54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
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1. Anmerkungen zur Fastenzeit 2009
2. Die Reinheit
3. Visionen über die Endzeit und den Antichrist
4. Dogmatische Konstitution Pastor aeternus
5. Der Präzedenzfall Talleyrand
6. Die Erfassung der Einheit (des Wesens) Gottes
7. Zum 150. Geburtstag des Wüstenheiligen Charles de Foucauld
8. Bedenke das Ende ... - Betrachtungen über den Tod
9. Von der Anarchie zur Imitatio Christi
10. Der verschollene Ruf der Mutter
11. Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten
12. Mitteilungen der Redaktion
Von der Anarchie zur Imitatio Christi
 
Von der Anarchie zur Imitatio Christi
Zum 100. Geburtstag von Simone Weil am 3.2.2009


von
Magdalena S. Gmehling

Sich erniedrigen, heißt hinsichtlich der geistigen Schwerkraft steigen. Die Schwerkraft des Geistes lässt uns nach oben fallen." ("Schwerkraft und Gnade". Piper 1989 S. 13) Diese Worte der französischen Intellektuellen Simone Weil führen uns in die Mitte ihres Denkens. Die Gnade Gottes überwindet die zerstörerische Gewalt des Leidens. Aus physischem, psychischem und sozialem Leiden entsteht das Unglück (malheur), dieses aber ist das große Rätsel des Lebens. Ja es ist für die Philosophin ein Strukturbegriff menschlichen Daseins, ein programmatisches Motto, welches sich an ihr verwirklichen sollte. So heißt denn auch eines ihrer posthum erschienenen Werke "Das Unglück und die Gottesliebe" (Kösel-Verlag, München 1961).

Wenn man das abenteuerliche, nur 34 Jahre währende Leben der "roten Jungfrau" Revue passieren lässt, so ist man aus heutiger Sicht fast geneigt zu fragen, ob die ungünstigen Verhältnisse das kurze Dasein dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit nicht über Gebühr beschwerten?

Am 3.2.1909 kommt Simone Weil als Tochter des angesehenen jüdischen Arztes Bernard Weil und seiner Frau Selma Reinherz in Paris zur Welt. Ihr einziger Bruder, der spätere Mathematik-Nobelpreisträger André Weil ist damals bereits drei Jahre alt. Die Familie hat elsässische, französische und österreichisch-ungarische Vorfahren. Die junge Frau wächst in einem a-religiösen Elternhaus auf und stößt dort auch auf anti-jüdische Ressentiments. Die ungeheuren bis an die Grenze des Selbsthasses gehenden Spannungen dieses Lebens und die innere Zerrissenheit, mögen in schwer nachvollziehbaren frühkindlichen Einflüssen wurzeln. Ersatz für Religion sucht Simone zunächst in der griechischen und deutschen Philosophie. Ihr Lehrer ist Emile Auguste Chartier (1868-1951), berühmt unter dem Namen "Alain". 1931 schließt sie mit herausragend guten Noten die Ecole Normale Supérieure ab und arbeitet als Philosophielehrerin im staatlichen Schuldienst. Ihre moralische Unbedingtheit, ihre Sensibilität für soziale Ungerechtigkeiten, ihre Gescheitheit und Bildung verleihen ihr einen Nimbus, dem sich sogar die Studienkollegin Simone de Beauvoir nicht völlig entziehen kann.

Intensiv setzt sich Weil in ihren Aufsätzen mit Marx und Lenin auseinander. Sie verkündet eine "Mystik der Arbeit" und will "eine Art 'Märtyrerin' sein im ursprünglichen Sinne des Wortes: Zeugnis ablegen durch den Körper und den Geist in einer Zeit, in der die Verhältnisse diesem Zeugnis noch mehr Bedeutung verleihen" (Rolland). Von ihrem Gehalt spendet sie den größten Teil für Arbeitslose, trägt bei der Teilnahme an Demonstrationen die rote Fahne, schreibt in anarchistischen und gewerkschaftlichen Zeitungen, wird mehrmals strafversetzt und quittiert zeitweise den Schuldienst, um als einfache Fräserin bei Renault zu arbeiten. Vergeblich versucht sie Theorie und Praxis in Einklang zu bringen. Am 31. Dezember 1933 kommt es zu einer enttäuschenden Begegnung mit Leo Trotzki. Bei den Linken erregt ihre individualistische und anarcho-syndikalistische Position zunehmend Kritik. 1936 reist sie nach Spanien, um in den Reihen der CNT-Milizen gegen den Faschismus zu kämpfen. Angewidert verurteilt sie dort die um sich greifenden Gewalttaten an Schuldigen wie Unschuldigen (Brief an Bernanos). Durch eine Verbrühung mit siedendem Öl wird sie so schwer verletzt, dass sie heimkehren muss.

