein schlurfte eine unförmige kleine Gestalt, die mit ihrem eigenen Hut und Regenschirm ebensowenig fertig zu werden schien wie mit einem Haufen von Gepäck. Der Schirm war ein schwarzes, unansehnliches Bündel und schon längst nicht mehr reparierbar; und der Hut war der breitkrempige Hut eines Geistlichen, jedoch in England unüblich, und der ganze Mann war die Ingestalt alles Unscheinbaren und Hilflosen."

Diese einer Karikatur gleichende Gestalt ist der neben Sherlock Holmes wohl weltweit berühmteste Detektiv: Father Brown, der katholische Weltpriester, klein, rundlich, kurzsichtig und unscheinbar, den Eindruck des harmlosen und Naiven erweckend, eine Aura von Wohlwollen und Wärme um sich verbreitend, zugleich aber ein die Polizei und andere professionelle Verbrecherermittler überflügelnder Kriminologe. Seine Erfolge verdankt er in ebenso hohem Maße seiner unter dem Anschein des linkischen Tölpels verborgenen Pfiffigkeit wie seiner seelsorglich erprobten Kenntnis der Abgründe des menschlichen Herzens. Father Browns Augenmerk richtet sich nicht so sehr auf den genauen Tathergang, vielmehr auf die Gemütsverfassung und vermutlichen Antriebe des unbekannten Täters (in keiner der kaum zu zählenden Father Brown-Geschichten kommt eine Mörderin vor). Für den einfachen Priester ist die detektivische Arbeit weder ein Steckenpferd noch zuvörderst ein Beitrag zur staatlichen Strafgewalt. Nicht Neugier oder die Sucht, andere durch seinen Verstand zu verblüffen, bewegen ihn, ungeklärte und mysteriöse Kriminalfälle aufzuklären. In seinen Augen ist das Verbrechen vor allem eine Sünde, eine Beleidigung Gottes; erst an zweiter oder dritter Stelle rangiert seine gesellschaftliche und juristische Bewertung als Delikt, als Bruch staatlicher Normen und Widersetzlichkeit gegen manchmal ohnehin sehr fragwürdige soziale Verhaltensregeln. Daher ist nicht die Aburteilung des Verbrechers das Ziel, sondern die Rettung seiner Seele. Er trachtet, den Täter ausfindig zu machen, um ihm die Möglichkeit der Reue und Umkehr zu geben.

Der Schöpfer dieses durch gesunden Menschenverstand, christliche Demut und psychologisches Einfühlungsvermögen sich auszeichnenden Detektivs in der Soutane heißt  Gilbert Keith Chesterton. Sogar diejenigen, die nie etwas von ihm gelesen oder gehört haben, kennen seinen Father Brown durch in Kino und Fernsehen vielgespielte Verfilmungen, in denen Heinz Rühmann und der vor kurzem verstorbene Josef Meinrad die Titelrolle verkörpern. Die erste der Geschichten, in denen der kleine unauffällige Priester die Hauptgestalt darstellt, hat Chesterton im Jahre 1911 veröffentlicht, die letzte einige Monate vor seinem Tode am 14. Juni 1936. Sämtliche sind zuerst in Zeitschriften, dann gesammelt in fünf Büchern erschienen. Jede einzelne bietet uns zunächst ein Rätsel, das auf den ersten Blick unentwirrbar ist. Dann wird eine Lösung nahegelegt, die ebenso phantastisch wie monströs ist; und am Schluß gelangt man zur Wahrheit, die sich als vernünftig erweist. Jede einzelne der Geschichten ist ein Gleichnis und auch ein kleines Drama. Die Personen sind wie Schauspieler, die auf eine im magischen Licht schimmernde Bühne kommen. Der bis heute unverwelkte Reiz der Erzählungen besteht nicht so sehr in dem Einfall, einen Priester zum Helden einer profanen Geschichte zu machen, sondern in der Gabe des Autors, mit Hilfe dieses Genres seinen überwiegend protestantischen Landsleuten die katholische Religion und sogar die elementarsten Grundsätze orthodoxer Theologie auf originelle Weise nahezubringen. Sherlock Holmes kann mit vornehmen Frauen elegant parlieren. Doch was ist dies schon gegen die geradezu mit Engelszungen sprechende Hilfsbereitschaft des Seelsorger-Detektivs Father Brown, der einer traurig dareinschauenden jungen Lady sich mit diesen einleitenden Worten andient: "Nicht um Ihnen Kummer zu bereiten, nur um mich mit genügend Kenntnissen auszurüsten, um Ihnen helfen zu können für den Fall, daß sie aus freien Stücken um meine Hilfe bitten ..."?

