A. Wo ist die Kirche?
1. Ist die Kirche des sog. Zweiten Vatikanums identisch mit der heiligen Kirche?
Diese Identitätsfrage kann nur derjenige zutreffend und begründet beantworten, der die wesentlichen Merkmale der heiligen Kirche und die Merkmale der ‚Konzilskirche’ zu benennen und miteinander zu vergleichen weiß. Daher:
2. Die wahre Kirche muß einig sein, d.h. sie muß zu allen Zeiten dieselbe Lehre haben.
„Ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.“ – so lautet das in der heiligen Messe gebetete Glaubensbekenntnis (vergl. Schott, a.a.O., Abschnitt: Die gleichbleibenden Teile der heiligen Messe, Credo). Dazu Spirago, a.a.O., S. 193: „Die wahre Kirche Christi muß folgende vier Eigenschaften haben: sie muß einig, heilig,allgemein (katholisch) und apostolisch sein (Glaubensbekenntnis des Konzils von Nicäa). Die wahre Kirche muß einig sein, d.h. sie muß an allen Orten und zu allen Zeiten dieselbe Lehre haben.“: „So steht denn fest, liebe Brüder, und haltet euch an die Überlieferungen, die ihr durch Wort oder Schrift von uns empfangen habt.“ (NT, 2. Thessalonicherbrief 2, 15; Zitate aus dem Neuen Testament der Hl. Schrift, soweit nicht anders gekennzeichnet, sind entnommen: Ketter, P., a.a.O.; die Zitierweise beginnt mit „NT“, d. h. Neues Testament); „Ich mache euch, Brüder, aufmerksam auf die Heilsbotschaft, die ich euch verkündet habe. Ihr habt sie angenommen, ihr steht in ihr fest. Durch sie werdet ihr gerettet, wenn ihr sie genau so festhaltet, wie ich sie euch verkündet habe. Sonst hättet ihr ja vergebens geglaubt.“ (NT, 1. Korintherbrief 15, 1 und 2); „Jesus Christus ist derselbe, gestern und heute und in Ewigkeit. Lasset euch nicht verführen durch allerlei fremde Lehren“ (NT, Hebräerbrief 13, 8 und 9); „Dein Wort ist für die Ewigkeiten, Herr; dem Himmel gleich, so steht es fest gegründet.“ (AT, Psalm 119 (118), 89; Zitate des Verfassers aus dem Alten Testament der Hl. Schrift, soweit nicht anders gekennzeichnet, sind entnommen: Riessler/ Storr, a.a.O.; die Zitierweise beginnt mit „AT“, d. h. Altes Testament) „Ein Spruch des Herrn. ‚Nur dies ist die Bedingung, die ich ihnen mache’, so spricht der Herr: ‚Mein Geist, der auf dir ruht, und meine Worte, dir in den Mund gelegt, sie dürfen nicht aus deinem Munde weichen und nicht von deiner Kinder Munde und nicht von deiner Enkelkinder Munde’, so spricht der Herr, ‚von nun an bis in Ewigkeit’ “ (AT, Isaias 59, 20 und 21)
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Dazu aus: A. M. Weiß, a.a.O., S. 199 – 211 und 225: „Es bedarf keiner Erklärung, daß wir hier das uranfängliche fundamentale Dogma der christlichen Religion, des Glaubens und der Theologie im Sinne haben, die Lehre von der Tradition...
