54. Jahrgang Nr. 3 / März 2024
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1. Kann man die römisch-katholische Kirche verlassen?
2. Eine allumfassende moderne Irrlehre: Der Hominismus - die Vergöttlichung des Menschen
3. Tuet dies zu meinem Gedächtnis (Lk. 22,19)
4. Interview: Fragen an die Journalistin und Bestsellerautorin Birgit Kelle (40)
5. Demografischer Niedergang und das Aussterben der Deutschen
6. Ich habe die Welt als ein Ganzes betrachtet
7. Buchbesprechungen
8. Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste
9. Mein Herz gehört mir
10. Patientenverfügung für Katholiken
11. Vorsorgliche Willensbekundung in Bezug auf medizinische Behandlung und Pflege
12. Hinweis auf die Gründung eines Gebetskreises im Raum München
13. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN...
14. Mitteilungen der Redaktion
Ich habe die Welt als ein Ganzes betrachtet
 
„Ich habe die Welt als ein Ganzes betrachtet"

Pavel Florenskij - ein Meister der Polaritäten


von
Magdalena S. Gmehling

„Er war einer der bemerkenswertesten Menschen, die der Archipel Gulag für immer verschlungen hat“ – so lautet das Urteil Alexander Solschenizyns über den Naturwissenschaftler und Techniker, Anthropologen, Kosmologen, Professor und orthodoxen Geistli-chen, Pavel (Paul) Florenskij, geboren am 9. Januar 1882 in Jewlach; am 25. 11. 1937 zum Tode verurteilt durch ein stalinistisches Sondergericht des Volkskommisariates des Inneren (NKWD). Vermutlich wurde das Urteil am 8.12. 1937 in Leningrad vollstreckt.

In seinen „Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus“, einem, seinen Kindern gewidmeten und ursprünglich nur für den Familienkreis vorgesehenen Band, verdeutlicht Florenskij sein Weltgefühl: „Unbekanntheit ist das Leben der Welt. Daher war es mein Wunsch, die Welt als eine unbekannte zu erkennen, ihr Geheimnis nicht anzutasten, aber doch dahinter zu schauen. Das Symbol war das Erschauen des Geheimnisses. Denn das Geheimnis der Welt wird durch Symbole nicht zugedeckt, sondern aufgedeckt, und zwar in seinem eigentlichen Wesen, d.h. als Geheimnis.“

Pavel, der Erstgeborene, hatte sechs Geschwister und lebte-wie er selbst schreibt-in einer Art Paradies, eben einer geschlossenen und von unnennbaren Mysterien umwitterten Welt. Der Vater, als Ingenieur am Bau der Bahnlinie zwischen Tiflis und Baku beteiligt, war Russe, die Mutter Armenierin. 1880 zog die Großfamilie, zu der auch einige Tanten, Cousins und Cousinen gehörten, in die transkaukasische Steppe, lebte in Güterwagen, die mit kostbaren Teppichen ausgeschlagen waren. In Tiflis und Batum bewohn-te man dann mehrere Wohnungen zugleich und Pavel, dieses überaus empfindsame Kind, hatte immer wieder Erlebnisse, die sich wohl an konkreten Naturerscheinungen entzündeten, dann aber ein sonderbar berauschendes und geheimnisvolles Eigenleben entfalteten. „Ein gewöhnlicher Stein, ein Ziegel, ein Splitter offenbarten sich als etwas durchaus nicht Gewöhnliches und werden zu Fenstern einer anderen Welt. So ist es mir in der Kindheit oft ergangen. Während aber manche Erscheinungen meine Seele immer wie-der von neuem anzogen, ohne sie zu sättigen, eröffnete sich mir die geheimnisvolle Tiefe anderer nur selten, für Augenblicke oder sogar nur ein einziges Mal.“ Bereits das Kind begeistert sich für Geologie und erlebt das Meer als noumenales Wesen. Dieses hinterlässt in seiner Seele den sprühenden Laut der Brandung, eine, in flimmernden Punkten fließende Ewigkeit, und einen fast quälenden Hunger nach Meeresnahrung.

