54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
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1. Flüchtlingskrise oder Staatskrise?
2. Feiern weitgehend friedlich ... oder doch nicht?
3. „Er sah ihn und ging vorüber“ – Priester ohne kirchliche Sendung: das Legitimitätsproblem
4. Am Ende der Nacht
5. Islam und Islamismus
6. Die Seele wandert durch die Nacht ...
7. Buchbesprechung:
8. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN...
9. Mitteilungen der Redaktion
Die Seele wandert durch die Nacht ...
 
Die Seele  wandert durch die Nacht ...

von
Eberhard Heller

„Wege entstehen dadurch, daß man sie geht.“
Franz Kafka


Herr Obermeier war alt geworden. Seit dem Tod seiner Frau, die bei einem Autounfall vor 12 Jahren tragisch ums Leben gekommen war, hatte er nur noch nachts gearbeitet: Von 10 Uhr abends bis morgens um 6 Uhr. Er hatte den plötzlichen Tod seiner Frau nicht überwunden. Seine Bitterkeit hatte seine beiden Söhne aus dem Haus getrieben. Nur manchmal kamen sie ihn besuchen. Die Einsamkeit und der Gram hatten ihn verstummen lassen. Freunde kamen ihn nur selten besuchen. Was gab es auch noch mit Herrn Obermeier zu reden. Jeder Funke von Freude war in ihm abgestorben. Das Leben war an ihm vorbeigegangen. Das einzige, was ihn hoch hielt, war die Arbeit als Wachmann. Da konnte er seinen zermürbenden Gedanken nachhängen, die ihn immer tiefer in seine Trübsal hineinführten. Sein Chef hatte ihm sogar zugestanden, in der Firma länger seinen Dienst zu tuen. Doch das Alter drückte auch ihn. Nun war er aber nicht nur alt, sondern auch müde geworden. Er legte sich auf sein Sofa, nur 10 Minuten wollte er ausspannen, denn dann mußte er wieder zur Arbeit in seine Firma, zu seinen Kollegen, die einzigen, die ihm treu geblieben war...

Herr Obermeier war eingenickt und schlief fest ein. Ob er wohl die Fahrt zu seiner Arbeit verschlafen würde?. Aber seine Seele wachte über ihn und überließ ihn seinen bitteren Träumen. Aber was sollte sie machen? In die Firma gehen, um zu melden, daß Herr Obermeier heute Nacht eventuell nicht zur Arbeit erscheinen würde, weil er auf dem Sofa eingeschlafen war? Wußte sie denn überhaupt, wo er arbeitete? Sie suchte in Obermeiers Manteltaschen. Endlich fand sie auf einem Lohnzettel auch die Adresse der Firma: „P und A“ in der Heimarstraße 66. So alt war auch Obermeier schon geworden. Aber wie sollte sie dort hin kommen? Die Seele machte sich auf den Weg. Sie wollte einfach den Weg erkunden und ging nach draußen. Aber da war es dunkel und kalt, Nebel hatte sich über die Stadt gelegt, der immer dichter wurde. Die Seele sah fast nichts. Sie kehrte um, doch da merkte sie, daß sie die Tür einfach hinter sich zugezogen hatte und daß sie nun verschlossen war. Herrn Obermeier wecken? Nein, das ging nicht! So suchte sie nach einem offenen Kellerfenster und stieg dort ein. Sie fand auch Herrn Obermeiers Taschenlampe und einen Mantel, denn draußen war es auch bitter kalt. So konnte sie sich den Weg ausleuchten. Es war das erste Mal, daß sie ohne Herrn Obermeier auf Entdeckungsreise ging. Die Autos fuhren im Schrittempo an ihm vorbei, mühsam mit ihren Nebelleuchten die Straße kontrollierend.

