54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
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1. Der hl. Paulus an die Thessolonicher über die Offenbarung des Antichrists
2. Buchbesprechung: Die Unterminierung der (katholischen) Kirche
3. DAS PROBLEM VON FREIHEIT UND FREIEM WILLEN
4. ZEITGEMÄSSE BETRACHTUNGEN
5. BRIEF AN EINE ZEITUNG
6. ÜBER DIE SELIGPREISUNGEN DER BERGPREDIGT
7. DIE HEILIGE KLARA
8. VON DER LIEBESPROBE
9. DIE HEILIGE ZAHL SIEBEN
10. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN
11. Mitteilungen der Redaktion
ÜBER DIE SELIGPREISUNGEN DER BERGPREDIGT
 
ÜBER DIE SELIGPREISUNGEN DER BERGPREDIGT

vom
hl. Leo d.Gr., Papst von 440-461

 
Geliebteste!

   1. Als unser Herr Jesus Christus die frohe Botschaft seines Reiches verkündete und überall in Galiläa die verschiedensten Krankheiten heilte, sprach man in ganz Syrien von seinen Wundertaten. Große Scharen strömten aus dem gesamten Judäa herbei, um beim himmlischen Arzte Heilung zu suchen. (Vgl. u.a. Matth. 4,23 ff.) Da nämlich unwissende Menschen nur schwer dazu zu bewegen sind, das zu glauben, was sie nicht sehen, und das zu hoffen, was sie nicht kennen, so mußten die, welche treue Anhänger der göttlichen Lehre werden sollten, erst durch Wohltaten, die sie an ihrem eigenen Leibe verspürten, und durch sichtbare Wunder dazu angespornt werden, nicht mehr daran zu zweifeln, daß seine Lehre ebenso segensreich sei wie seine Wunderkraft, die sie aus Erfahrung kannten.
 
Um nun die äußere Heilung der Menschen auch ihrer inneren Genesung dienstbar zu machen und nach der Gesundung ihrer Körper auch die ihrer Seelen herbeizuführen, trennte sich der Herr von der Menge, die ihn umgab. Er bestieg einen nahegelegenen Berg und rief seine Apostel herbei, um ihnen von seinem hohen und bedeutungsvollen Sitze aus erhabenere Lehren zu verkünden. Sowohl durch die Art der gewählten Stätte, wie durch das, was er dort tat, wollte er ihnen zeigen, daß er derselbe sei, der dereinst den Moses einer Ansprache gewürdigt hatte (vgl. Exod. 19,1 ff.). Auf dem Sinai offenbarte sich mehr seine Furcht gebietende Gerechtigkeit, hier seine heilige Milde, so daß nunmehr die Verheißung des Propheten Jeremias in Erfüllung ging, der uns sagt: "Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, wo ich mit dem Hause Israel und dem Hause Juda einen neuen Bund schließen werde!" (Hebr. 8,8)  "Nach diesen Tagen, spricht der Herr, werde ich mein Gesetz in ihr Inneres legen, und in ihr Herz werde ich es schreiben." (Hebr. 10,16)  Wie er zu Moses gesprochen hatte, so sprach er also jetzt auch zu den Aposteln. Rasch grub die Hand des Ewigen Wortes die Gebote des Neuen Bundes in ihre Seelen ein. Jetzt war nicht wie ehedem der Berg von dichten Wolken umhüllt. Auch wurde das Volk nicht durch furchtbare Donnerschläge und zuckende Blitze davon abgeschreckt, sich dem Berge zu nähern (vgl. Exod. 19,16-21). Nein, ruhig und deutlich drangen die Worte des Herrn zu den Ohren der Umstehenden. Die Strenge des Gesetzes sollte aufgehoben werden durch das Evangelium der Gnade, und an die Stelle knechtischer Furcht sollte ein Verhältnis wie zwischen Kind und Vater treten! (Vgl. Röm. 8,15; Gal. 4,5 f.)