Florenskij beschreibt den von gegenseitiger Liebe und Aufmerksamkeit geprägten Geist seiner Familie, die Herzlichkeit, die hohe Sittlichkeit, die Ungehöriges oder Schlechtes einfach nicht duldet, aber auch das Vorhandensein von Tabus. Als solches betrachtete man die innere Einstellung zur Religion. Zwar wurde Pavel orthodox getauft, die Familie war aber nicht gläubig. „Meine Eltern wollten in der Familie das Paradies wiedererrichten und besonders ihre Kinder in diesem Garten der Schöpfung aufziehen. (…) In diesem Paradies gab es jedoch keine Religion, jedenfalls keine der historischen Religionen. Sie fehlte nicht versehentlich, sondern absichtlich. (…) In unserer Familie bestand das Wesen der religiösen Erziehung in einer bewussten Vermeidung jeglicher religiösen Einwirkung von außen, auch von Seiten der Eltern, positiv wie negativ.“ Der Vater fühlte sich einem skeptischen Humanismus verpflichtet, die Mutter, die der armenisch-georgischen Kirche angehörte, schwieg meist zu religiösen Fragen und war ängstlich darauf bedacht, ihre Nationalität nicht zu betonen. Sie hatte einst gegen den Willen ihres Vaters in die russisch-orthdoxe Familie eingeheiratet. Pavel lebte in der Überzeugung, die Welt könne rein physisch-naturwissenschaftlich erklärt werden. Man erzog ihn zu kritischem Denken und bewahrte ihn vor jeder Art religiösen Dogmatismus. Immer wieder betonte der Vater die Relativität allen Wissens und aller Urteile. Er experimentiert mit seinem Sohn, führt ihn ein in die geheimnisvolle Welt von Röhren und Spiralen. Zusammen stellen sie Schießpulver her oder erzeugen bengalische Feuer. Die wichtigste Wissensquelle ist die Natur. Die Formen und Farben, die Gerüche und Töne mit ihren Schwingungen prägen sich dem Kind unauslöschlich ein.

Ab 1892 besucht Florenskij das Gymnasium. Obwohl er Klassenerster ist, bekennt er, seinen ganzen intellektuellen Besitz „nicht von der Schule, sondern eher trotz der Schule“ erworben zu haben. Im Jahre 1899 in einer Zeit, als der junge Student von seinen Lehrern mit Arbeit überhäuft wird, bahnt sich ein für ihn lebensentscheidendes mystisches Erlebnis an: „Ich lag in tiefem Schlaf, einer Ohnmacht ähnlich, so dass ich überhaupt nicht träumte oder die Träume zumindest vor dem Erwachen vergessen hatte. Entsprechend stark war das Gefühl, richtiger gesagt das mystische Erlebnis von Finsternis, Nicht-sein, Eingeschlossenheit. Ich fühlte mich zur Zwangsarbeit verurteilt (…). Dieses Bildlose, Unbeschreibliche, das mich traf wie ein Schlag, war ein mystisches, ein rein mystisches Erlebnis. (…) Es war, als sei man lebendig begraben und über einem läge undurchdringlich kilometerhoch schwarze Erde. ... Mich erfasste eine ausweglose Verzweiflung, ich begriff,(…) dass ich endgültig von der sichtbaren Welt abgeschnitten sei. In diesem Augenblick traf mich ein allerfeinster Strahl, teils unsichtbares Licht, teils unhörbarer Laut, der mir den Namen GOTT zutrug. (…). Für mich war das eine Offenbarung, eine Entdeckung, eine Erschütterung, ein Schlag. Von der Plötzlichkeit dieses Schlages wachte ich wie von einer äußersten Kraft geweckt auf und rief ... laut in das Zimmer hinein: ‚Nein, ohne Gott kann man nicht leben.“ Ähnliche Blitzkonversionen werden immer wieder berichtet, so von dem Dichter und Diplomaten Paul Claudel, der sein Damaskus am Weihnachtstag 1892 erlebte, ferner von André Frossard, dem Atheisten, dem 1935 eine plötzliche Bekehrung widerfuhr. Noch mehrfach hört Florenskij eine unirdische Stimme, laut und eindringlich. Sein wissenschaftliches Denken verändert sich. Das Interesse an Religion wächst.