An der nächsten Straßenecke wäre sie fast über einen streunenden Hund gestolpert, der wie sie in dem undurchdringlichen Dunkel der Nacht wie verloren wirkte. Als die Seele endlich ihren Lichtkegel auf ihn richtete, schauten sie zwei verängstigte Augen an. Irgendwo hatte sie diese Augen schon einmal gesehen. War es damals, als Herr Obermeier vom Unfall seiner Frau erfahren hatte? oder war es, als Herrn Obermeiers erster Sohn seinem Vater erzählte, daß seine Freundin ihn verlassen hatte?

Während die Seele ihren Gedanken nachhing, war der Hund längst im Dickicht der Nacht verschwunden. Die Seele setzte ihre Wanderung fort. Was wollte sie eigentlich mitten in der Nacht… bei diesem Nebel, der alles umschloss und verbarg? Ach ja, sie wollte in Obermeiers Firma, um dort zu melden, daß er nicht kommen würde. Nein, das war ihr jetzt irgendwie zu dumm. Was wollte sie wirklich? Die Seele überlegte: Besser wäre es, einen Menschen finden, mit dem sie ihre und Obermeiers Einsamkeit hätte teilen können und der mit ihr versuchte, die eigene Verschlossenheit aufzubrechen, in die sich Herr Obermeier nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen hatte.

Da drang, erst verhalten, dann immer lauter und dröhnender Disco-Musik an ihr Ohr. Sie ging der Musik nach und stand dann an der Tür zur Disco, wo sich die Leuchtschrift über dem Eingang gegen den Nebel durchgesetzt hatte. Die jungen Leute, die in die Bar wollten, mußten am Eingang ihren Personalausweis vorzeigen. Aber so einen Ausweis hatte sie ja nicht. Sie hatte ja nicht einmal einen Namen. Da machte sich die Seele unsichtbar und schlüpfte am Kontrolleur vorbei. Aber innen zeigte sie sich wieder in sichtbarer Gestalt. Nach einer Weile, in der sie einmal umherschaute, wurde sie von einem Besucher angehalten. "Wie heißt Du?" fragte er die Seele. Die Seele zögerte. „Ja, weißt Du nicht, wie Du heißt?" fragte der Barbesucher. Wie sollte sie sich auch ohne Namen mit den Menschen unterhalten können. Einfach: "Ich heiße Seele", das war doch kein Name. Da fiel ihr ein, daß Herr Obermeier zwei Vornamen hatte, Christian und Ernst. Die Seele nahm den zweiten Vornamen. "Ernst" paßte gut zu ihr. So war nun die Seele als Ernst in der Disco. Die jungen Leute tanzten nicht zusammen, sondern jeder für sich allein. Tanzen hatte Ernst anders in Erinnerung. Das, was er sah, war eher ein ständiges Verrenken: ein Knäuel zappelnder und hüpfender Jungen und Mädchen. Ernst hielt Ausschau nach einem freien Platz, von wo er dem Treiben ungestört zuschauen wollte. Aber da waren die Plätze belegt. Wieder machte sich die Seele Ernst unsichtbar und nahm am Fenstersims Platz. Von dem Getümmel war ihm fast schwindelig geworden. Da erspäht er ein Mädchen, das saß auf einer Bank ganz allein. Ob ihre Eltern wußten, wo sie war? Ernst glitt von dem Sims zu ihr auf die Bank und schaute in ihr Gesicht. Enttäuschung stand da geschrieben. Ob sie Streit mit ihrem Begleiter gehabt hatte? Nein, die Traurigkeit, die schon begann, auch Ernst zu ergreifen, hatte andere Ursachen. Aber welche? Sollte er sie fragen, sollte er ihr ein tröstendes Wort sagen? Vielleicht würde sie sich freuen, wenn sie ihren Kummer von der Seele reden könnte. Ernst sprach das Mädchen mit den traurigen Augen an: "Was ist denn passiert, warum sitzt Du hier allein, wo doch alle tanzen?" Erschrocken drehte sich das Mädchen um, sah aber den Sprecher nicht. Ernst hatte vergessen, daß er ja unsichtbar war. Um das Mädchen nicht noch mehr zu erschrecken, schwieg er.