Es versteht sich von selbst, daß für den von Papst Pius XI. hochgeschätzten Konvertiten Chesterton das Wort "Orthodoxie" weder intellektuelle Engstirnigkeit bedeutet noch, wie leider meist üblich, als Synonym für die schismatische Ostkirche gilt. Eines Sinnes mit den heiligen Kirchenvätern Hieronymus und Johannes von Damaskus, bezeichnet Chesterton mit dem Ausdruck "Orthodoxie" nichts anderes als Rechtgläubigkeit oder Glaubenstreue im Sinne unverkürzter Katholizität: "Ich bin der Mann, der so kühn war, zu entdecken, was schon früher entdeckt war. Nie hat es etwas Kühneres und Hinreißenderes gegeben als Orthodoxie".

Häresie ist Einseitigkeit, Willkür und Amputation der Vernunft wie des Glaubens. Orthodoxie bedeutet hingegen Ganzheit, Integrität, Fülle, Adelung der Vernunft und gnadenreiche Offenheit für das Unergründliche. Katholisch denkt man, indem man wirklich denkt: umfassend, sachgerecht und im Einklang mit der Weisheit der Überlieferung. Katholisch zu denken, heißt aber auch, sich nicht zu fürchten, in grundlegenden Dingen der gleichen Ansicht zu sein wie eine analphabetische Hirtin des fünfzehnten Jahrhunderts oder die einen sentimentalen Schlager trällernde Büglerin um die Ecke. Katholische Orthodoxie oder orthodoxe Katholizität ist einfach religiöse Normalität, welche die Kirche im Dorf stehen läßt. Katholisch ist das Vertrauen in den gesunden Menschenverstand, der, wenn wahrhaft gesund, ganz von selbst zu den Vorhöfen des Mysteriums gelangt. Häresie ist vielleicht eine bunte Hundehütte, Orthodoxie in katholischem Sinn jedoch ein Dom, der den ganzen Kosmos umfaßt, eingeschlossen das Universum des menschlichen Herzens und die selige Freiheit des Lebensspiels der Kinder Gottes.

Dies ist, kurz zusammengefaßt, die Botschaft des 1922 endgültig zur katholischen Kirche übergetretenen Engländers. Er verkündet sie nicht nur in seinem Buch "Orthodoxy" und in den Father Brown-Kurzgeschichten, sondern allseits und allenthalben: in phantastischen Romanen, in Essays, in Biographien, in Gedichten, Trinkliedern und Balladen, in Zeitungsartikeln und gesellschaftskritischen Schriften. Er bekannte einmal: "Ich habe mein Leben lang nichts getan als gepredigt, daß die selbstverständlichen Wahrheiten auch wirklich wahr sind." Diesem Streben lag zugrunde "die fast mystische Überzeugung von dem Wunder in allem, was existiert, und von dem aller Erfahrung wesenhaft innewohnenden Entzücken." In jenem Geiste schrieb er seine auch auf deutsch erschienenen Bücher über Thomas von Aquino und Franziskus von Assisi, seine antimodernistischen Kampfaufrufe "Was unrecht ist an der Welt" und "Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge", sein den Sieg des edlen christlichen Königs Alfreds des Großen über die heidnischen Dänen teils balladesk, teils visionär feierndes lyrisches Epos "Das weiße Roß", seine sowohl kritischen als auch amüsanten Studien über Thomas Carlyle, Robert Browning, Charles Dickens, William Blake und George Bernard Shaw, seine Romane "Der Mann, der Donnerstag war", "Der Held von Nottinghill", "Das fliegende Wirtshaus", "Manalive" ("Menschenskind") und "Die Wiederkehr des Don Quijote". Was Goethe einmal von Lichtenbergs Schriften sagte, trifft auch auf die Chestertons zu: "Wir können uns ihrer als der wunderbarsten Wünschelruten bedienen: wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen."