Es wurde modern durch den Protestantismus, der bekanntlich seine Berechtigung durch die Leugnung der Tradition erkämpfen wollte. Bis dahin war die Geltung der Tradition so selbstverständlich, daß durch das ganze Mittelalter fast kein Mensch daran ging, darüber nur ein Wort zu verlieren. … Das änderte sich aber gründlich durch die Reformatoren. Nun mußten sich die Theologen nicht bloß um einzelne Dogmen, sondern um die allgemeine Grundlage für alle Dogmen wehren. Dadurch wurden sie genötigt, die Lehre von den loci theologisti ausdrücklich zu entwickeln und über die Tradition im Besonderen zu handeln. Somit ist nicht die Lehre von der Tradition dem Protestantismus zu verdanken, der sie ja nicht bekämpft hätte, wenn sie ihm nicht im Wege gestanden wäre, sondern nur die Notwendigkeit, sie genauer theologisch darzustellen…
Die bereits angeführte Stelle aus dem Briefe an die Thessalonicher zeigt, daß der Apostel Tradition im weitesten Sinn von der ganzen christlichen Lehrübermittlung verstand, ob diese nun im mündlichen Vortrag oder in der Darstellung durch die apostolischen Schriften bestand. Deshalb teilt er die Traditionen in zwei Teile, mündliche und schriftliche. Ihm ist also auch die Heilige Schrift ein Teil der Überlieferung. Das ist von höchster Bedeutung nach zwei Seiten hin. Das Christentum ist gestiftet von Christus und gepredigt durch die Apostel als die ‚Predigt des lebendigen Wortes’. Der moderne Ausdruck, das Christentum sei eine Buchreligion, kann nur als Versteinerung des protestantischen Irrtums begriffen werden, vom Standpunkt der Geschichte aus ist er eine wunderliche Verzerrung der Wahrheit. Das Christentum ist so wenig eine Religion, die in einem Buch zusammengefaßt und auf ein Buch angewiesen ist, daß der Apostel selbst die Schrift als einen Teil der apostolischen Überlieferung bezeichnet. Und das mit Recht. Dadurch, daß die Apostel eine gewisse Anzahl der Lehren, die sie mündlich predigten, gelegentlich auch schriftlich aufgezeichneten, änderten diese Lehre nicht ihren ursprünglichen Charakter und hörten nicht auf, der von Christus mündlich gepredigten und von den Aposteln mündlich weiter verbreiteten Summe der christlichen Lehre einverleibt zu sein. Schrift und Tradition sind also ihrer Natur nach nicht Gegensätze, sondern innig verwandt. Die Schrift schöpft nur aus der Tradition, ohne sie übrigens zu erschöpfen. Die Tradition hat also weiteren Umfang als die Schrift.
Auf dieser Grundanschauungen ruht denn auch die Theologie und die Kontroverse der ältesten Kirchenväter. Schon damals war die Lehre von der Tradition modern, und zwar im höchsten Grade. Daher stehen, sagen sie, Dogmen gegen Dogmen, unsere katholischen Dogmen und die Dogmen der Häretiker. Wir berufen uns für die unsrigen auf die Schrift, sie für die ihrigen auf dieselbe Schrift. Wie läßt sich da der Streit entscheiden? Offenbar nie, wenn es keinen weiteren Weg über die Schrift hinaus gibt. Aber es gibt einen Weg: die apostolischen Überlieferung. Nur durch sie wissen wir, daß es eine Heilige Schrift gibt, nur durch sie, was zur Heiligen Schrift gehört und was nicht, nur durch sie, welchen Sinn jede Stelle der Heiligen Schrift hat. In allen Fragen also, auch in denen über den Bestand und die Auslegung der Schrift müssen wir zur Überlieferung unsere Zuflucht nehmen. Was mit dieser übereinstimmt, das ist die Lehre der Apostel, die Lehre Christi, die Lehre der göttlichen Offenbarung, was mit ihr im Widerspruch steht, das ist Irrtum, das ist häretisch. Nun aber, wo und wie finden wir mit untrüglicher Sicherheit, was die apostolischen Überlieferung ist? Darauf antworten uns die Väter, wie wir im vorausgehenden Abschnitte bereits gehört haben, in ebenso einfacher Weise. Die ununterbrochene Überlieferung der unveränderten Lehre ist uns verbürgt durch die ununterbrochene Überlieferung des kirchlichen Lehramtes. Der Herr hat den Aposteln die Verkündigung seiner Lehre anvertraut, die Apostel haben sich nach seiner Anordnung Stellvertreter und Nachfolger bestellt, denen sie die Verkündigung derselben Lehre anvertraut haben. So sind wir durch die ununterbrochene Nachfolge im apostolischen Amt sicher, daß wir die apostolische Überlieferung ununterbrochen empfangen haben und unverändert besitzen.