Im Jahre 1900, dem Todesjahr Wladimir Solovjeffs, verlässt der junge Mann die Provinz und beginnt an der physikalisch-mathematischen Fakultät der Moskauer Universität ein Studium der theoretischen Mathematik. Sein wichtigster Hochschullehrer wird Bulgaev, der Begründer der Arithmologie. Vielfältig talentiert, interessiert sich der Student auch für die philosophischen Dimensionen der Mathematik, ja er träumt von einer mathematischen Metalogik. Keineswegs beschränken sich seine Interessen auf das eigene Fachgebiet. Er pflegt freundschaftlichen Umgang mit Literaten wie Andrej Belyj und Vasilij Rosanov, begegnet den Symbolisten und Gottsuchern Dimitrij Merezkovskij, Aleksandr Blok und Nikolaij Berdjaev und erhält eine gründliche philosophische Ausbildung bei Sergej N. Trubezkoj und Lev M. Lopatkin. 1908 absolviert er die Geistliche Moskauer Akademie mit der Dissertation „Über die religiöse Wahrheit“. Gedanken daraus wird er 1914 auch in seinem berühmtesten Werk „Die Säule und Grundfeste der Wahrheit“ (Stolp) verwenden. Es handelt sich um den Versuch einer orthodoxen Theodizee in zwölf Briefen. Später wird er verkünden, dass nun die Anthropodizee folgen müsse. Florenskij hat zur Kirche gefunden, nicht zuletzt durch die Leitung des Starez Isidor und des im Ruhestand lebenden Bischofs Antonij Florensov.

1910 heiratet Florenski. Die Familie lebt im Dreifaltigkeitskloster Sergiev Posad (dem heutigen Zagorsk). Aus der Ehe gehen fünf Kinder hervor. Die orthodoxe Kirche kennt keinen allgemeinen Zölibat. Ab 1911 übernimmt der junge Professor den Lehrstuhl für Philosophiegeschichte an der Geistlichen Akademie und wird zum Priester geweiht. Die Studenten berichten von der magischen Gewalt, dem Zauber der Rede, die in Florenskijs Vorlesungen die Zuhörer in ihren Bann schlägt. Ihn zeichnen nicht nur profunde Kenntnisse in Kirchengeschichte, Mystik, Ikonographie aus, sondern ebenso umfassendes Wissen in Mathematik, Philologie, Archäologie und Philosophie. Nicht von ungefähr hat man ihn immer wieder mit Leonardo da Vinci verglichen.

Der Schriftsteller und Theoretiker des Symbolismus Dr. L. Kobilinski-Ellis, dem wir die Übersetzung der Monarchia Sancti Petri von Wladimir Solovjeff verdanken, äußert sich auch über das Werk Florenskijs und zwar über den 9. Brief des Stolp, welcher sich mit der Göttlichen Weisheit beschäftigt. Er nennt diese Sophiologie das Bedeutendste was auf dem Gebiete der russischen Mystik und Theologie entstanden ist.

Für Florenskij ist Sophia, die präexistente Göttliche Weisheit, die große Wurzel der Gesamtschöpfung. In dem Wort „Sophia“ sei bereits der Zusammenhang von Erkennen und Schaffen verdeutlicht. Sophia ist Weltseele und kosmisches Prinzip, sie ist die Einheit des Schöpfungsgedankens, die in Gott liebend erkannte Schöpfung. In Maria inkarniert diese geistmächtige Göttliche Weisheit. Dennoch hält Florenskij Maria und Sophia streng auseinander, indem er verdeutlicht, dass zwar Maria in ihrem ganzen Sein sophianisch ist, aber Sophia nicht nur Maria ist, sondern weitere Aspekte umfasst. Wie der persönli-che Schutzengel ein göttliches Vorbild des einzelnen Menschen ist, so ist Sophia der Schutzengel, die ideelle Person der Welt, ihr schöpferisch gestaltender Grund. In einem umfangreichen Werk, welches Papst Paul II. und Patriarch Demetrios I. gewidmet wurde, hat sich Michael Silberer OSC mit Flornskijs Gedankengängen auseinandergesetzt und eine Begegnung mit Thomas von Aquin dargestellt.