Geboren 1874 als Sohn eines wohlhabenden protestantisch-liberalen Hausmaklers, seit 1901 verheiratet mit Frances Blogg, einer der schönsten und gescheitesten Frauen ganz Englands, fällt mehr als ein Drittel von Chestertons Lebenszeit in die Epoche der Königin Victoria, in eine Ära höchster imperialer Machtentfaltung und wirtschaftlichen Wachstums, aber auch kultureller Verflachung, religiöser Säkularisierung, grotesker Prüderie und heuchlerischer Doppelmoral. Es war eine Welt, deren scheinbar vorurteilsfreie Elite einem mit dem Perversen spielenden Immoralisten wie Oscar Wilde frenetisch Beifall spendete, dann aber über ihn entrüstet den Stab brach, als zutage kam, daß dieses Spiel für ihn nicht bloß Theater, Witz und Literatur bedeutete. Es war eine Welt, die auf das Mittelalter als auf einen düsteren, vernunftfeindlichen und freudlosen Abschnitt der Menschheitsgeschichte herabblickte, dessen fossiles Überbleibsel die katholische Kirche sei. Chesterton erkühnte sich, seinen Lesern ein völlig anderes Mittelalter vorzuführen und ihnen einen Katholizismus zu schildern, der sich als durchaus menschenfreundlich, vernünftig, fröhlich, farbenfroh, großherzig und völlig unverklemmt erweist. In seiner Apologetik zeigte er ihn als eine lebensnahe Religion, die sowohl  Genies als auch Einfältige anspricht; die das Ideal der Jungfräulichkeit verkündet und zugleich das Geschlechtsleben sakramental heiligt; die der Vernunft mehr zutraut als moderne Rationalisten und Kritizisten; die zwar die Zauberei verwirft, jedoch den Sinn für das Wunderbare, welches keine Hypothese wegzuerklären vermag, unendlich bejahrt und kräftigt:
"Das Gras sprießt und die Bäume wachsen. Die Lüfte rauschen von geflügelten Wundern und in türkisenen Meerestiefen regen sich stumme Ungeheuer. Seltsame Geschöpfe bewegen sich auf der Erde mit vier Füßen, und das allerseltsamste hält sich aufrecht auf zweien: das sind Tatsachen; neben ihnen sind Atome, Evolution und sogar das Sonnensystem bloß Hypothesen. - Solange wir das Geheimnisvolle gelten lassen, sind wir gesund; sobald wir dem Geheimnisvollen ein Ende machen, geben wir dem Krankhaften Raum."

Nur St. Franziskus selbst kann Chesterton diese dichterischen Sätze eingegeben haben, die sich in dem Buch "Häretiker" (deutsch 1912) finden: "Die Demut ist es, die unaufhörlich Himmel und Erde verjüngt. Die Demut - und nicht das Pflichtgefühl - bewahrt die Sterne vor dem Untergang, bewahrt sie davor, aus ihren Bahnen zu geraten. Die Demut schafft uns die alten Sterne ewig neu und herrlich. Seit Anbeginn der Zeiten haftet an uns der Fluch, der sichtbaren Wunder müde zu werden. Die Demut aber versetzt uns immerzu in wunderbares Dunkel. Aus ihm sehen wir die Herrlichkeit des Lichtes sich erheben. Ohne dieses Dunkel können wir keine wahrhaft kindliche Freude über die Wunder der Natur empfinden. Dem Demütigen allein ist die Sonne wirklich die Sonne, das Meer wirklich das Meer. Wenn er auf der Straße die Gesichter der Vorübergehenden erblickt, so bemerkt er nicht nur, daß diese Menschen alle leben, sondern ihn erfüllt, eine fast dramatische Freude, daß sie nicht tot sind."

