DIE JAGD NACH DEM SÜNDENBOCK
von Karl-Heinz Jütting
"Die Jagd nach dem Sündenbock gehört zu den schäbigen Ritualen menschlicher Gesellschaften. Nach diesem Brauch jagen nicht nur Schuldige einen Schuldigen; ihr Halali soll ihnen den Ablaß von Verfolgung für eigene Teilhabe erkaufen, die in der Regel die Mitschuld des Gejagten übersteigt." (Hans-Dietrich Sander in seinem Aufsatz "Salonterroristen" erschienen in Heft 1/1978 der Zeitschrift ZEITBÜHNE, Neuburg (Donau)).
Dieses Zitat Hans-Dietrich Sanders kennzeichnet, obwohl politisch gemeint, sehr treffend auch die Situation, die seit einiger Zeit im Lager der traditions treuen Katholiken anzutreffen ist: die Jagd nach dem Sündenbock! Wer ist es, wer hat die unvergleichlich gefährliche Situation der Kirche heraufbeschworen, fragt man sich. Wer und was steckt dahinter? Welchen geheimen Machenschaften ist die katastrophale Lage zuzuschreiben, welche geheimen Triebkräfte sind dafür verantwortlich? Wo sind die Ursachen für den allgemeinen Verfall der Kirche, für den Ruin des Glaubens? Schwierige Fragen! Und trotzdem, seltsam genug, sind in allen traditionalistischen Publikationen recht plausibel klingende Antworten darauf zu finden.
Die Freimaurer führen zur Zeit in der Beliebtheit als Sündenböcke. Kaum hatte mal einer vollkommen richtig angedeutet, daß eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen den bisher bekannten Zielen der Freimaurer und dem, was wir heute von den Progressisten verkündet bekommen, bestehe, als auch schon von allen Seiten Halali geblasen wurde. Man konnte plötzlich von geheimen Plänen, von raffinierten, auf Jahrzehnte minutiös im voraus geplanten Aktionen lesen. Man las von der unglaublichen Verworfenheit und Gefährlichkeit freimaurerischer Geheimbündelei, die selbst den Vatikan infiltriert hat. Demzufolge sei, so sagen die einen, der Papst ein Gefangener seiner verräterischen Umgebung, die anderen hingegen, der Papst sei demzufolge selber ein Freimaurer und Antichrist.
Die Kommunisten müssen gleichfalls als Sündenböcke herhalten. Sie sollen, so liest man, sozusagen noch schlimmer sein als die Freimaurer, die von diesen nur vorgeschickt sind und mit deren Bündnis sie wichtige Schaltstellen des Vatikans in der Hand halten, von denen aus sie Kirche und die Religion Christi systematisch und mit satanischer Schläue zugrunderichten. Hätte man, so heißt es, unlängst besser aufgepaßt, hätte es heute gar nicht so weit kommen können.
Konzilsgeist, Liberalismus, Demokratismus sind weitere Sündenböcke, die man gestellt zu haben glaubt. Angesichts der somit zahlreich aufgetauchten Sündenböcke wird allerorts recht kräftig Halili geblasen.
Nun, es soll hier keineswegs gesagt werden, daß es nicht so ist. Mag sein, daß die Freimaurer, mag sein, daß die Kommunisten, mag sein, daß Konzilsgeist, Liberalismus, Demokratismus beigetragen haben und noch beitragen zur Zerstörung der Kirche und des Glaubens, ja, daß sie weitgehend dafür verantwortlich sind. Und doch, selbst wenn es feststünde, daß es so wäre, müßten wir uns fragen, ob diese Erkenntnis überhaupt einen Nutzen hat. Zwar ist dieses ganze Bemühen, eine plausible Erklärung für Unerklärliches beizubringen, einen Schuldigen namhaft zu machen für unfaßbare Schuld, menschlich gesehen verständlich, erinnert aber lebhaft an den Deus ex machina, jenen Theatergeist, der vermittels des Bühnenmechanismus just in dem Augenblick hervorgezaubert wird, wenn das Theaterstück seiner zu seinem Fortgang bedarf. Man denkt auch an die Judenverfolgungen zur Zeit der großen Pestseuchen des Mittelalters, als man für das unfaßbare Sterben eine faßbare Erklärung suchte und jemanden, den man dafür verantwortlich machen konnte.
