54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
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1. OSTERN 1979*)
2. Die Papstwahl von 1903
3. Das Ende Luthers
4. WAHLHILFE BESONDERER ART -
5. WARNING REGARDING A SUPPOSED BISHOP
6. Nachruf auf Herrn Jean André Perlant
7. DER HL. KONRAD VON PARZHAM
8. ÜBER DAS GEBET
9. FÜR DEN GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICK
10. Der hl. Ignatius von Antiochien
11. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN
12. MITTEILUNGEN DER REDAKTION
Das Ende Luthers
 
Das Ende Luthers

von E.C.
übers. von Eugen Golla
(aus "Societe Augustin Barruel" Nr.21, Mai 1992)


Vorwort der Redaktion:

Bereits vor gut sechs Jahren, als sich im Zuge der 400-Jahrfeier von Luthers Tod auf Seiten der Reform-'Kirche' die Versuche nur so überschlugen, Luther als rechtgläubigen Theologen zu rehabilitieren, haben wir eine Studie des Kölner Psychologen und Theologen Albert Mock ("Abschied von Luther - Psychologische und theologische Reflexionen zum Lutherjahr" - Köln 1985) besprochen, worin dieser den Nachweis führte, daß Luthers Klostereintritt nicht das geringste mit einer tatsächlichen Berufung zu tun hatte - nach dem Willen seines Vaters soltte er Rechtswissenschaften studieren -, sondern daß er ursächlich mit dem Mord an seinem Freund Buntz zusammenhing, den er im Streit erstochen hatte, weswegen er, um der Strafverfolgung zu entgehen, Unterschlupf im Kloster xx suchte und fand. Die Belege für diese Behauptung waren mit historischer Akkribie zusammengestellt und die Vorgänge selbst mit psychologischem Einfühlungsvermögen nachkonstruiert worden. (Vgl. EINSICHT XVII/4 vom Dezember 1987, S. 110-112.) Diese Untersuchungen zu Luthers Person werden im folgenden Beitrag weitergeführt. Darin  analysiert der Autor E.C. die Studie von Roland Dalbiez, einem Psychoanalytiker aus der Schule Freuds, über "die Angst Luthers" (die bei diesem zum Selbstmord geführt hatten). Das Interesse von E.C. ist es zu zeigen, daß mit den Freudschen Kriterien der Psychoanalyse die besonderen Umstände, die Luther in den Selbsmord trieben, nicht adäquat beurteilbar seien und daß die Tat Luthers nur dadurch verständlich wird, wenn man die moralischen Kategorien von Schuld, elementarer Angst vor der Verdammnis und absoluter Verzweiflung anwendet und sie nach diesen Kriterien bewertet.   
E. Heller

***
Martin Luther hatte sein Studium der Rechtswissenschaften am 20. Mai 1505 an der Universität Erfurt begonnen. Leider traf er nach einiger Zeit seinen Freund Hieronymus Buntz. Es kam zum Streit und zum Duell, in welchem Luther seinen Gefährten tötete. Im Juni desselben Jahres begab sich Luther - beunruhigt über die Folgen dieses Mordes - zu seinem Protektor und Freund Johannes Braun, einem Kollegiats-Vikar in Eisenach, um ihn um Rat zu fragen. Dieser empfahl ihm, in ein Kloster einzutreten, um den gerichtlichen Folgen der Affäre zu entgehen. So trat Luther am 17. Juli 1505 in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein. Er kam so in den Genuß des Asylrechtes, das damals von der weltlichen Gerichtsbarkeit anerkannt wurde. Seine erste, von ihm selbst herausgegebene Abhandlung trägt bezeichnenderweise den Titel "De his qui ad ecclesiam confugiunt tam judicibus secularibus quam Ecclesiae Rectoribus et Monasteriorum Praelatis perutilis" ("Über die, welche in der Kirche Zuflucht nehmen; sehr brauchbar für weltliche Richter als auch für Leiter einer Kirche und Prälaten von Klöstern"). Sie erschien 1517 zunächst anonym, in einer neuen Auflage aber unter Luthers Namen. In dieser Schrift wird daran erinnert, daß jemand gemäß dem Gesetz des Moses nicht schuldig sei, wenn er irrtümlich oder unüberlegt jemand getötet hat, ohne sein Feind zu sein. Im Kloster fand Luther jedoch seinen Seelenfrieden nicht. Seine mehr als nur zweifelhafte 'Berufung' war ja nicht der Liebe zu Gebet und Einsamkeit entsprungen, sondern die Furcht vor der Rechtsstrafe gewesen.