T.S. Eliot hat einmal Chesterton maliziös nachgesagt: "Sein Gehirn brodelt nur so von Gedanken; leider gibt es keine Anzeichen dafür, daß er auch denkt." Dieses Urteil wirkt befremdlich, wenn wir nicht nur die mit untadeliger katholischer Dogmatik durchsetzten Father Brown-Erzählungen, son-dern vor allem auch die geistreichen Ideenromane dieses Briten ins Auge fassen. Schlagen wir zum Beispiel "Der Held von Nottinghill" auf, so finden wir hier seine bereits 1904 formulierte Anklage gegen den modernen Trend zu Expertokratie, Sachzwang-Alibi, Kult des Kolossalen und Weltuniformierung. Den gestürzten Präsidenten eines "unterentwickelten" lateinamerikanischen Kleinstaats läßt er zu einem zivilisationsstolzen europäischen Bürokraten sagen: "Wenn Sie behaupten, Sie wünschen alle Völker zu vereinigen, dann meinen Sie in Wahrheit, daß Sie alle Völker vereinigen wollen, um diese die Tricks Ihres Volkes zu lehren. Wenn der arabische Beduine nicht lesen kann, so muß zu ihm irgendein englischer Missionar oder Schulmeister geschickt werden, um ihn lesen zu lehren. Aber niemand würde sagen: Dieser Schulmeister kann nicht auf dem Kamel reiten, wir wollen einen Beduinen bezahlen, der es ihm beibringen soll ..." Kein Wunder, daß gerade dieses Buch vor etwa zwanzig Jahren zur Lieblingslektüre der britischen "Grünen" geworden ist, die sich von denen Deutschlands in manchen Hinsichten vorteilhaft unterscheiden.

Oder man greife zu Chestertons "Fliegendem Wirtshaus", in welchem Roman ein Ire und dessen fröhlicher Gefährte, mit nichts als einem Rumfaß, einem Käserad und einem Wirtshausschild bewaffnet, der alles reglementierenden und planifizierenden Staatsmacht Widerstand leisten. In der Prohibition erblickte Chesterton geradezu eine protestantische Häresie mit totalitären Konsequenzen. Wer heute den Ausschank von Bier und Wein mit gesundheitspolitischen Begründungen verbietet, wird morgen oder übermorgen auch orthodoxe Bücher beschlagnahmen oder dem Bürger Speisezettel, Körpergewicht und Schlafenszeit vorschreiben wollen. Wohlfeile ideologische Rechtfertigungen, die sogar plausibel klängen, ließen sich immer dafür finden. Jeder Sektierer, jeder desertierte Mönch könnte sie spielend liefern. Der eßfreudige, trinkfeste und wohlbeleibte Katholik Chesterton erklärte einmal herausfordernd, das poetischste Wort sei "gemeinsame Wirtsstube". Im Trinker (der nicht mit dem Alkoholiker zu verwechseln ist) verteidigt er den durstigen, aufrührerischen, kämpfenden, unterliegenden, den sinnlichen, den sehnsüchtigen, den glaubenden, den wirklichen Menschen gegen dessen anmaßende Entmündiger, Betreuer und Schikanierer.