Diese Suche nach einer faßbaren Erklärung, nach einem Sündenbock, ist in Wahrheit das: Angst und Flucht vor Gott! Ist Ausdruck des Zitterns vor der unbegreiflichen Majestät des Ewigen, der die Schicksale des Einzelnen wie der Völker lenkt und dessen anbetungswürdige Gegenwart hinter der Fassade der Geschichte mit einem Male spürbar wird, einer Gegenwart, vor der Moses in Furcht und Zittern niederfiel. Wie bequem wäre doch manchmal so eine einfache historische Erklärung, so ein rettender Sündenbock, der den Anblick des eigenen Ich vor der Majestät Gottes vorerst einmal erspart! Wie sagte doch vorhin Sander: "ihr Halali soll ihnen den Ablaß von der Verfolgung für eigene Teilhabe erkaufen, die in der Regel die Mitschuld des Gejagten übersteigt." Wer hat eine größere Schuld: der Hammer, der die Pieta Michelangelos zertrümmert, oder der, der ihn führt? Wer hat Jesus Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott, hochgelott in Ewigkeit, dem Kreuzestod überliefert? Pontius Pilatus? Der Hohe Rat? Herodes? Das jüdische Volk? Der aufgewiegelte Pöbel? Die kaiserliche Regierung in Rom? Mögen sie immer schuldig sein - aber sie waren doch nur der Hammer (Anm.d.Red.: nicht nur! Die waren auch die, die den Hammer führten.), den wir selber (auch mit-) führten. Wir selbst sind es, die durch unsere Sünden, unsere oft tief innerliche Gemeinheit, durch unsere Anhänglichkeit an das Böse, unsere Feigheit, unsere Untreue, durch unseren mangelnden Gleichklang mit dem Willen Gottes, durch die auch von uns nicht vollzogene Anerkennung seiner Ordnung teilhaben und schuldig sind am Tod unseres Herrn, wir alle, jeder einzelne von uns. Wir alle sind in Wahrheit auch die Sündenböcke, die Schuldigen, die Mitschuldigen, am Elend unserer Kirche und unserer Zeit. Wie bequem, wie einfach wäre es, Freimaurern und Kommunisten den Schwarzen Peter zuschieben zu können, um selber salviert zu sein! "Herr, ich danke dir, daß ich nicht so bin wie diese Verbrecher da! Ich halte treu an der tridentinischen Messe fest, spende regelmäßig für Econe und andere Meßzentren, glaube an sämtliche Marienerscheinungen und halte mich genau an das, was dort vorgeschrieben wurde. Außerdem halte ich mit anderen Rechtgläubigen einmal monatlich eine nächtliche Sühneanbetung, um dir Ersatz zu bieten für die Taten jener Lumpen."