Somit hängt die Lehre von der Tradition untrennbar zusammen mit der von der Kirche, und zwar von der hierarchischen, der lehrenden Kirche. Nicht als ob nicht auch die glaubende Kirche die Überlieferung fortpflanzte. Es ist ja sicher, daß auch die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Kirche bilden, den Glauben nicht verlieren kann. Aber einmal haben diese die Gewähr nur unter der Bedingung, daß sie der lehrenden Kirche verbunden bleiben, und dann können sie, wenn sich Irrungen oder Zweifel erheben, wohl Zeugnis für die Überlieferung geben, sie haben jedoch keine Macht zur Entscheidung über wahr und falsch. Dieses Recht hat nur die hierarchische Kirche, jener Teil der Kirche, dem mit dem Amt der Apostel auch deren Pflicht übertragen worden ist, die von Christus mitgeteilte Lehre fort und fort weiter zu verbreiten, zu erklären und gegen Entstellungen sicherzustellen.
Bei dieser Gelegenheit müssen wir die Beweisführung der Väter nach einer weiteren Seite hin erwägen. Sie steht im vollen Gegensatz zu der unsrigen, und wir haben allen Grund, unsere Art nach der ihrigen zu verbessern. Wenn wir irgendeine Lehre als apostolische Tradition nachweisen wollen, so fangen wir stets oben, bei den Aposteln, bei der Heiligen Schrift an. Gut, und sicher einzig richtig, wenn uns die Schrift darüber etwas sicheres sagt.
Wie aber, wenn sie nichts sagte oder wenn sie nur in kurzen Andeutungen von der Sache spricht? Und wie, wenn selbst die uns oft nur bruchstückweise erhaltenen Schriften der Väter durch Jahrhunderte darüber sehr wenig mitteilen, bis sie endlich ziemlich spät davon ausdrücklich handeln? Dann, sagen wir, müßten wir die Untersuchung dogmengeschichtlich führen. Es wäre im höchsten Grade unwissenschaftlich, die früheren mangelhaften und unklaren Aussprüche aus den späteren zu erklären; gerade umgekehrt müsse man die späteren klaren Zeugnisse nach den älteren, unbestimmten Andeutungen ihrer allzu großen Bestimmtheit entkleiden. Man müsse also sagen, die ältesten Zeiten wüßten von der Sache nichts, erst im Laufe der Jahrhunderte finden sich zuerst einzelne Keime, dann allmähliche Entwicklungen und erst lange nachher deutliche Ansätze zum Dogma, vielleicht dieses selbst nirgends.
Wenn Protestanten also vorangehen, so begreift man das, - zum Teil wenigstens - ganz auch bei ihnen nicht. Denn mögen sie auch die kirchliche Tradition leugnen, so müssen sie doch begreifen, daß ein ähnliches Beweisverfahren selbst in der rein weltlichen Tradition oftmals recht bedenklich wäre. Wie mißlich stünde es, um ein Beispiel zu wählen, mit dem Nachweis gerade für den ältesten Adel, nachdem die Stürme der Vergangenheit die Dokumente dafür so überaus lückenhaft gemacht haben! Indes, wir begreifen es, daß der Protestantismus sich dadurch nicht irre machen lassen kann, denn da er nur die Heilige Schrift als Quelle gelten läßt, so muß er ihr gegenüber verfahren, wie er tut, und dann muß auch die ganze Geschichte, die kirchliche wie die weltliche, unter den Folgen leiden. Wie sich aber Katholiken dieser oft recht fragliche und nur teilweise richtige dogmengeschichtliche Methode als die einzig wissenschaftliche einreden lassen können, das begriffe niemand, wenn er nicht gedächte, daß sie, gewiß ohne es ausdrücklich und klar zu wollen, dabei ganz von der ununterbrochenen kirchlichen Tradition absehen.