Ernst schaute in die Runde. Einige der Jungen und Mädchen auf der Tanzfläche bewegten sich wie in Trance, sie machten einen gelösten Eindruck so, als könnten sie eine unsichtbare Last abschütteln. Die meisten tanzten aber so, als ob sie einen Härtetest bestehen, als ob sie Fronarbeit absolvieren müßten. Sie schauten verbiestert drein, im Rhythmus der hämmernden Musik: Gefangene ihrer Einsamkeit. "Nein, hier willst Du nicht bleiben", sagte Ernst zu sich. Und unsichtbar wie er gekommen, entschwand Ernst dem Getümmel. Draußen nahm er wieder seine sichtbare Gestalt an. Vor sich sah er das Mädchen, das er in der Disco getroffen hatte. Ob er sie ansprechen sollte? Aber er wagte es nicht, wie sollte er sie auch trösten?

Längst hatte Ernst vergessen, wegen Herrn Obermeier in der Firma vorzusprechen. Vielleicht schaffte er es noch, pünktlich zu erscheinen. Die Begegnungen mit all den Menschen waren für ihn völlig neu und bewegten ihn. Herr Obermeier war nie mit ihm in der Stadt unterwegs gewesen. Ob er wohl jemand finden würde, der Herrn Obermeier aus seiner Einsamkeit herausreißen, der ihm ein wenig Freude vermitteln könnte? Ernst ging die Straße entlang, die direkt auf die Kirche zulief. Ab und zu traf er Anwohner, die sich ihren Weg durch den Nebel bahnten. Manche grüßten ihn. Auch einen kleinen Jungen traf er, der weinend vor sich her trabte.  „Warum bist Du denn nicht zu Hause, was machst Du bei diesem Wetter und so spät noch auf der Straße?" fragte Ernst. „Zu Hause schaut es noch düsterer aus, da streiten sich meine Eltern, und das fast jeden Abend. Das halte ich nicht aus!" „Willst Du mich ein wenig begleiten, bis wir ein nettes Lokal gefunden haben?" Aber ach, da braucht man ja Geld. Und Geld hatte Ernst auch nicht dabei. So war er froh, als der Junge dankend ablehnte.

Ernst kam an einem Kino vorbei. Gerade war die Vorstellung zu Ende gegangen und die Besucher strömten auf die Straße. Ihre Gesichter, die durch den netten Film aufgehellt und entspannt waren, verdüsterten sich wieder, als sie von den Nebelschwaden eingehüllt wurden. Alle Freude schien wie weggeblasen, weggeweht von dem kalten Nebel.

Ernst fror, es war bitterkalt. Etwas Warmes würde ihm gut tun. Er kam an einem Haus vorbei. Über dem Eingang hing ein Leuchtkasten, der mit seinem Schriftzug „Zum Blauen Bock“ darauf hinwies, daß dieses Haus eine einfache Wirtschaft war, in der die Anwohner aus den umliegenden Straßen ihr Bier tranken. Es kam ihm bekannt vor. „Ah“, dachte er, „da verkehrt ja auch Herr Obermeier.“ Lautes Geschrei drang an sein Ohr. Ernst trat ein. An der Bar saßen einige Leute, die ihren Ärger oder Kummer mit ein paar Gläsern hinunterspülen wollten. So richtig klappte es aber nicht, weswegen sie noch eines bestellten. Auf dem Bildschirm in der hinteren Gaststube verfolgten die Gäste ein Fußballspiel. Gerade feierten sie den Sieg ihrer Mannschaft. Sofort war er umringt von so vielen Menschen, die auf ihn einredeten und ihm ihre Freude über den Sieg vermitteln wollten. Einer der Fans kam auf Ernst zu: „Komm, trink einen mit uns, wir haben gewonnen!“ Der Schnaps tat ihm gut, ihm wurde wieder richtig warm. Mit Schrecken stellte er fest, daß er ja gar kein Geld dabei hatte, um sich etwas bestellen zu können. Das hatte er in Herrn Obermeiers Hose stecken lassen. Wozu braucht auch eine Seele normalerweise Geld? Darum war er froh, daß er eingeladen worden war. Ernst nahm alles geduldig in sich auf. Das war ihm alles neu. Nie war Herr Obermeier zu einem Fußballspiel gegangen. Die Fußballfans waren zwar laut, aber eigentlich ganz nett. Sie freuten sich einfach über den Sieg ihrer Mannschaft.