Daß Chesterton nur von Gedanken brodle, jedoch selbst nicht denke, ist auch aus anderen Gründen ein unhaltbarer Anwurf. Wohl kein zweiter Autor der ersten Jahrhunderthälfte hat so viele Bewunderer unter Philosophen oder philosophisch belangvollen Literaten gefunden wie Chesterton. Daß ihn entschieden katholische Denken wie Etienne Gilson, Karl Pfleger, Aurel Kolnai, Josef Pieper, der  Jesuit Joseph de Tonquédec (1868-1962) und Amadeo Graf von Silva-Tarouca (1898-1971) geschätzt haben, könnte man vielleicht noch als Ausdruck konfessioneller Übereinstimmung bewerten. Aber wie erklärt es sich, daß die 1932 erloschenen "Sozialistischen Monatshefte" über Chestertons "Fliegendes Wirtshaus" sagen konnten: "Neben den hohen literarischen Qualitäten, die den Leser fesseln, ist vor allem die Gesinnung bemerkenswert, die, fern von jeder Enge, das Umfassende im Katholizismus ahnen läßt?" Oder ist es vorstellbar, daß selber so namhafte deutsche Autoren wie Annette Kolb und Heinrich Lautensack (und in Frankreich ein Dichter vom Range Paul Claudels) sich jemals der Mühe unterzogen hätten, einen Schriftsteller, der nicht denken konnte, durch Übersetzungen bekanntzumachen? Der vielbewanderte österreichische Essayist und Übersetzer Franz Blei bescheinigte Chesterton, er sei "der witzigste europäische Schriftsteller seit Swift" und "eine große ethische Energie". Der in religiösen Dingen agnostisch gesinnte Robert Musil, dessen unvollendeter, wohl auch unvollendbarer Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" einige erstaunliche Abschnitte über mystische Erfahrungen enthält, zögerte nicht zu gestehen, er habe Chesterton so gelesen wie einst Stendhal den Code Napoléon, also als literarisches Stimulans und stilistischen Kompaß. Der 1986 verstorbene argentinische Lyriker, Erzähler und Essayist Jorge Luis Borges meinte, Chesterton "hätte Kafka sein können", ein Schöpfer dämonischer Albträume. In dem überaus umfangreichen Werk des Briten - rund hundert Bücher! - gäbe es "keine einzige Seite, die nicht gelungen wäre." Er sei "ein intellektueller Dichter." Am erstaunlichsten aber ist eine Bemerkung des seltsamen Marxisten Ernst Bloch. Er nannte Chesterton einen "der gescheitesten Männer, die je gelebt haben", dessen Paradoxa eine gute Vorschule für Hegel-Leser seien.

In der Tat: Chesterton ist ein Meister brillanter Formulierungen, ein Virtuose verblüffender Apercus, der mit seinen pradoxen Aussagen die in der Wirklichkeit selbst enthaltenen "Paradoxien" bündig zu Wort kommen läßt. Orthodoxie läßt sich nur in Paradoxien aussprechen, zumindest gilt dies für die zentralen Mysterien des Christentums: Ein Gott - in drei Personen; Christus - wahrer Gott und wahrer Mensch; Maria - jungfräuliche Mutter; Brot und Wein - Leib und Blut des Erlösers. Häresie ist von jeher Feigheit vor dem Paradox. Unfähig, das Mysterium in seiner Ganzheit und Unergründ-lichkeit zu ertragen, nimmt Häresie einen Bruchteil für das Ganze. Sie banalisiert das Geheimnis, in-dem sie es "entspannt". Aus einer sowohl lockenden als auch bestürzenden hyperdialektischen Zumutung an unsere Glaubenskraft wird seichte Flachheit. Dies gilt für alle Häresien, handle es sich nun um den Pelagianismus, den Arianismus, den Origenismus oder das, was heute in Tübingen geboten wird.

Aufs Geratewohl führe ich einige der vielen funkelnden Paradoxa aus Chestertons Bücher an: "Die Leute, welche Leitartikel schreiben, sind immer hinter ihrer Zeit zurück, weil sie beständig in Eile sind. Sie sind gezwungen, auf ihre altmodischen Ansichten über die Dinge zurückzugreifen; alles, was in Eile geschieht, ist bestimmt überholt." Oder dieses: "Die Freude, die die kleine Öffentlichkeit der Heiden war, ist das große Geheimnis der Christen geworden." Oder auch dieses: "Diejenigen, welche die Christen bezichtigten, Rom mit Feuerbränden in Trümmer gelegt zu haben, waren zwar Verleumder; aber sie erfaßten die Natur des Christentums viel richtiger als jene unter den Modernisten, die uns weismachen wollen, die Christen wären ein moralischer Verein gewesen und langsam zu Tode gemartert worden, weil sie den Menschen erklärten, sie müßten ihre Pflichten gegenüber den Nächsten erfüllen, oder weil ihre Milde sie ein wenig verächtlich gemacht hätte." Oder auch diese Replik, die eine gerade bei Intellektuellen gängige Auslegung des Marxismus kühn umdreht: "Wenn die Leute zu behaupten beginnen, daß äußere materielle Umstände allein die moralischen Bedingungen geschaffen haben, dann sind bereits alle Möglichkeiten ernsthafter Veränderung vereitelt. Denn wenn mich meine Verhältnisse völlig blöd gemacht haben - wie kann ich da gewiß sein, überhaupt ein Recht zu haben solche Verhältnisse zu ändern? Eine soziale Revolution kann es erst in dem Augenblick geben, in dem die Sache aufgehört hat, rein ökonomisch zu sein." Oder diese Einsicht: "Wir sind nicht nur alle im selben Boot, wir sind auch alle seekrank... Die Kirche Christi gründet auf der Schwäche, deshalb ist sie unvergänglich." Von Chesterton, der glücklich verheiratet war, stammen übrigens auch einige bemerkenswerte Sätze über die Monogamie: "Ist nicht die unauf-lösliche sakramentale Ehe letzten Endes eine Institution, die auch dem Durchschnittsmenschen die Ehre erweist, beim Wort genommen zu werden?" Als der Feminismus noch kaum seine ersten Geh-versuche unternommen hatte, notierte er das Ergebnis: "Millionen Frauen erhoben sich und riefen: Niemand wird uns mehr etwas diktieren! - Und sie wurden Stenotypistinnen."