Durch sein ererbtes Temperament - unterstützt noch durch die Erziehung in seiner Familie - neigte Martin Luthers Charakter  zu impulsiver, unkontrollierter, ja blinder Gewalttätigkeit. Auf Grund geringster Anlässe handelte er spontan, ohne lange zu überlegen. Zugleich war er ein skrupulöser Mensch, der noch lange nach einer solchen blinden Aktion über den Irrtum oder Fehler nachdachte, den er bei einiger Überlegung hätte vermeiden können. Solche Veranlagung zur Skrupulosität - man findet sie häfig an - steigert sich aber normalerweise zu solch einer Panik, die zum Selbstmord treiben könnte.

Ein während eines Streites verübter Totschlag, der mehr zufällig als vorausgeplant war, hätte niemals diese Krise hervorrrufen können, die sich im Laufe des Lebens bis hin zum Selbstmord hätte steigern können. Dafür muß es noch andere Gründe geben.

Ein der Freudschen Schule zugehöriger Psychoanalytiker, Roland Dalbiez, veröffentlichte unlängst eine Studie über "die Angst Luthers", in welcher er eine sehr seltsame These aufstellt. Er schreibt Luther "eine sehr schwere Angstneurose zu, eine so schwere, daß man sich fragen muß, ob es sich um eine solche handelt, die im Grenzbereich zwischen der Neurose, dem selbstmörderischen Raptus einerseits, oder dem teleologischen antiselbstmörderischen Auomatismus andererseits liegt." (Dalbiez entscheidet sich schließlich für keine der beiden Lösungen und verweist auf das Unterbewußte, das sich ihm so zwanghaft präsentiere.)

Um der Stimme seines Gewissens zu entfliehen, um das in ihm aufsteigende Grauen zu ersticken, nahm Luther zunächst Zuflucht zu einer These, die fälschlich dem hl. Augustinus zugeschrieben wird: über die Rechtfertigung durch den Glauben allein, ohne Werke, mittels der Gnade des Opfers Christi, der die Sünden der Menschen auf sich nahm. Luther hat diese These so ausformuliert: "Man muß auf Christus blicken, damit du, sobald du sehen wirt, daß deine Sünden nachgelassen sind, vor deinen Sünden, dem Tode und der Hölle in Sicherheit sein wirst. Daher wirst du sagen: 'Meine Sünden sind nicht meine, denn sie sind nicht in mir, sie sind in einem anderen, nämlich in Christus, folglich können sie mir nicht schaden.' Tatsächlich ist die äußerste Anstrengung erforderlich, um sich dieser Dinge mittels des Glaubens zu bemächtigen und sie zu glauben, so daß man sagen kann: Ich sündige und ich sündige nicht, damit das Gewissen besiegt werde, dieser überaus mächtige Herrscher, der so oft die Menschheit in die Verzweiflung fortriß, die sie zum Messer oder zum Strick greifen ließ.' Bekannt ist das Beispiel von diesem Menschen, der in Versuchung fiel, aber vor seinem Gewissen sagte: 'Ich habe nicht gesündigt.' In der Tat vermag das Gewissen nur dann ruhig zu sein, wenn die Sünden seinem Blickfeld entzogen sind. Sie müssen folglich dem Blickfeld so entzogen sein, daß du weder auf deine Tat, noch dein Leben, noch dein Gewissen, sondern nur auf Christus blickst." (In Esaiam prophetam" scholia, Kap. 53.)

Dalbiez behauptet, mit diesem Text beweisen zu können, daß Luther versucht hatte, der Angst mittels dem, was er einen "teleologischen anti-selbstmörderischen Automatismus" nennt, zu entfliehen. Wir können diesen Text immer wieder lesen..., einen Automatismus finden wir in ihm nicht, sondern eine ganz und gar sophistische Schlußfolgerung: die Ablehnung der Wahrheit, die direkt ins Auge springt: Ich habe gesündigt, will das aber nicht wahrhaben. Es ist die äußerste Anstrengung (maximus labor) erforderlich, um das Gegenteil von dem zu behaupten, was man als wahr erkannt hatte. Dies ist eine Art, sich in Lügen zu verstricken und sich nach Belieben etwas einzureden, um sich als frei von jedem Fehler und Irrtum bewundern zu können bzw. zu lassen. Aber das Gewissen bleibt unabänderlich das gleiche, wie das Auge, das Kain aus dem Grabe, das er sich selbst grub, anblickte. Dieses in unserer Seele festhaftende Gewissen ist nichts anderes als die Stimme Gottes, der Vernunft. Übrigens erkannte auch Dalbiez an, daß Luthers "Beitritt zur Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein, ihn nicht ganz befriedigte. Kurz, man kann sagen, daß er niemals imstande war, unbedingt an ihr festzuhalten."