Ernst wandte sich um. An der Bar gewahrte er neben einigen älteren Herrschaften auch ein junges Paar. Das lehnte an dem Tresen, beide starrten vor sich hin und sprachen kein Wort miteinander. Sicherlich hatten sie Probleme. Sollte Ernst sie ansprechen? Hatten sie Streit gehabt, hatten sie Kummer, war der Mann vielleicht aus der Arbeit gefeuert worden? Ernst nahm neben ihnen an der Bar Platz. Ein weiterer Gast nippte an seinem Glas und murmelte vor sich hin, aber Ernst verstand ihn nicht. Da fiel sein Blick auf einen älteren Herrn, der etwas gepflegter gekleidet war als die übrigen. Vielleicht kam er aus einem Büro oder Geschäft. Hier saß er aber mit finsterer Miene. Etwas mußte schief gelaufen sein. Ein Bier nach dem anderen trank er hastig. Da merkte er, daß er von Ernst beobachtet wurde. Er sah auf und blickte Ernst irritiert an, wollte etwas sagen, überlegte es sich dann anders, weil er sich sagte, daß ihm ein Gespräch mit einem Fremden nichts bringen würde. Aber vielleicht das nächste Bier? Aber dann wandte er sich doch Ernst zu, der ihn mit aufmerksamen Augen verfolgt hatte. Unvermittelt brach es dann aus ihm heraus. Als wenn er ein Selbstgespräch führen würde, sagte er – sich Ernst zuwendend: „Ich habe heute Mittag einen Anruf aus dem Krankenhaus erhalten, meine Frau liegt auf der Intensivstation. Eine Freundin  habe sie zu Hause gefunden, wie sie auf dem Boden lag, regungslos. Der Notarzt hatte einen Schlaganfall festgestellt und sie sofort ins Krankenhaus bringen lassen. Er sei sofort aus seinem Büro zu ihr geeilt. Seine Frau lag da, angeschlossen an medizinische Geräte. Man könne noch nicht viel sagen, so der behandelnde Arzt, aber er müsse in Zukunft viel Geduld aufbringen, bis seine Frau wieder einigermaßen gesund sein würde. Voll Mitgefühl legte Ernst seine Hand auf die Schultern seines Gesprächspartners. Ja, er konnte die Sorgen des Unbekannten nachempfinden, hatte doch Herr Obermeier durch den unerwarteten Tod seiner Frau viel Leid tragen müssen, das ihn immer noch bedrückte. Eher flüsternd sagte er dann: „Ich werde für Ihre Frau beten.“ „Danke“ kann es zurück. Ein solches Versprechen hatte der Mann lange nicht mehr erhalten.

Ernst sollte in dieser Nacht noch mehrere denkwürdige Begegnungen haben. Die Leute suchten das Gespräch mit ihm, weil sich die einen von ihm verstanden wußten, die anderen, die fühlten, daß sie ihre Schuld, die sie auf sich geladen hatten, scheinbar bequem bei ihm abladen konnten, denn Ernst war in der Tat eine sehr duldsame Seele. Ein Mann kam auf ihn zu – Ernst hatte gerade an seinem Bier genippt – und setzte sich zu ihm. Bald war das Gespräch vom Fußball zu dem Thema gewechselt, welches den Mann bedrückte. Seine Frau hatte Krebs gehabt und war daran schon früh verstorben... und plötzlich stand er mit drei Kindern alleine da. Der Jüngste war gerade einmal neun. Wie sollte er denn die Mutter ersetzen? Ernst drückte dem Mann mitfühlend die Hand, denn er wußte ja selbst, was es heißt, die Frau zu verlieren. Ernst schaute in ein paar Augen, deren Trauer ihn fast zu Tränen gerührt hätten. Er hätte ihm gerne geholfen, aber wie? Er mußte doch irgendwann wieder zu Herrn Obermeier einkehren. Aber das wollte er dem Witwer doch sagen: „Auch meine Frau ist früh verstorben, bei einem Autounfall. Ich habe versucht, diesen Schlag zu akzeptieren, als Schicksalsschlag, und dann kann man auch nach vorwärts schauen. “ Ein stummes Nicken war die Antwort. Aber so einen Satz hätte Obermeier selbst nie über seine Lippen gebracht.

