EINIGE GEDANKEN ZUM PROBLEM
DER STÄNDIGEN SEXUELLEN PROVOKATION
von
Eugen Golla
So überraschend es im ersten Augenblick sein mag, ich muß gestehen, daß
sowohl die Ansicht von Herrn Dr. Grohnauer als auch die Gegenstimme des
Herrn Schwörer auf dem Boden des Katholizismus stehen. Allerdings:
Herrn Dr. Grohnauers Aufsatz ist ein dankenswerter Versuch, wie ein
Katholik die sexuelle Reizüberflutung verkraften kann, ohne sich der
Mittel der Askese zu bedienen. Diese, die in unzähligen Schriften der
Kirche - am populärsten in der "Nachfolge Christi" - behandelt wird,
vertritt Herr Schwörer.
Hierbei zeigt es sich aber, daß er die Askese nicht vom richtigen
Blickwinkel aus betrachtet, weil er den Unterschied zwischen den
Pflichten des Mönches (natürlich auch des Priesters) und des Laien nur
in der Übernahme des Zölibats sieht - gewiß der einschneidendsten und
auch am leichtesten zu umschreibenden Verpflichtung. Dadurch
berücksichtigt er aber nicht das, was ja Herr Dr. Grohnauer in seiner
Antwort deutlich hervorgehoben hat und ich für das wichtigste in meiner
Argumentation halte: daß die mönchische Lebenshaltung auf eine
intensivere Weise von der Askese d.h., vom Abgestorbensein für die Welt
geprägt sein muß. Hierzu erhält der durch die Gelübde Verpflichtete,
durch seine Weihe, das abgesonderte Leben und die Gebetsübungen
besondere Gnaden, die es ihm ermöglichen sollen, den strengeren Weg,
den Weg der Vollkommenheit, gehen zu können. Es wird somit in der
Vielfalt der Situationen, in die das Leben den Menschen stellt, für ihn
manches Sünde oder schwer sündhaft sein, was für den Laien keine oder
nur eine leichte Sünde ist.
Die Moraltheologie anerkennt daher nicht nur den freien Willen des
Menschen, sondern berücksichtigt auch seinen jeweils besonderen
Charakter, die Situation, in der er sich befindet, und seinen Stand;
aber darüber hinaus weiß sie auch Bescheid über die verschiedenartige
Beurteilung der Sünde seitens des Beichtvaters. Im Gegensatz zur streng
asketischen Auffassung gibt es sehr viele Fälle, bei denen Erlaubtheit
oder Unerlaubtheit nicht ohne weiteres aus den Geboten abgelesen werden
können. Aus dieser Haltung hat sich im 16. Jahrhundert der
Probabilismus herausgebildet, nach dessen Lehre bei unlösbaren Zweifeln
des Gewissens das Gesetz nicht verpflichtet, weil als erlaubt anzusehen
ist, was nicht verboten ist. Ludwig von Pastor, ein Laie, aber ein
Mann, dessen ganzes Leben in den Dienst der Kirche gestellt war,
schreibt in seiner Geschichte der Päpste über den Probabilismus: "im
ganzen zeigt die probabilistische Kasuistik einen menschenfreundlichen
Zug, ein Streben, den Weg zum Himmel nicht enger zu machen, als man ihn
machen muß, ein Verständnis für den Menschen, wie er nun einmal ist,
und für die Schwierigkeiten, mit denen er im Leben zu ringen hat. Die
nähere Anleitung zur Vollkommenheit des christlichen Lebens überläßt
sie den Aszeten; aber eben dadurch, daß sie das Gebiet des streng
Pflichtmäßigen genau umgrenzt, schafft sie Raum für den Aufschwung der
Großmut und Liebe, die mehr tun will als das Pflichtmäßige." Nur um
Mißverständnisse zu vermeiden,erwähne ich, daß sich der Probabilismus
vom Laxismus, einem Moralsystem, das eine Handlung auch bei einer
geringen Wahrscheinlichkeit für ihre Erlaubtheit noch für erlaubt hält
und das kirchlich verurteilt ist, deutlich unterscheidet.
Betrachten wir nun das 6. Gebot! Seine lapidare Kürze zwingt uns
direkt, die verschiedenen Lebensverhältnisse speziell zu regeln. Wo
beginnt die Sünde, wo die schwere Verfehlung? Selbstverständlich ist
mir bekannt, daß sich viele Sünden widerspruchlos einordnen lassen;
eine Blütenlese solcher Verstöße gegen Gottes Gebote glaube ich mir
ersparen zu können, denn bei dem Thema handelt es sich nur um
Grenzfälle.