In deutscher Sprache erschienen ist auch Florenskijs kunsttheologisches Werk „Die Ikonostase“. Es handelt sich um eine tiefsinnige Betrachtung der Ikonenmalerei und berührt Kadinskijs Gedanken über das Seelisch-Geistige in der Kunst. Ikonenmalerei ist aber für den frommen Priester weit mehr, nämlich Höchstform und Ideal der bildenden Kunst überhaupt. Sie ist die eigentliche Verwirklichung der platonischen Ideen, da sie die im Gedächtnis bewahrten Urbilder im Sinne einer Anamnese verlebendigt. Er schreibt: „Wo immer sich die Reliquien eines Heiligen befinden, in welchem Zustand auch sie sich erhalten haben-sein auferstandener und erleuchteter Körper existiert in Ewigkeit, und die Ikone stellt eben dadurch, dass sie ihn zur Erscheinung bringt, nicht einen heiligen Zeugen dar, sondern sie ist der Zeuge selbst. Nicht sie soll als Monument christlicher Kunst studiert werden, vielmehr ist es der Heilige selbst, der uns belehrt. Und in dem Moment, in dem eine noch so feine Fuge die Ikone vom Heiligen selbst trennt, verbirgt sie sich vor uns in einem unzugänglichen Bereich, und die Ikone wird ein Ding wie andere Dinge. In diesem Augenblick ist die lebendige Verbindung zwischen Himmel und Erde, d.h. die Religion, an diesem Ort des Lebens zerstört, der Makel des Aussatzes tötet den entsprechenden Lebensbereich ab und es ist zu befürchten, dass diese Abspaltung fortschreitet.“

Einen tiefen Einschnitt im Leben des genialen Denkers bildet das Jahr der Oktoberrevo-lution 1917. Seismographisch ahnt er die kommenden Ereignisse. Am 11. 4. schreibt er in Sergijew Posad sein Testament und ergänzt es durch Einträge vom 8.5. und  6.7.1917. Weitere, den Nachlass betreffende Einträge, stammen vom 26.6.1919, vom 3.6. 1920. Sie werden durch rührend innige nächtlich geschriebene Texte des Jahres 1921, 1922 und 1923 vervollständigt. Florenskij wendet sich an seine Frau Anna Michailowna und die Kinder Wassili, Kiril, Olga und (im letzten Teil) an sein Söhnchen Mik. Er bittet die Familie, am Tage seiner Beerdigung zum Abendmahl zu gehen und legt ihr die Vergangenheit, das Gedächtnis an die verflossenen Geschlechter ans Herz. Achtung und ein ehrendes Gedenken soll den Porträts, Briefen, Autographen bewahrt werden. Nur im Falle äußerster Drangsal sind Bibliothek und Einrichtung zu verkaufen. Vorsichtig spricht er die bisherigen Leiden der Revolutionszeit an und beschwört die Familie auf himmlischen Beistand (besonders Nikolai des Wundertäters, des Ehrw. Sergij und des Ehrw. Serafim) zu hoffen. Sehr klar fordert er die Kinder auf, sich keine Unachtsamkeit im Denken zu erlauben, da Klarheit und Gewissenhaftigkeit hier die Gewähr für geistige Freiheit sind. Im letzten Abschnitt (vom Ostermontag 1923) heißt es: „Mik, mein liebes Kleines, Du bist immer so krank, die Krankheiten und Leiden nehmen kein Ende. Gib die Schuld nicht Mama, mein Liebes; sie litt und leidet mehr als Du-Deine Zeit ist es, die Dich quält. Mögest Du in Ewigkeit unter dem Schutz der Gottesmutter stehen, mein strahlender Engel! Du sollst wissen, mein liebes Söhnchen, dass wir Dich aus ganzer Seele lieben und über Dich weinen. Mögest Du Dir und allen zur Freude leben, der Herr beschütze Dich, mein Kind.“