Wenn Luther sich sein eigenes religiöses und moralisches System fabrizierte, wußte er dennoch sehr wohl, daß es ein Trugbild war, dem er nicht in allem beizupflichten vermochte. Dies signalisiert die Haltung eines Kindes, das errötend zu seiner Mutter sagt: "Das war ich nicht!"... voll Unruhe, ob seine Lüge auch "ankommen" wird.

Diese Abneigung gegen die Stimme des Gewissen kann nicht nur menschlichen Ursprungs gewesen sein. Sie setzt wahrscheinlich eine dämonische Versuchung voraus. Der Teufel weiß sehr wohl, daß er Herr über die Seele eines Menschen gewinnen kann, wenn sich dieser gegen die vernünftige Stimme des Gewissens auflehnt.

Dalbiez fährt fort: "Man muß es [d.i. das Gewissen] ununterbrochen bekämpfen, denn es droht immer, sich an die Verzweiflung anzulehnen, um den Menschen zu zwingen, sich die Kehle durchzuschneiden oder sich aufzuhängen." [Das ist ein Irrtum!] Die Drohung kommt nicht vom Gewissen, sondern durch eine ablehnende Haltung gegenüber seiner Mahnung: "Für jede Sünde Barmherzigkeit. Ein eingestandener Fehler ist schon halb verziehen." Die Gewissensruhe folgt dem Akt des Eingeständnisses [und der Wiedergutmachung]. Leugnet man aber vor sich selbst, schuldig zu sein, hüllt man sich in einen widersinnigen Stolz ein. Die nicht eingestandene und folglich nicht gesühnte Schuld verfolgt uns unausweichlich. Sie wird quasi zur fixen Idee, dann der Ursprung einer Neurose, die in Selbstmord enden kann, nur weil man der Stimme des Gewissens, d.h. dem Blick Gottes entfliehen will.

Verfolgen wir nun den Weg in den Abgrund, den Luthers Leben darstellt. Wir bsitzen über seine Angstneurosen das Zeugnis Melanch´tons: "Wenn er konzentriert an Gottes Zorn dachte oder an Beispiele des göttlichen Strafgerichtes, wurde er plötzlich von einem solchen Schrecken ergriffen, daß er beinahe sein Bewußtsein verlor. Ich selbst sah ihn anläßlich der Teilnahme an einer Gelehrten-Disputation - bestürzt über deren Ausgang -, wie er sich auf ein Bett im benachbarten Zimmer hinstreckte, wobei er unter Stöhnen folgenden Spruch ausstieß, den er oft wiederholte: "Gott schloß alle Menschen in die Sünde ein, um sich ihrer zu erbarmen." Aber die Menschen sind nicht in der Sünde eingeschlossen, befangen! Sie sind im Besitz der Freiheit, die Versuchung von sich zu weisen. Sie sind nicht die 'Gefangenen' ihres "freien Willens", wie Luther behauptete.

Cochlaeus erzählt uns von einer Krise, in die Luther fiel, als er noch Mönch war. Als er beim Chorgebet aus der Lesung über Besessenen nach dem Markus-Evangelium vortrug, stürzte er plötzlich mit einem Schrei zu Boden: "Das bin ich nicht, das bin ich nicht!"