Ernst verließ das Gasthaus. Die Traurigkeit der Gäste an der Bar hatte ihn tief berührt. Wie hätte er ihnen helfen können und wo sollten all die Bedrückten ihre Hoffnung, ihren Mut tanken. Wo? Ernst mußte feststellen, daß er ja selbst in Einsamkeit gefangen war, wie draußen die Nebel alles gefangen hielten. Als er schon in der Tür stand, stieß er mit einem Mann zusammen, der es offensichtlich sehr eilig hatte. „Können Sie denn nicht aufpassen!“ schnauzte er Ernst an. Doch als er gewahr wurde, daß Ernst schon ein betagter älterer Herr war, wurde er milder gestimmt: „Es ist nichts passiert.“ Das klang schon eher wie eine Entschuldigung. Die Blicke beider Männer begegneten sich. Und der milde Blick von Ernst machte den Mann gesprächig. Beide verließen sie das Lokal. „Wenn Sie gestatten, würde ich Sie gerne ein wenig begleiten“, fing der Mann an, der nach Ernst Einschätzung vielleicht 35 oder 40 Jahre alt sein dürfte. „Ja gerne“, sagte Ernst. Zunächst gingen sie schweigend nebeneinander her. Doch dann fing der Mann an unversehens zu reden. Er sei in das Wirtshaus gegangen, um seinen Ärger herunter zu spülen, weil er mit seiner Frau gestritten hatte. Sie habe ihm vorgeworfen, daß er sich nicht genug um seine Familie kümmere, weder um sie noch um die Kinder. „Was will sie denn! Weiß sie denn nicht, daß ich in meinem Beruf bis zum Anschlag eingespannt bin, ja häufig Überstunden absolvieren muß. Ich bin froh, wenn ich abends Ruhe habe und am Wochenende einmal ausschlafen kann.“ Das müßte seiner Frau doch einleuchten. Das, was Ernst nun dem Mann an seiner Seite, der sich als Herr Quirin vorgestellt hatte, nun antwortete, dürfte dem nicht besonders gefallen. Wie viele Kinder er denn habe, fragte er ihn. „Vier“, war die Antwort. „Vier Kinder sind für eine Mutter eine große Belastung, die viel Kraft kostet“, redete Ernst weiter. Und wenn er, Herr Quirin, auf sein freies und entspanntes Wochenende pochte, bliebe seine Frau ohne Pause weiter eingespannt in eine anstrengende Arbeit. Ob sich das Herr Quirin einmal überlegt habe? Und ohne Pause könne die Hausarbeit auch zermürben. Er solle sich doch überlegen, wie sie beide das Wochenende gestalten könnten, damit beide auch ein wenig Ruhe und Erholung hätten. Verärgert über diesen Hinweis, die Herr Quirin als Zurechtweisung empfand, verabschiedete er sich von Ernst sehr plötzlich. Ob er wohl auf seine Frau Rücksicht nehmen würde? In Zukunft?

Ernst ging die Straße weiter entlang. Die Straßenlaternen hatte Mühe, die Gehsteige zu erleuchten. Wie sich Ernst der Kirche näherte, sah er auf dem gegenüberliegenden Gehsteig schemenhaft eine Person, die anscheinend das gleiche Ziel hatte wie er: die Kirche. Eigenartigerweise war das Portal nicht verschlossen, so, als ob man auf ihn gewartet hätte. Als er in die Kirche eintrat, erkannte er auch die Person, die sich von der anderen Straßenseite der Kirche genähert hatte. Es war das Mädchen, welches er in der Disco angesprochen hatte. Ihre Augen waren immer noch voll Traurigkeit. Sie war gekommen, um ihren Kummer Gott anzuvertrauen. Doch Gott war nicht da, die Menschen hatten ihn aus der Kirche verbannt. Am Hochaltar brannte kein ewiges Licht, welches Ernst von früher so vertraut war. Doch von all dem wußte das Mädchen nichts… aber Gott gab ihr Trost.