Nach der Oktoberrevolution wird 1918 das Dreifaltigkeitskloster geschlossen. Florenskij zieht nach Moskau. Er arbeitet am Staatsplan zur Elektrifizierung Russlands. In der zweiten Hälfte der 1920-er Jahre widmet er sich hauptsächlich der Physik und der Elektrodynamik. Er veröffentlicht sein größtes naturwissenschaftliches Werk: „Imaginäre Zahlen in der Geometrie“. Dieses Werk beschäftigt sich mit der geometrischen Interpretation von Albert Einsteins Relativitätstheorie. Die neuen Machthaber versuchten, die genialen Fähigkeiten des als wissenschaftliche Kapazität geltenden Professors auszunutzen. Es wird berichtet, dass er allen Widerständen zum Trotze als Teilnehmer des Ingenieurkongresses im weißen Priestergewand auftrat. 1924 publiziert er den ersten Teil eines umfangreichen elektrotechnischen Standartwerk: „Nichtleiter und ihre tech-nische Anwendung“.

Zunehmend verschärft sich das politische Klima in der UDSSR. Florenskij gilt als „Popen-Professor“ und Klassenfeind. 1928 wird er verhaftet und drei Monate nach Gorkij verbannt. Unter schwierigsten Bedingungen arbeitet er wissenschaftlich. Er selbst spricht von „Zwangsarbeit“. Im Jahre 1933 wird dann eine frei erfundene Anklage wegen Gründung einer „konterrevolutionären national-faschistischen Organisation“ gegen ihn erhoben. Man wusste allerdings sehr genau, dass keine Organisation existierte und Florenskij keinerlei Agitation gegen das Sowjetsystem betrieb, ja ein völlig unpolitischer Mensch war. In Kreisen der orthodoxen Kirche vermutet man, dass der Priester sich weigerte, dem christlichen Glauben öffentlich abzuschwören und dass dies der wahre Grund für die Verhaftung und Verurteilung zu zehnjähriger Lagerhaft war. Bis zu seinem Lebens-ende hält er der Wahrheit die Treue.