In einem Fragment der "Tischreden" wird von einem Gespräch Luthers mit dem Pastor Leonhardt von Guben berichtet, welches im Jahre 1515 stattgefunden hat: "Er [d.i. Leonhardt] erzählte uns, daß ihn während seiner Gefangenschaft der Teufel schlimm gequält habe und herzlich lachte. Als er ein Messer in die Hand nahm, sagte er ihm noch: 'Gut, töte dich!' Oft habe er auch ein Messer weit wegwerfen müssen. Ebenso, wenn er auf dem Boden einen Bindfaden liegen sah, hob er ihn auf und drehte ihn zu einem Strick zusammen, an dem man sich aufhängen konnte. Ebenso habe ihn der Teufel soweit gebracht, daß er nicht mehr fähig gewesen sei, das 'Vater Unser' herzusagen, noch die Psalmen zu lesen, die ihm doch so bekannt gewesen wären." Da erwiderte ihm der Doktor Luther: "Dasselbe stieß mir auch oft zu, indem mir, sobald ich ein Messer in die Hand nahm, sogleich üble Gedanken kamen, so daß ich außerstande war zu beten, und der Teufel mich dann aus dem Zimmer schleuderte."

Dalbiez folgert daraus , es sei unmöglich zu bestreiten, daß Luther von der Idee, Selbstmord zu begehen, gepeinigt wurde. Er schreibt: "Dadurch, daß der freie Wille vernichtet gewesen sei, handele es sich aber nicht mehr um eine Versuchung, sondern um einen krankhaften Impuls." Die Behauptung, daß der freie Wille "vernichtet gewesen sei", ist gleichbedeutend mit der Behauptung, die Gnade Gottes vermöge keinen Sünder zu retten, da sich diese Gnade immer an unsere Freiheit wendet. (...)

Gehen wir in unseren Recherchen weiter. Luther blieb bis zu seinem Tod Professor für Exeges in Wittenberg. Unter seinen Studenten befand sich sein Lieblingsschüler Hieronymus Weller. Er war gleichfalls von der Melancholie befallen, versunken in eine krankhafte Traurigkeit, von der er sich schwer lösen konnte. Luther gab ihm folgende Ratschläge: "Jedesmal, wenn dich der Dämon mittels dieser traurigen Gedanken quälen wird, suche sofort die Gemeinschaft von deinesgleichen auf oder beginne zu trinken oder zu spielen, ergeh dich in Scherzen, suche dich zu zerstreuen. Manchmal muß man sogar eine Sünde begehen - aus Haß und Verachtung des Teufels, im ihm so keine Gelegenheit zu geben, uns für nichts Skrupel zu schaffen. (...) Glaubst du etwa, daß ich aus einem anderen Grund weniger Wasser trinke, mich immer weniger in meinen Worten zurückhalte und immer mehr leckere Speisen liebe? Hierdurch will auch ich den Teufel foppen und quälen, ihn, der sich vorbereitet, mich zu quälen und zu verspotten! O, daß ich doch schließlich einige 'gute' Sünden fände, um den Teufel zu prellen, um es ihm begreiflich zu machen, daß ich keine Sünde anerkennen und daß mein Gewissen mir keine vorwirft! Wir müssen völlig den gesamten Dekalog aus unserem Blickfeld enternen, wir, die der Teufel so angreift und so peinigt." In einem Kommentar zum Galater-Brief - erschienen 1535 - fragte Luther, wie das Gesetz aufgehoben worden sei. Wir wissen sehr wohl, daß es sich um das mosaische Gesetz handelt. Hier seine Antwort: "Es war ganz und gar - ohne jede Einschränkung - von der Art, daß es den Gläubigen weder anklagen noch quälen kann, eine Lehre von höchster Wichtigkeit, die von den Dächern verkündet werden müßte, bringt sie doch gewissen Trost, vor allem in den Stunden, wo uns das Entsetzen packt. Ich sagte es oft und wiederhole es nochmals, denn man kann niemals genug sagen: der Christ, welcher durch den Glauben die Wohltat Christi ergreift, steht über allen Gesetzen, er ist frei von allen Verpflichtungen anstelle des Gesetzes. (...) Wenn Thomas [der hl. Thomas v.A.] und die anderen Theologen der Schulen vom Gesetze Mosis sprechen, sagen sie, daß damit gerichtliche und zeremonielle Gesetze der Juden gemeint sind, die aufgehoben wurden, aber daß dies nicht für die Moralgesetze gilt [d.i. der Dekalog]. Sie wissen nicht, was sie sagen."
Wie wir sehen, gibt es bei Luther zwei Aussagen, die sich scheinbar widersprechen, die sich aber in Wirklichkeit sehr gut ergänzen. Auf der einen Seite behauptet er, der Mensch sei in die Sünde eingeschlossen, er vermöge seinem Gewissen nur mittels der Rückübertragung der Sünde auf Christus zu entkommen. Ein Eingeständnis der menschlichen Ohnmacht im Hinblick auf das Heil, eine Verneinung des freien Willens.