Neben allen Aktivitäten ist Simone Weil unablässig schriftstellerisch tätig. (Werke: Die Einwur-zelung. Unterdrückung und Freiheit. Fabriktagebuch). Eine schwere Überarbeitung tritt ein. Es verwundert nicht, dass jenes seit der Jugend bestehende neuralgische Nervenleiden, das mit unerträglichen Migräneanfällen verbunden ist, zum Ausbruch kommt. Erschöpfungszustände und kaum erträgliche Schmerzen mehren sich.

1935 erlebt Simone Weil in Portugal eine, ihren Atheismus erschütternde Ekstase, als sie den schwermütigen Gesang der Fischerfrauen vernimmt. Ein ähnliches Erlebnis wiederholt sich 1937 in Assisi und 1938 beim Hören des Gregorianischen Chorals in der Benediktinerabtei Solesmes. Ihre Christusbegegnungen finden unter wahnsinnigen Kopfschmerzen statt. Man weiß heute, dass Migräne mit einer Aura einhergehen kann begleitet von einer Überempfindlichkeit der Sinnesorgane, Dämmerzuständen usw. und dass traumatische oder degenerative Veränderungen der Halswirbel-säule nicht selten Menschen von Weils Feinnervigkeit und Radikalität für dieses Krankheitsbild prädestinieren. Immer wieder muss sie sich vom Schuldienst beurlauben lassen. Vor dem Schmerz flüchtet sie in das Gebet. Christus wird ihr zur Leitfigur. Sie berichtet von einem geheimnisvollen "Prolog", während dessen sie "von Ihm" in eine Dachkammer mitgenommen und dort gespeist wird. Mit der ihr eigenen logischen Schärfe stellt sie eine Vielzahl dogmatischer Fragen, distanziert sich aber von einer formellen Mitgliedschaft in der Kirche. Sie möchte in der "Trauer der Heiden" ausharren.

"Für den Augenblick wäre ich eher geneigt, für die Kirche zu sterben, als in sie einzutreten - falls sie es nächstens nötig hätte, dass man für sie stirbt. Sterben, das verpflichtet zu nichts, wenn ich so sagen darf; es schließt keine Lügen ein." (Brief an Gustave Thibon). Zerrissenheit, ja Exzentrik spricht aus diesen Worten. Auch über das Judentum äußert sie sich polemisch und abweisend. Ihre Intention "ganz ohne Lüge" zu leben, ist praktisch undurchführbar. Der starke Kollektivdruck, die Irrungen und Wirrnisse der Zeit setzen Grenzen, zwingen zu Kompromissen. So ist sie nach zweimaliger Verhaftung durch die Deutschen gezwungen, ihren Pazifismus zu relativieren. Sie ruft zum Kampf gegen Hitler auf, schließt sich der Résistance an. Der Pragmatiker De Gaulle hält, wie vor ihm Trotzki und nach ihm die englischen Ärzte, Simone Weil schlicht für verrückt. Ihre Qualitäten erkennt er dennoch. Sie soll sich über die zukünftige Verfassung Frankreichs Gedanken machen und den brieflichen Kontakt zwischen den Widerstandsgruppen übernehmen.

Die anti-semitische Politik der Vichy-Regierung zwingt 1942 auch die Familie Weil zur Flucht. Obgleich sich Simone keineswegs als Jüdin fühlt und die rassistische Definition des Jüdischen schriftlich ad absurdum führt, muss sie in die USA fliehen. Der wochenlange Aufenthalt im Internierungslager ruiniert ihre Gesundheit endgültig. Als Tuberkulosefall kehrt sie bereits im November 1942 nach England zurück. Vier Monate, bis zu ihrem Tod durch TBC und Entkräftung am 24. August 1943 in Ashford/Kent, hält sie dort eine altruistische Hungeraskese durch. Ihren Rigorismus rechtfertigte sie mit dem Argument, sie wolle das "Privileg des Überlebens" ausschlagen.