Von Dezember 1933 bis August 1934 arbeitet er in Skovorodino (am Baikalsee) an der Erforschung des Permafrostbodens. Seine wissenschaftlichen Ergebnisse werden ohne Namensnennung veröffentlicht. Seine Frau Anna Michailowna steht mit ihren fünf Kindern und der alten Mutter allein da. Sie versucht alles Menschenmögliche, ihrem Mann zu helfen. Im Jahre 1934 besucht sie ihn mit den Kindern Olga, Michail und Maria-Tinatin in Skovorodino. Noch während des Besuches der Familie kommt Florenskij in Isolierhaft. Von 1935 bis 1937 wird er in das in ein Straflager umgewandelte Soloveckij-Kloster auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer übergeführt. Der Professor beschäftigt sich mit der Verwendung von Meeresalgen, der Jod-und Agrarproduktion. Er hat auf diesem Gebiet mehrere Patente angemeldet. Unter dem Titel „Eis und Algen“ sind die 150 durchnummerierten und leider nur teilweise erhaltenen Briefe aus dem Lager zwischen 1933-1937 auch in deutscher Sprache erschienen. Da sie wegen der Zensur sorgfältig jegliche politische wie religiös-philosophische Bemerkungen vermeiden, erschüttern diese Schriftstücke eben wegen der mit keinem Wort erwähnten, sehr wohl aber zu erahnenden Leiden des Verbannten. So heißt es in dem zwischen dem 11.-13. Mai 1937 verfassten Brief an seine Frau und die Kinder Kirill, Olga, Maria-Tinatin, Michail und Wassili: „ (…) In letzter Zeit esse ich mit Vorliebe Algen, und zwar nicht wenig: ich schneide und wasche sie, koche sie mit etwas Essig, dazu esse ich Grütze, Salat, Linsen oder was es sonst gibt. (…) Eine besondere Eigenschaft der Algen ist, einem das Gefühl der Sättigung zu verschaffen. Ohne Zweifel nicht nur ein subjektiver Eindruck, es hängt mit ihrem Eiweißgehalt zusammen.“ Der Brief Nr. 101 vom 4. 6. 1937 wird noch deutlicher : “(…) die verzweifelte Kälte in der toten Fabrik, die kahlen Wände und der aufheulende Wind, der durch die zerschlagenen Fensterscheiben fährt, stimmen einen nicht zum Arbeiten, und du siehst an meiner Handschrift, dass einem nicht einmal das Briefeschreiben mit den steifen Fingern gelingen will. (…) Jetzt ist es schon 6 Uhr morgens. Über dem Bach fällt Schnee, und ein wütender Wind wirbelt Schneewehen hoch. Durch die leeren Räume hallt das Scheppern der zerbrochenen Lüftungsklappen, heulend bricht der Wind herein (…). Und mit meinem ganzen Wesen empfinde ich die Nichtigkeit des Menschen, seiner Werke, seiner Anstrengungen“.

Selbst unter den niederdrückendsten, unmenschlichsten und widrigsten Bedingungen hat der Deportierte noch geschrieben, seiner Frau und den Kindern Ratschläge erteilt und mit ihnen wissenschaftlich-technische Probleme erörtert. Einige Zeugnisse belegen auch, dass er, dem Terror trotzend, im Geheimen als Priester wirkte.

Unklar war lange Zeit wie das Martyrium dieses Mannes, den man als Leuchte Russlands bezeichnen darf, endete. Die offizielle Version spricht davon, dass Florenskij in der Artilleriebasis Rschew nahe Toksowo exekutiert wurde. Seine Leiche verbrannte man. Die Asche wurde in einem geheimen Grab in Koirangakangas zusammen mit 30. 000 weiteren Hingemordeten verscharrt.

Posthum erfolgte eine Rehabilitation. 1958 wurde das erste Urteil vom 26. Juli 1933 und 1959 das zweite Urteil vom 25. November 1937 aufgehoben.

Die armenische Predigtsammlung Hatschachapatum (12. Rede) spricht davon, dass keine Macht dieser Welt die große Ganzheitsschau vom positiven Ausgang der Geschichte wie des individuellen gottverbundenen menschlichen Lebens – wie es uns eben auch in der beispielhaften Gestalt des Vaters Florenskij entgegentritt, trüben kann. Es heißt dort: „Die Seelen der Freunde Gottes, wo immer sie auch sind, stehen im Buche seiner heiligen Liebe und erfreuen sich seiner lebensschenkenden Fürsorge ... Alle Geschöpfe sind im Inneren seiner Macht geborgen...die Schrift verheißt das Himmelreich den Gläubigen und ermuntert die Rechtschaffenen, in Hoffnung darauf zuzugehen.“

***

Aus folgenden Werken wurde zitiert:
Pavel Florenskij: Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus. Verlag Urachhaus 1993
Pavel Florenskij: Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland. Verlag Urachhaus 1996.  3. Auflage
Pavel Florenskij: Eis und Algen. Pforte Verlag 2001
Michael Silberer OSC: Die Trinitätsidee im Werk vom Pavel Florenskij, Augustinus Verlag, Würzburg 2000

Weiterführende Literatur:
„Pavel Florenkskij. Ein russischer Leonardo da Vinci und Troubadour der Göttlichen Weisheit“ in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner: „Vom Geist Europas“ II. Mut-Verlag 1989

 
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