Chesterton, der einmal bekannte, schon Jahrzehnte vor seiner Konversion zutiefst katholisch gewesen zu sein, verkörpert den äußersten Gegenpol zum Typus des heute tonangebenden "Ökumenisten".  Er hing der Kirche nicht wie einer obskuren Sekte an, die es nötig hätte, bei außer- und anti-christlichen Tagesströmungen unterwürfig um Gehör zu betteln oder von ihnen durch "Dialog" zu lernen. Er fühlte sich nicht irgendeiner Bindestrich-Christlichkeit verbunden, sondern der Katholizität schlichthin, der Una sancta, außer der es kein Heil geben kann. Glaubenstreue Christen dürfen ihn, der vor sechzig Jahren - am 14. Juni 1936 - in Beaconsfield vom Diesseits Abschied genommen hat, getrost als einen der Ihren, als kampfgerüsteten Bundesgenossen betrachten. In seiner ersten  Detektivgeschichte - sie hat den Titel "Das blaue Kreuz" - entlarvt der für einen Tölpel gehaltene Father Brown einen als Priester verkleideten Gauner mit dem fast zu einem geflügelten Wort gewordenen Ausruf: "Sie haben die Vernunft beleidigt, das ist schlechte Theologie."

Womit sich der als "Raufbold Gottes" angesprochene Chesterton als treuer Schüler des heiligen Thomas von Aquin zu erkennen gibt, als Teilhaber der von der Kirche stets in Ehren gehaltenen Philosophia perennis. Auf sie trifft zu, was dieser "Pamphletist des Ewigen im Tagesjournalismus" von vortrefflichen Büchern gesagt hat: "Gute Literatur ist vor allem dadurch nützlich, daß sie den Menschen hindert, bloß modern zu sein."

***

Bücher von Chesterton (neuerere deutsche Ausgaben):

"Aphorismen und Paradoxa" Manz Verlag, München 1961  
"Die besten Pater-Brown-Geschichten" ausgewählt u. übers. von Stefanie Kuhn-Werner. Reclam Verlag, Stuttgart 1993
"Das fliegende Wirtshaus" Droemer'sche Verlagsanstalt, München 1948
"Der Heilige Franziskus von Assisi" Herderbücherei, Freiburg i.Br. 1959
"Thomas von Aquin. Der Heilige mit dem gesunden Menschenverstand" Herder, Freiburg i.Br. 1980
"Die Rückkehr des Don Quijote" Matthes & Seitz Verlag, München 1992
"Der Held von Notting Hill" Roman. F.H. Kerle Verlag, Heidelberg 1981
"Father Brown" in drei Bänden. Haffmans Verlag, Zürich 1991
"Heitere Weisheit, ernste Späße. Ausgewählte Aphorismen" Übersetzt von Gisbert Kranz, Bredow Verlag, Moers 1988  
 
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