    2. Was Christus mit seiner Lehre beabsichtigt, das sagen uns seine heiligen Aussprüche, so daß alle, die zur ewigen Glückseligkeit gelangen wollen, die Stufen kennen, die sie zum höchsten Glücke emporführen: "Selig", so sprach er, "sind die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich!" (Matth. 5,3; Luk. 6,20)  Es könnte vielleicht zweifelhaft sein, von welchen Armen die Ewige Wahrheit spricht, wenn sie den Worten: "Selig sind die Armen" nichts über die Art hinzufügte, die man darunter zu verstehen hat. Es könnte scheinen, daß, um den Himmel zu verdienen, die Not allein schon ausreicht, die viele unter dem Drucke schwerer und harter Verhältnisse zu ertragen haben. Da sie aber sagt: "Selig sind die Armen im Geiste", so bringt sie damit ganz deutlich zum Ausdruck, daß jenen das Himmelreich zuteil werden soll, die mehr die Demut ihrer Gesinnung als der Mangel an Mitteln empfiehlt. Es kann aber nicht bestritten werden, daß die Tugend der Demut leichter von den Armen als von den Reichen erworben wird; denn bei jenen bringt es ihre Dürftigkeit mit sich, daß sie sich gerne unterordnen, während bei den Reichen Überhebung naheliegt. Trotzdem findet man auch bei sehr vielen Begüterten das Streben, ihren Überfluß nicht zur Befriedigung maßlosen Hochmutes, sondern zu Werken der Nächstenliebe zu verwenden und das als größten Gewinn zu betrachten, was sie zur Linderung fremden Elends aufgewendet haben.

Jeder Klasse und jedem Stande ist die Möglichkeit geboten, sich diese Tugenden zu eigen zu machen, weil auch jene die gleiche Gesinnung haben können, die sich nicht des gleichen Wohlstandes erfreuen. Wo sich der Besitz an geistigen Gütern als derselbe erweist, da kommt es nicht darauf an, ob die Mittel hier auf Erden die nämlichen sind oder nicht. Glückselig ist demnach jene Armut, die sich nicht von der Liebe zur Welt betören läßt, die nicht nach irdischem Gute verlangt, sondern sich reiche Schätze für den Himmel erwerben will.
     
    3. Ein Beispiel solch hochherziger Armut gaben uns nächst dem Herrn zuerst die Apostel. Ausnahmslos verließen sie auf das Wort ihres göttlichen Meisters alles, was sie hatten. Sie entsagten dem Fischfange und wurden dafür begeisterte Menschenfischer. (Vgl. Matth. 4,19 ff.)  Ihr Glaube spornte viele an, es ihnen gleich zu tun, da in jener frühen Zeit der Kirche "alle Gläubigen ein Herz und eine Seele waren". Alle verteilten ihre Habe und ihren Besitz und erwarben sich durch diese entsagende Armut wertvolle himmlische Güter. Den Worten der Apostel gemäß freuten sie sich, nichts Irdisches ihr eigen zu nennen, sondern in Christus ihren ganzen Reichtum zu sehen. Darum sagte auch der hochselige Apostel Petrus, als ihn bei seinem Gange zum Tempel ein Lahmer um ein Almosen ansprach: "Silber und Gold habe ich nicht, was ich aber besitze, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazareners, stehe auf und wandle!" (Ebd. 3,1 ff.)  Was gibt es Edleres als solche Demut, was Reicheres als solche Armut? Der Apostel kann ihm zwar keine Geldunterstützung geben, wohl aber etwas, was seinem Leibe frommt. Der vom Mutterschoße an krüppelhaft war, den machte er durch sein Wort gesund. Er reichte ihm zwar kein Geldstück mit dem Bild des Kaisers, stellte aber dafür das Bild Christi in ihm wieder her.

Der Reichtum dieser Schätze kam indes nicht nur dem zustatten, der gehend gemacht wurde, sondern auch den fünftausend Männern, die sich damals auf die Rede des Apostels hin infolge dieser wunderbaren Gesundung zum Herrn bekannten. (Ebd. 4,4) So spendete der arme Petrus, der nichts besaß, was er dem Bittenden hätte geben können, eine solche Fülle der göttlichen Gnade, daß er die Herzen so vieler Tausender heilte, wie er die Füße eines einzigen gesund gemacht hatte. Er machte also die zu rührigen Parteigängern Christi, die er infolge ihres jüdischen Unglaubens gelähmt fand.

    4. Nach dem Lobe dieser glücklichen Armut fuhr der Herr fort:."Selig sind die Trauernden; denn sie werden getröstet werden!" (Matth. 5,5)  Die Trauer, Geliebteste, der hier ewige Tröstung versprochen wird, hat nichts mit der Trübsal dieser Welt gemein. Die Tränen, welche die Menschen überall vergießen, um über ihr eigenes Leid zu jammern, machen niemand glücklich. Der Schmerz der Frommen hat einen ganz anderen Grund und ihr Weinen eine ganz andere Ursache. Die Trauer, die Gott gefällt, grämt sich entweder über die eigenen oder über fremde Sünden. Sie ist nicht über das betrübt, was Gottes Gerechtigkeit uns schickt, sondern über das, was ruchlose Menschen tun. Daher sind die mehr zu beklagen, die Schlimmes verüben, als solche, die Schlimmes erleiden; denn den Ungerechten stürzt seine Bosheit ins Verderben, den Gerechten aber führt seine Geduld zur Herrlichkeit.