 „Darf ich Dich ein wenig begleiten?" fragte Ernst das Mädchen, als sie aus der Kirche wieder auf die Straße traten. „Mitten in der Nacht läufst Du ganz allein auf der Straße und dann noch in dieser tief schwarzen Nacht." Das Mädchen schaute Ernst überrascht an. Sie sah in ein Paar gütige Augen, und dahinter den Schmerz, den die Trauer gebiert. „Gerne", sagte das Mädchen. Es hieß wie die verstorbene Frau von Herrn Obermeier Dorothea. Das Mädchen hatte den letzten Bus verpaßt. Mit Ernst ging sie nun zielstrebig auf ihr Elternhaus zu. Sollte er sich ihr als der zu erkennen geben, der sie in der Disco angesprochen hatte? Da hätte er Dorothea länger erklären müssen, daß er ja eigentlich ein geistiges Wesen war. Das zu erklären, war ihm dann doch zu mühsam. Endlich kamen sie bei Dorotheas Elternhaus an, das am Stadtrand lag. Beim Abschied blitzte dann doch ein Funke von Freude und Dankbarkeit aus Dorotheas Augen: „Vielen Dank", sagte sie noch und dann war Ernst wieder allein.

Langsam verzogen sich die Nebelschwaden, ein auffrischender Wind von der Wüste her trieb sie vor sich her. Im Osten zeigten sich die ersten zarten rosa Streifen am Horizont, die die aufgehende Sonne erahnen ließen. Sollte sich das Ende dieser schwarzen, undurchdringlichen Nacht anbahnen? Längst hatte er die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen. Was wollte er eigentlich hier draußen?

Ernst eilte weiter, dorthin, woher der Wind wehte, in die öde Landschaft, die sich immer mehr zur Wüste formierte. Was wollte er eigentlich in dieser kargen, menschenleeren Gegend? Wollte er einfach zur Ruhe kommen nach all den Enttäuschungen und den belastenden Begegnungen mit den Mitmenschen? Was war nur mit den Menschen, denen er bisher begegnet war, waren sie deshalb so freudlos und mürrisch, weil sie Gott vergessen hatten? Sie wirkten bedrückt, aber ohne wirklich zu leiden, sie wirkten heimatlos, ohne diese zu vermissen. Die Schmerzen, die sie trugen, adelten sie nicht. Hatte er nicht sogar Leute angetroffen, die sich Masken umbanden, um ihre Bosheit zu verbergen? Fand Ernst, die Seele von Herrn Obermeier hier draußen Ruhe und Frieden? in der Verlassenheit, wo ihm kein Mensch begegnete. Nur ein Adler drehte hoch oben seine Kreise. Er war die sichtbare Verkörperung dieser geistigen Einsamkeit! Aber den konnte Ernst nicht sehen, es war noch zu dunkel. Ernst ging weiter, direkt in die Wüste hinein. Da gab es keine Verschmutzung, aber dort zu wohnen, war gefährlich: kein Leben, kein Wasser, alles dürr und trocken.