In einer zweiten Entwicklungsperiode verlangt er die Befreiung von den Gesetzen der Moral, d.h. er lehnt damit die von Gott aufgegebene und in unsere Natur eingeschriebene natürliche Wertordnung ab... eine Ablehnung jedes durch das Gewissen ausgesprochenen Gebotes der Vernunft. Er will so imstande sein, sich von den unvernünftigen und zügellosen Leidenschaften mireißen zu lassen und zugleich die Vorwürfe des Gewissens mit Lügen und Sophismen, die ihn jedoch nicht mehr weiter täuschen können, in sich ersticken. Das ist die Quadratur des Kreises. Es bleibt nur noch die endgültige Verzweiflung, aus der es dann kein Entrinnen mehr gibt.

Eines Tages, einige Zeit vor seinem Tode, saß Luther an einem schönen Sommerabend auf einer einsamen Bank hinten in seinem Garten in Wittenberg. Seine Frau, Katharina Bora, kam zu ihm. Er war in eine traurige Stille versunken. Seine Gedanken waren zum Himmel gerichtet. Plötzlich schrie er auf: "O schöner Himmel, niemals werde ich dich sehen!" Die unglückliche Katharina Bora, erschreckt von dem, was sie gerade gehört hatte, stand auf und näherte sich ihm: "Wenn wir nun später dorthin zurückkehren?" - "Nein", erwiderte Luther, "unnötig daran zu denken!" - "Weshalb denn?" - "Weil das Fleisch zu tief in den Schmutz trat." Um dem Anblick des Himmels zu entgehen, der seiner Seele so viele Gewissenspein zufügte, erhob sich der Unglückliche und schloß sich in seiner Wohnung ein.

Es war quälender Wahnsinn, der ihn nicht mehr verließ. Die Verzweiflung nagte an seinem Herzen. Ed. Drumond schrieb: "Der Unglückliche wollte manchmal seine Zuflucht zum Gebet nehmen, aber er war dazu nicht imstande. Sogar sein Gebet war ein Aufschrei des Hasses: 'Ich bin nicht imstande zu beten, ohne zu fluchen, und wenn ich sage: Geheiligt sein dein Name, wiederhole ich: verflucht, verurteilt sei der Name Papist. Sage ich: Dein Reich komme, wiederhole ich: verflucht, verurteilt, vernichtet sei das Papsttum! Sage ich: Dein Wille geschehe, wiederhole ich: verflucht, verurteilt seien die Absichten der Papisten! Das ist mein Gebet'".Das Leben des Apostaten wurde wahrhaft zur Hölle. Er fürchtete den Tod so sehr wie er ihn auch in seinen Wünschen herbeirief. "Die Welt hat mich satt und ich bin es ihrer" verkündete er. "Die Trennung wird bald erfolgt sein. Ach, wäre ich ein Türke hier, um mich zu töten ..." In seinen "Tischreden" schrieb er: "Der Teufel verführt die Menschen zuerst zum Ungehorsam und dann zum Verrat wie Judas; darauf stößt er sie so sehr in die Verzweiflung, daß sie dadurch enden, indem sie sich aufhängen oder erwürgen. Denn die Stimme des Teufels hat einen so schrecklichen Klang, daß Menschen nach einem nächtlichen Zwiegespräch mit dem Dämon tagsdarauf tot aufgefunden wurden, was mir oft hätte zustoßen können."

Diese Überlegungen zeigen, welch klaren Blick dieser Mann über seinen eigenen Schicksalsweg besaß. Es ist wohl wahr, daß Selbstmord nicht notwendigerweise immer ein Akt des Wahnsinnes ist, er kann auch ein Akt der letzten Erleuchtung in dämonischer Besessenheit sein. Hier nun der Bericht seines Dieners Rudtfeld über seinen Tod, veröffentlicht vom Gelehrten Sedulius 1606: "Martin Luther ließ sich von seiner gewohnten Unmäßigkeit überwältigen und trank derart im Übermaß, daß wir gezwungen waren, in vollständig betrunken wegzutragen und in sein Bett zu legen. (...) Tagsdarauf begaben wir uns wieder zu unserem Meister, um ihm, wie gewohnt, beim Ankleiden behilflich zu sein. Wir sahen nun - O Schmerz - unseren (wie man ihn nannte) Meister Martin an seinem Bett aufgehängt und elend erstickt. Wir meldeten den Fürsten, seinen Tischgenossen vom Tage vorher, Luthers abscheuliches Ende. Vom Grauen erfaß wie wir, veranlaßten uns diese unter tausend Versprechungen und feierlichsten Schwüren, vor allem über dieses Ereignis für ewig tiefstes Stillschweigen zu bewahren, damit nichts unter die Leute gebracht werde. Sie verlangten von uns, den Strick vom schrecklichen Leichnam Luthers zu entfernen, ihn auf sein Bett zu legen und unter dem Volke zu verbreiten, daß mein Meister plötzlich aus dem Leben geschieden sei." *)