Totale Nacktheit ist auf jeden Fall Sünde, denn sie steht im
Widerspruch zu Genesis 3,21, wie schon Herr Schwörer zitiert hat. -
Aber schnoddrig gesprochen: Wo beginnt der sexuelle Reiz, d.h.
sündhafte Entblößung? Als die Kleider der Damen bis zur Erde reichten,
waren ein zierlicher Fuß - von den Waden gar nicht zu sprechen -
Objekte des Eros; bei den verschleierten Orientalinnen die Augen. Es
dürfte wohl als Axiom gelten können, daß die verborgenen Teile des
Körpers in den Dienst der Sexualisierung gestellt werden. Und nun der
Bikini! Ob die Trägerin ein schöner Anblick ist oder nicht, ist für
unseren Problemkreis unwichtig. Aber das muß offen gesagt werden: Wären
vor 5o-7o Jahren die Katholiken - oder die gesamte Christenheit - wie
eine Phalanx zusammengestanden und hätten bis zum letzten für die
Beibehaltung der Trennung der Geschlechter beim Baden gekämpft, dann
wäre ihnen - vielleicht - wenigstens ein Teilerfolg gelungen. So aber
ist das Familienbad ein nicht mehr wegzudenkender Teil unserer
Zivilisation geworden - schon oder gerade auch für die Jugendlichen.
Msgr. A. M. Rathgeber lehnt in seinem Buche "Wissen Sie Bescheid?"
(Auflage v.1962) das Familienbad nicht ab, wenn er auch darauf
hinweist, daß es zur Erstickung des natürlichen Schamgefühls beiträgt
und besonders unter der reifenden Jugend vorzeitige Geschlechtserregung
wecken kann.
Darf also der Katholik ohne in Gewissenskonflikte zu geraten, das
Familienbad besuchen? Die Apostel und somit auch andere Christen
besuchten im Römischen Reiche die öffentlichen Bäder. Angeblich soll
nur unter den sittlich hochstehenden Kaisern die Geschlechtertrennung
durchgeführt gewesen sein; Kulturhistoriker mögen sich bitte zu Wort
melden!
Eins steht fest: Wer baden gehen will, dem kann man nicht als Rezept
mitgeben, er möge wegschauen. Bitte nicht begaffen, aber auch nicht
wegschauen! Dann lieber gleich vom Baden fernbleiben! Wie nutzlos wäre
das Abwenden der Blicke vollends dann, wenn eines Tages die Mini-Röcke
wieder große Mode werden sollten. Der Katholik soll gewiß nicht in den
Erkenntnissen der Psychologie und Psychiatrie das letzte Heilmittel
sehen; daß es aber so etwas wie Verklemmtsein gibt und daß ständige
Schuldgefühle letztlich von Gott wegziehen können und dann ein Triumph
Satans sind, gehört aber auch zu den Binsenwahrheiten.
Zu Recht sagt daher Herr Dr. Grohnauer, daß man ein Weib ohne
Begehrlichkeit anschauen kann, wenn man das zu sehen gelernt hat. Der
Katholik wird in unserer Zeit diese Aufgabe bewältigen müssen, ob er
will oder nicht. Wenn wir so handeln, finden wir auch dann den rechten
Weg für die Probleme Illustrierte, Schund, Reklame, Fernsehen u.s.w.
Jedenfalls mit solch übertriebenen und pathetischen Formulierungen wie
"zu begaffendes Material", "Zur Verfügungstellen der weiblichen
Familienmitglieder", "Schaubedürfnisse" u.s.w. hat der Kritiker des
Herrn Dr. Grohnauer keinen positiven Beitrag zur Bewältigung geleistet,
vielmehr die Situation in einer verzerrten Perspektive dargestellt. Wie
ein Skifahrer auf einem schneefreien Hang sich nicht so verhalten kann,
als wäre er schneebedeckt, so können wir uns heute nicht so benehmen,
als lebten wir noch im Victorianischen Zeitalter, das zweifellos besser
erzogene - weil komplett angezogene - Menschen hervorbrachte, die aber
deshalb nicht sittenreiner waren.
Ich möchte nicht abschließen, ohne noch besonders darauf hinzuweisen,
daß mir nichts ferner liegt, als die asketische Auffassung
herabzusetzen oder lächerlich zu machen. Im Gegenteil, sie ist und
bleibt eine unserer kostbarsten Schätze. Aber in der Folgerichtigkeit,
daß Jesus nicht von allen das Gleiche verlangt hat, gewährt die Kirche
in Grenzfällen schwieriger Situationen und nach sorgfältiger Prüfung
Erleichterungen; das heißt, es gibt auch eine Gewissensverantwortung
und diese muß, als Wertmaßstab angelegt, nicht pharisäisch und ein
Zeichen der Bequemlichkeit sein.
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