Ernst freute sich zunächst über die Sauberkeit. Endlich konnte er wieder richtig durchatmen. Die Luft war trocken und klar. Über ihm wölbte sich ein wunderschöner Sternenhimmel, der hier und da seine Feuerzungen zur Erde sandte. Die Sternschnuppen glühten hell auf und erloschen sogleich wieder. Je weiter er sich aber in diese unwirkliche Landschaft vorwagte, um so klarer wurde ihm auch, daß in dieser kargen Gegend, in der er bisher nirgends einen grünen Grashalm entdeckt hatte, kein Leben existieren konnte. Ein Windstoß trieb ihm den aufgestöberten Sand ins Gesicht. Er mußte die Augen schließen. Über den schroffen Felsboden jagten sich die Sandböen wie helle Bänder, die dann wieder vom Wind zerrissen wurden. Nein, hier konnte er nicht bleiben. Durst plagte ihn. Langsam merkte er, wie müde er von der langen Wanderung geworden war. Viele Menschen in der Stadt hatten ihn durch ihr Verhalten abgestoßen, er wollte ihnen entfliehen, weswegen er die Einsamkeit in der Wüste aufgesucht hatte. Aber diese Öde, die erst langsam ihren tödlichen Charakter offenbart hatte, war auch nicht der Ort, wo er seine Wanderschaft beenden und Frieden finden würde. Was sollte er machen? Umkehren? Unschlüssig setzte er sich auf einen der Felsblöcke, die wie aus einer großen Hand verstreut erschienen, und schützte sein Gesicht vor den anspringenden Windstößen, die sich mit einem scharfen, kurzen Pfiff ankündigten. Aus seiner Seele drang ein tiefer Seufzer: "Herr, habe Erbarmen." Er hatte zwar eine Taschenlampe mitgenommen, aber nichts zum Trinken. Er hatte gar nicht daran gedacht, in die Wüste zu gehen. Wo sollte es aber in dieser todbringenden Öde auch Wasser geben?

Auch wenn es schon heller wurde und der Morgen bald darauf seine ersten Strahlen über die Dünen huschen ließ, so war es doch empfindlich kalt. Ernst spürte die Kälte, die an ihm hoch kroch, ihn fröstelte. Doch die Spannung der Nacht fiel hier, wo kein Laut die Ruhe störte, von ihm ab. Er saß auf dem Felsen und dachte noch einmal über die Begegnungen der Nacht nach. Die Menschen. denen er begegnet war, hatten sie ihr Leben als lebenswert angenommen? Welche Erwartungen hatten sie? Hatten sie sich erfüllt? Lebten sie in einem Kreis liebenswerter Menschen oder begegneten ihnen nur Menschen, die einsam, resigniert und ohne Hoffnung, verloren schienen? Doch ihm waren ja auch Menschen begegnet, die ihr Leben mit Sinn erfüllten.

Gerade, als er überlegte, den Rückweg anzutreten, bemerkte er in der Ferne eine Gestalt, die auf ihn zukam. Wer hatte sich hier draußen außer ihm noch verlaufen? Die Gestalt kam immer näher, direkt auf ihn zu. Es war eine Frau, die ihr Gesicht mit einem Schal bedeckt hielt. In der Hand hielt sie einen Krug. Jetzt war sie ganz nahe an ihn herangetreten und nahm den Schal von ihrem Gesicht. "Dorothea!" entfuhr es ihm. Vor ihm stand die verstorbene Frau Obermeier! Ja, es ist seine Frau, die schweigend vor ihm steht. Sie schaut ihn an mit einem wehmütigen Lächeln, das die Traurigkeit zu verbergen sucht, aber aus den Tiefen ihrer Augen leuchtet ihm jene Liebe entgegen, mit der sie ihn in ihrer Ehe immer geliebt hatte. Sie reichte ihm den Krug, der mit Wasser gefüllt war. Er war so benommen, daß er kaum ein Wort hervorbrachte, nur ein „Wie?", was man hätte ergänzen können: "Wie ist es möglich, daß Du hierher zu mir in die Wüste gefunden hast, um meinen Durst zu stillen?" Die Gestalt vor ihm schwieg, sie machte nur eine Geste, die sagen wollte: „Trink, es wird Dir gut tun." Und Ernst setzte den Krug an seinen Mund und trank, denn der Durst hatte schon begonnen, ihn zu quälen. Ernst ist immer noch von der Erscheinung wie gebannt. Steht seine Frau wirklich vor ihm? Schweigend wie sie gekommen ist, verschwindet sie wieder. Aus der Ferne winkt sie noch einmal. Den Schal hatte sie wieder umgelegt. Er wollte ihr folgen, doch mit einer klaren Geste verbot sie ihm, ihr zu folgen.