Der herbeigerufene Doktor Coster stellte fest, daß der Mund krampfhaft verzerrt sei, das Antlitz schwarz, der Hals rot und entstellt, wie erdrosselt. Man kann diese Diagnose nachprüfen auf einem Kupferstich, der am Tage nach dem Tode von Lukas Fortnagel angefertigt wurde (veröffentlicht von Jaques Maritain in seinem Werk "Trois reformateurs" auf S. 49). In seinem Buch über "Die drei Reformatoren"  gibt Jaques Maritain u.a. ein beeindruckendes Verzeichnis von Luthers Freunden, Gefährten und ersten Schülern, die Selbstmord verübten. Es war dies eine wahre Epidemie. Georg Besler zum Beispiel, einer der ersten Verkünder des Luthertums in Nürnberg fiel 1536 in eine so tiefe Melancholie, daß er seine Frau inmitten der Nacht verließ und sich einen Speer mitten in die Brust stieß. Es herrscht eine bitter Ironie über diesem Szenarium von Luthers Prädikanten, die Werke zum Trost gegen die Todesfurcht, Gottes Zorn, die Traurigkeit und den Zweifel schrieben, anstatt die Gnade Gottes und das ewige Heil zu vermitteln. Sie wußten nicht, wie sie die Tröstungen anrühmen sollten, welche ihr 'Neues Evangelium' brachte, im Vergleich zu den 'Ängsten', die nach ihren Worten die katholische Lehre hervorgerufen hatte; sie waren vielmehr gezwungen, so öffentlich die Aufmerksamkeit auf das Anwachsen von Verzweiflung und Selbstmord zu lenken in Werken wie z.B. in jenem von J. Magdeburgius: "Ein gutes Heilmittel, um die Qualen und den Trübsinn zu mildern, an denen die Christen leiden" (Lübeck 1555).

Es ist vollkommen klar, daß eine religiöse Lehre, die dem Menschen seinen freien Willen aberkennt, ihm dadurch zugleich die Möglichkeit raubt, etwas für das ewige Heil seiner Seele tun zu können und ihn so der Verzweiflung und dem Selbstmord anheimgibt.

Anmerkung der Redaktion:

*) Die These vom Selbstmord Luthers ist historisch umstritten und mehrfach verworfen worden. Gewöhnlich geht man davon aus, Luther sei am 18.2.1546 morgens um 3 Uhr an Herzarterienverkalkung gestorben, an der er schon länger litt. Die Mˆglichkeit, der Reformator habe Selbstmord begangen, verbreitete zuerst Thomas Bozius 20 Jahre später. Auch wenn man von der Annahme ausgeht, Luther sei eines natürlichen Todes gestorben - es besteht kein Anlaß, uns auf einen Streit mit (protestantischen) Historikern einzulassen -, so ist die hier dargestellte Verstrickung Luthers in Schuld und Verzweiflung, der zu entkommen er den falschen Weg wählte, auch und gerade über unhaltbare theologische Reflexionen, so beredt, daß es für unsere Absicht unbedeutend ist, ob seine Verzweiflung eine endgültige war oder nicht. Zum anderen wird deutlich, dafl bestimmte Grundirrtümer Luthers sehr eng mit herausragenden Ereignissen
in seinem Leben verknüpft sind. (Vgl. dazu auch Grisar: "Luther" 3 Bde., 31924/25.)

E. Heller

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HINWEIS:

H.H. Kaplan Marcel MarmodÈe, der von dem verstorbenen Bischof Dr. Storck am 1.11.1992 zum Priester geweiht wurde, hat seit Beginn dieses Jahres auf die Ausübung seines priesterlichen Amtes resigniert und das Seminar "Heilig Blut" in München verlassen.
 
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