Gott gebe, daß sich keiner findet, der so betet oder so denkt. Denn unsere Rechtgläubigkeit, unsere Beachtung der alten Lehre und alten Satzung, unsere Bitt- und Sühneopfer werden uns ebenso wenig nützen und zur Rechtfertigung dienen wie dem Pharisäer, dem Menschen voll Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit, der alle Schuld immer nur bei anderen suchte und sah, doch nie bei sich. Anstatt Sündenböcke ausfindig zu machen und uns in weisen Erklärungen zu sonnen, sollten wir lieber in uns gehen, tief hinab in den Grund unserer Seele, wo wir Aug in Aug sind mit Gott. Wir sollten dort verweilen, damit wir erkennen, daß wir, wir allein die wahren Schuldigen sind, schlechter als die Kommunisten und Freimaurer, die viel beschimpften und wenig in Gott geliebten, denn sie sind ja nur der Hammer, den wir schwingen. Statt anzuprangern, Schuld zuzusprechen, zu richten, sollten wir flehend beten, für uns, für die Seelen jener, die unsere und Gottes Feinde zu sein scheinen, auf deren Häupter wir aber die glühenden Kohlen unserer Gebete sammeln sollten, auf daß sie wieder unsere Brüder sind. "Brüder", ruft uns der hl. Bernhard von Clairvaux in seinen Ansprachen auf die Adventszeit zu, "ereifert euch nicht ob der Übeltäter! Denkt vielmehr an ihr Ende und habt herzlich Mitleid mit ihnen und betet für die in Sünde Verstrickten. Sie handeln so, die Unglücklichen, weil sie den lieben Gott nicht kennen. Denn hätten sie ihn erkannt, sie würden niemals den Herrn der Herrlichkeit mit solchem Wahnsinn wider sich herausfordern."
Ja, wir müssen ins uns gehen, denn wir sind aufgerufen zu einer wahren, echten und tiefen Bekehrung in dieser Gnadenfrist. Zu einer tiefen Bekehrung, wohlgemerkt, nicht zu Aktionen und Aktivitäten. Und wieder ruft uns der hl. Bernhard zu: "Meine Brüder! Fliehet den Stolz, ich bitte euch, fliehet ihn, soviel ihr könnt; denn der Anfang aller Sünde ist der Stolz." Und so, wie der Stolz am Anfang aller Sünde steht, so steht die Demut am Anfang aller Tugend und ist Grundbedingung für die Gnaden, die Gott uns schenken will. In der Zerknirschung des Herzens, in der Buße, die wir demütig auf uns nehmen, wie immer sie auch geartet sei, im Nachvollzug der Passion des Herrn werden wir aus Schuldigen Entsühnte, eingetaucht in das Blut des Lammes. In dieses Kostbare Blut, das stärker ist als alle unsere Bosheit und alle Bosheit der Welt, wollen wir uns in tiefer Demut hineinversenken und dem Herrn anheimstellen, ohne Bitterkeit, ohne anzuklagen. "Mit Eifer die Gebote der Gerechtigkeit beobachten und sich immerdar für unwert und unnütz halten, das ist, soviel in seiner Macht steht, des Menschen würdige Zubereitung des Thrones für den Herrn der Majestöt." Das sagt uns der heilige Bernhard von Clairvaux, der große Abt und Kirchenlehrer. In seinem Geiste und mit ihm sollten wir oft das folgende Gebet verrichten, das er in tiefer Demut des Herzens vor mehr als 800 Jahren verfaßt hat:
"Gewähre uns Zutritt zu deinem Sohne, o Gebenedeite, Vermittlerinder Gnade, Spenderin des Lebens, Mutter des Heiles, Maria! Durch dich möge uns aufnehmen, der durch dich uns gegeben ward. Deine Unversehrtheit entschuldige vor ihm, was unsere Verderbtheit verschuldet hat; deine Demut, Gott so wohlgefällig, erlange unserem stolzem Sinn Verzeihung. Die Fülle der Liebe bedecke die Menge unserer Sünden, und deine glorreiche Fruchtbarkeit mache fruchtreich unsere kläglichen Verdienste. Du unsere Herrin, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin, versöhne uns deinem Sohne, empfiehl uns deinem Sohne, stelle uns deinem Sohne vor! Weil du Gebenedeite, Gnade gefunden, weil du vor allen anderen auserkoren, weil du uns in Barmherzigkeit geboren, o deshalb lege Fürsprache für uns ein! Er hat durch dich in Huld an unserer Schwachheit und Armseligkeit teilgenommen, er möge auch durch dich uns teilen lassen seine Herrlichkeit und seine Seligkeit: Jesus Christus, dein Sohn, unser Herr, der da ist über alles, Gott, hochgelobt in Ewigkeit. Amen." |