Benommen blieb Ernst eine Weile stehen. Die Gestalt hatte sich schon weit entfernt und verschwand hinter einer Düne. In seiner Hand aber hielt Ernst immer noch den Krug. Er hatte also nicht geträumt. Und Ernst dachte über die Ehe nach, die Herr Obermeier geführt hatte, an die Jahre nach dem Krieg, wo sie nichts hatten, oder fast nichts, mit dem sie ihre Zukunft hätten planen können, und doch froh waren, für einander dazusein. Wie tapfer hatte doch Dorothea all die Not gemeistert, hatte nicht geklagt. Wie groß war die Freude über ihr erstes Kind, dann die Freude über die beiden anderen, die ihnen noch geschenkt wurden. Und dann den Unfall, den Dorothea nicht überlebt hatte, der jäh alle Freude in Christian Ernst Obermeier ausgelöscht hatte, der ihn in die Resignation und Verdrossenheit getrieben hatte. Und nun das unverhoffte Wiedersehen an jenem Ort der tödlichen Dürre, wo sich Dorothea der Seele ihres Mannes gezeigt hatte. Es war wie eine Verheißung, sie einst für immer wiedersehen zu dürfen. Und an der Grenze zwischen Wüste und Stadt, in den beginnenden Tag entfuhr es Ernst wie eine Befreiung von einer jahrelangen Last: "Herr, Herr Du hast Dich erbarmt."

In der gleichen Stunde macht sich Ernst auf. Bald hat er die tödliche Wüste verlassen und die Stadt mit ihrer morgendlichen Hektik nimmt ihn wieder auf. Der Wind hatte die Nebel vertrieben. Er eilt an vielen Leuten vorbei, die im neu erwachten Morgen zur Arbeit eilen. Er beachtet sie nicht. Zu Hause angekommen, geht Ernst zu Herrn Obermeier und kehrt wieder bei ihm ein, den Krug hält er noch immer in der Hand. Auf der Anrichte stellt er ihn ab.

Von diesem Geräusch wird Herr Obermeier wach. Er schaut auf die Uhr: Er muß doch zur Arbeit! Er schafft es gerade noch! Unterwegs fallen ihm alle Bilder wieder ein, die ihm seine Seele aus der Wüste mitgebracht hat. Ist ihm seine Frau wirklich so nahe? Er war in Gedanken immer nahe. Stets kehrten seine Gedanken zu ihr zurück, umkreisten sie ununterbrochen. Aber nun erfuhr er, daß seine Verbitterung grundlos war, denn auch seine Frau war immer bei ihm geblieben, auch über den Tod hinaus. Herr Obermeier erhebt sich, steht auf, tief atmet er durch. Da ist frische Luft, die seine Lungen gierig aufsaugt. Alle Traurigkeit, aller Gram fällt ab von ihm wie eine dicke Staubschicht oder verbranntes Laub.

Nach der Nachtschicht kommt er nach Hause. Ist dort auf der Anrichte nicht jener Krug, von dem ihm seine Seele erzählt hat? Eine unbändige Hoffnung steigt in ihm auf, so, als ob das Leben für ihn neu beginnt. Im Nu hat er sich umgezogen und macht sich auf den Weg zum Bahnhof. Seine Augen leuchten. Er will seine Söhne besuchen, die vor zwei Jahren ausgezogen waren, weil sie den Gram und die Verbitterung ihres Vaters nicht mehr ertragen konnten. Seither hatte Herr Obermeier weder seine Söhne, noch seine Schwiegertöchter noch seine beiden Enkelkinder Christine und Anna-Maria gesehen. Nein, er will ihnen allen von dem erzählen, was Ernst ihm von seiner Frau berichtet hatte und wie sie seinen Durst nach Befreiung, nach Erlösung gestillt hatte.
 
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