    5. Darauf spricht der Herr: "Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen!" (Matth. 5,4). Den Milden und Sanftmütigen, den Bescheidenen und Demütigen, kurz allen, die bereitwillig jede Unbill ertragen, wird also der Besitz der Erde versprochen. Dieses Erbe ist nicht für gering oder wertlos anzusehen, gleich als ob es von unserer ewigen Heimat verschieden wäre. Hat man sich doch (auch unter dieser Art von Seligen) nur solche zu denken, die in den Himmel kommen. Das Erdreich, das den Milden verheißen ist und den Sanftmütigen zufallen soll, ist nichts anderes als der irdische Leib der Frommen, der wegen des Verdienstes ihrer Demut durch eine selige Auferstehung umgestaltet und mit dem Glanze der Unsterblichkeit geschmückt wird. Dann wird er in nichts mehr dem Geiste widerstreiten,  sondern stets die vollendetste Eintracht mit dem Wollen seiner Seele wahren. Dann wird der äußere Mensch ganz und unbestritten dem inneren gehören und der nach der Anschauung Gottes verlangende Geist nicht mehr durch die Schwachheit des Fleisches  daran gehindert werden. Dann wird es nich mehr heißen: "Der vergängliche Leib belastet die Seele, und die irdische Hülle drückt den über vieles sinnenden Geist darnieder." (Weish. 9,15)  Lehnt sich doch die Erde (das heißt die leibliche Natur) dann nicht mehr gegen ihren Bewohner auf. Vergeht sie sich doch nicht mehr gegen die Weisungen ihres Herrschers. In beständigem Frieden werden die Sanftmütigen dieses Erdreich besitzen. Nie mehr wird eines ihrer Rechte (von dem sonst so aufrührerischen Fleische) angetastet werden, "sobald sich das Verwesliche mit Unverweslichkeit und das Sterbliche mit Unsterblichkeit bekleidet hat!" (1. Kor. 15,53)  Was also ehedem Gefahr brachte, das ist dann ein Teil unseres Lohnes, und was (auf Erden) eine Bürde war, das ist (oben) eine Zierde.

    6. Darauf fährt der Herr fort: "Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden!" (Matth. 5,6)  Der Hunger und der Durst, von dem hier die Rede ist, begehrt keine weltliche Speise und keinen irdischen Trank, sondern Sättigung mit dem Gute der Gerechtigkeit. Und ist er bereits in die Tiefe aller Glaubensgeheimnisse eingedrungen, so möchte er den Herrn selbst genießen. Glückselig der Geist, der nach solcher Nahrung verlangt und nach einem solchen Trunke lechzt! Würde er sich doch nicht darnach sehnen, wenn er ihre Trefflichkeit nicht erprobt hätte. Allein schon bei den Worten des Propheten: "Kostet und sehet, wie süß der Herr ist!"     (Ps. 34,9) empfand er etwas von dieser himmlischen Süßigkeit. Und sein Herz entbrannte in solcher Liebe zu dem reinsten aller Genüsse, daß er alles Irdische verachtet und von ganzer Seele nur darauf bedacht ist, sich von der Speise und dem Tranke der Gerechtigkeit zu nähren. Darum macht er sich auch die Wahrheit des ersten aller Gebote zu eigen, das uns lehrt: "Den Herrn, deinen Gott, sollst du lieben aus deinem ganzen Herzen und aus allen deinen Kräften!" (Deut. 6,5) Denn Gott lieben heißt nichts anderes, als die Gerechtigkeit lieben. Wie sich übrigens an das Gebot der Gottesliebe die Sorge für den Nächsten anschließt, so folgt auch auf dieses Sehnen nach Gerechtigkeit die Tugend der Barmherzigkeit. Heißt es doch weiter:

    7. "Selig sind die Barmherzigen; denn Gott wird sich auch ihrer erbarmen!" (Matth. 5,7)  Denke daran, christliche Seele, was du deiner Weisheit schuldig bist! Erkenne, welche Tugenden du erwerben mußt und welcher Lohn dir dafür winkt! Der barmherzige und gerechte Gott will, daß auch du Barmherzigkeit und Gerechtigkeit übst. In jedem Geschöpfe soll sein Schöpfer zu erkennen sein! Dadurch, daß wir es dem Herrn gleichzutun trachten, soll sein Bild im Spiegel unseres Herzens klar zutage treten! Die Erwartung, die du an deine guten Werke knüpfst, wird nie enttäuscht werden. Alle deine Wünsche werden sich erfüllen. Ewig wirst du genießen, woran deine Liebe hängt. Und weil dir infolge des Almosens alles rein ist (vgl. Luk. 11,14), so wirst du auch jener Seligkeit teilhaftig werden, die uns folgerichtig verheißen ist in den Worten des Herrn:

    8. "Selig sind, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen!"  (Matth. 5,8)  Großes Heil widerfährt denen, Geliebteste, auf die ein solcher Lohn wartet. Was heißt aber ein reines Herz haben anderes als nach Tugenden streben, wie sie von uns soeben genannt wurden? Wessen Verstand könnte es fassen und wessen Zunge es schildern, welche Seligkeit in der Anschauung Gottes liegt? Und doch wird uns dies Glück zuteil werden, wenn der einst unsere Natur verklärt ist. Dann wird sie die Gottheit, die noch kein Mensch sehen konnte (vgl. u.a. Joh. 1,18) , in ihrem ganzen Wesen schauen, nicht mehr wie "durch einen Spiegel" oder "im Rätsel", sondern "von Angesicht zu Angesicht" (1 Kor. 13,12).  Dann wird sie sich inmitten unbeschreiblicher Freuden in alle Ewigkeit an dem weiden, "was noch kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und noch in keines Menschen Herz gedrungen ist" (1 Kor. 2,9).  

Mit Recht wird eine solche Seligkeit gerade dem reinen Herzen verheißen; denn das Auge des im Schmutze Lebenden könnte den Glanz des wahren Lichtes gar nicht ertragen. Was also für lautere Seelen eine Wonne sein wird, das ist für unreine eine Qual. Laßt uns darum das Dunkel weltlicher Eitelkeit fliehen! Laßt uns die Sehkraft unseres Geistes von aller sie trübenden Ungerechtigkeit rein erhalten, damit sie sich an Gottes so herrlichem Anblick freudig laben kann! Der Erreichung dieses Zieles gilt, wie wir sehen werden, auch der folgende Ausspruch:

    9. "Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden!" (Matth. 5,9)  Nicht jede Einmütigkeit, nicht jede Eintracht verdient sich, Geliebteste, diese Seligkeit, sondern nur die, von welcher der Apostel sagt: "Haltet Frieden mit Gott!" (Röm. 5,1) nur die, von der es beim Propheten David heißt: "Reich an Frieden sind, die dein Gesetz lieben, und es gibt für sie keinen Anstoß." (Ps. 119,165)  Einen solch echten Frieden kann selbst die engste Freundschaft, selbst die völligste Übereinstimmung der Herzen nicht gewähren, wenn sie nicht mit den Geboten Gottes im Einklang steht. Alle, die diesen edlen Frieden aus dem Auge verlieren, tun sich nur zusammen, um ihren Leidenschaften, ihren verbrecherischen Absichten oder Lastern zu dienen.

Die Liebe zur Welt verträgt sich nicht mit der Liebe zu Gott. Wer sich nicht lossagt von irdischen Dingen, kann nicht zur Gemeinschaft der Kinder des Herrn gelangen. Jene aber, deren Herz immer bei Gott ist, "bestrebt, die Einheit des Geistes zu wahren durch das Band des Friedens" (Eph. 4,3), handeln nie gegen das Gesetz des Ewigen. In treuer Ergebenheit beten sie: "Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden!" (Matth. 6,10)  Das sind die Friedfertigen, das die in rechter Weise Einmütigen, das die in heiliger Eintracht Lebenden, die in alle Ewigkeit "Kinder Gottes" und "Miterben Christi" (Röm. 8,17)  heißen sollen. Denn das wird der Lohn ihrer Liebe zu Gott und zum Nächsten sein, daß sie keinerlei Widerwärtigkeiten mehr durchzumachen und kein Ärgernis mehr zu fürchten haben, sondern nach überstandenem Kampfe gegen alle Versuchungen in Gottes seligem Frieden ruhen durch unseren Herrn Jesus Christus, der mit dem Vater und dem Heiligen Geiste lebt und waltet in Ewigkeit. Amen.  

(Leo der Große, Sermo XCV - Homilie über die Seligkeiten der Bergpredigt - in: "Bibliothek der Kirchenväter" Bd.55, München 1927, S. 292 ff.)

 
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