1941 hatte der Dominikanerprior Perrin an den Philosophen Gustave Thibon geschrieben: "Ich kenne hier ein israelitisches Mädchen, Dozentin für Philosophie und linksradikale Militantin, die, durch die neuen Gesetze von der Hochschule ausgeschlossen, gerne einige Zeit als Bauernmagd auf dem Land arbeiten möchte. ...ich wäre glücklich, wenn sie dieses Mädchen zu sich nehmen könnten". Thibon ist zunächst entsetzt über Simones Ansichten und ihren Starrsinn. Er bringt aber die Geduld und Höflichkeit auf, sich mit Weils Geistigkeit vertraut zu machen, und kommt zu einem höchst bemerkenswerten Urteil: "Sie begann damals, sich von ganzer Seele dem Christentum zu erschließen; der Geist einer makellosen Mystik ging von ihr aus; ... Sie kannte, sie lebte den verzweiflungsvollen Abstand zwischen 'wissen' und 'von ganzer Seele wissen' ... Ihre Askese mochte übertrieben erscheinen in unserem Jahrhundert der Halbheiten ... dennoch blieb sie frei von jeder merklichen Übertreibung ... Jeden Monat schickte sie die Hälfte ihrer Lebensmittelkarten an politische Häftlinge. Ihre geistlichen Güter aber verschwendete sie noch großmütiger. ... Neben dem Evangelium, das ihre tägliche Nahrung war, hatte sie eine tiefe Verehrung für die großen Texte der Hindu-Literatur und des Taoismus, für Homer ... und vor allem für Plato, den sie in einem durchaus christlichen Sinne auslegte." (Schwerkraft und Gnade, ebd. Nachwort S. 244 f)

Gustave Thibon ist es schließlich auch, dem Simone Weil vor ihrer Flucht 1942 eine Tasche mit Manuskripten übergibt. So wurden ihre Cahiers (Hefte), gerettet. Die meisten Werke erscheinen posthum: 1948 "La Pesanteur et la Grace" (Schwerkraft und Gnade), 1953 "Attente de Dieu" (Das Unglück und die Gottesliebe), 1959 "Vorchristliche Schau", 1976 "Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe. Aufzeichnungen."

Simone Weils Glaubensweg ist im Wesentlichen autodidaktischer Natur. Nahtlos fügt sich die, unter merkwürdigen Umständen durch ihre Freundin (S. Deitz) erfolgte Taufe auf dem Totenbett, in dieses Lebensbild ein. Die "Christin von draußen", die nirgends ankommt, jene "auf der Schwelle", die Simone sein wollte, spürt Gott in den Zeugnissen der Antike, in den heiligen Texten der Weltreligionen auf. Sie solidarisiert sich mit Gedemütigten, Ungläubigen und Ketzern. In Geduld, in Distanz zum kirchlichen Apparat und im Gehorsam, wartet sie auf Gott: "Wenn ich mein ewiges Heil vor mir auf diesem Tisch liegen hätte und ich nur die Hand auszustrecken bräuchte, um es zu erlangen, dann würde ich die Hand so lange nicht ausstrecken, als ich nicht dächte, den Befehl dazu empfangen zu haben ... Denn ich begehre nichts anderes als den Gehorsam in seiner ganzen Fülle, das heißt: bis zum Kreuz." (Das Unglück und die Gottesliebe. München 1953. S. 37) Heldentum spricht aus diesen Zeilen, aber auch ein unbegreifliches Verlorensein in die eigene Wirklichkeit. Simone Weils Weg ist ein höchst moderner. Er zielt auf Selbstfindung durch Gott und ist nicht frei von Schroffheiten.

"Gott hat mir das Sein gegeben, damit ich es ihm zurückgebe. Das ist wie eine jener Prüfungen, die Fallen gleichen ... Nehme ich diese Gabe an, verkehrt sie sich ins Schlechte und schlägt mir zum Verderben aus; ihre Kraft wird erst offenbar, wenn ich die Annahme verweigere. ... Selbst wenn man wie Gott sein könnte, es wäre dennoch besser, ein Unrat zu sein, der Gott gehorcht." (Schwerkraft und Gnade ebd. S. 59).

Natürlich drängt sich geradezu der Vergleich mit jener anderen Großen auf, die ihre Zeit- und Glaubensgenossin war, mit der Philosophin Dr. Edith Stein. Der makellose Glaubensweg der späteren Karmeliterin, Martyrerin und Heiligen, endete in der Hingabe, im sich Selbstverlieren aus Liebe zu Gott, dem gedemütigten jüdischen Volk und den Menschen. Ihre kindlich frohe Heiterkeit entsprang der ständig betenden Seele. Leben und Lehre stehen in vollem Einklang. Es wäre ein interessantes Unterfangen, eine fiktive Begegnung beider Frauen zu durchdenken. Schwesterlich verbunden durch den unerwarteten Einbruch der Gnade, stehen und sterben beide im Schatten des Kreuzes. Edith Stein jedoch überwindet durch ihr "ave crux, spes unica" die Philosophie. Simone Weil stößt die Tür zu einer neuen Religiosität auf. In ihrem Denken weist sie einem Christentum den Weg, in welchem Religion, Philosophie und Politik verschmelzen.

Die Gedenktafel an dem Grabe der Französin lautet: "Ihre Schriften etablieren sie als eine der bedeutendsten modernen Philosophen."
 
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