Die Väter haben das nicht getan und deshalb, auf diese gestützt, den gerade entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Sie fingen sehr häufig - nicht immer - statt von oben umgekehrt von unten an. Jetzt, sagten sie, glaubt die katholische Kirche so. Sie hat diese Lehre nicht erfunden, sondern vom vergangenen Geschlecht erhalten. Auch dieses hat sie nicht eingeführt, sondern sie bereits vorgefunden. Und so stiegen sie hinauf, beginnend mit dem gegenwärtigen Besitzstand, bis zu den Zeiten der Apostel. Wenn irgendeinmal, so urteilten sie, eine Änderung oder eine Neuschaffung stattgefunden hätte, so müßte das bewiesen werden. Kann dafür kein ausdrücklicher Beweis angeführt werden, so sind wir sicher, daß keine Unterbrechung die apostolischen Tradition denkbar ist, weil der Wächter über sie, die Kirche, durch die ununterbrochene Reihenfolge der apostolischen Nachfolge dafür gut steht…
Die alte Kirche nahm, wie uns Irenäus und Tertulian berichten, einfach den Faden der Lehrentwicklungen in dem eben gegenwärtigen Augenblick und in dem Zustand der Ausbildung auf, den sie innerhalb der Kirche bis dorthin gefunden hatte. Diesen Faden verfolgte sie an der Hand der Kirche bis hinauf zu den Aposteln und bis zu Christus und sagte dann: so glaubt die Kirche heute, eine Änderung ist nirgends nachweisbar, also müssen Evangelium und apostolische Tradition in diesem Sinne verstanden werden… Dies die altkirchliche Lehre von der Tradition und deren Anwendung auf die Lehre. Wie wichtig diese ist, das vollständig zu erweisen, war unserer Zeit vorbehalten. Nunmehr hat die Lehre von der Tradition nicht bloß neue Bedeutung, sondern die hellste Beleuchtung erhalten. Jetzt erst ist es uns gegeben, sie in ihrer ganzen Wichtigkeit zu erfassen, denn, wie die Dinge heute liegen, hat sich die uralte, abermals zu kurz behandelte Lehre von der Tradition zu jener endlosen Menge von Untersuchungen über das Wesen, die Entwicklung und die Weiterbildung des Christentums umgewandelt, die unseren Glauben allen Boden entziehen und unserer Religion ein recht zweifelhaftes Recht auf Existenz übrig zu lassen scheinen.
Die Anfänge des Christentums, so lautet das Endergebnis der unermeßlichen Literatur, die diesen Gegenstand gewidmet ist, sind die allereinfachsten, freilich auch die allerdunkelsten. Einige Gedanken der allerallgemeinsten Art, die Liebe zum Vater, die Liebe zur Menschheit, das ist die ‚ursprüngliche christliche Idee’. Es kamen die Apostel und die ersten Christen, die viel zu ungebildet waren, als daß sie diese beiden geistigen Ideen in ihrer Einfachheit hätten bewahren können. Die Folge war, daß schon sie diese vielfach durch grobe Materialisierung aus ihrer Höhe herabzogen. Die ‚pharisäische’ Spekulation und Scholastik, wodurch Paulus den Grund zu einem dogmatischen System legte - Paulus gilt diesen Gelehrten nur als pharisäische Scholastiker - war kein geringeres Unheil als der Mangel an Wissenschaft bei den anderen. Aus diesen und anderen Anfängen ergab sich nach und nach das ganze Unheil des ‚Katholizismus’, nicht auf einmal, aber unaufhörlich, nachdem der erste Abfall vollzogen war. Die erst so unfaßbaren geistigen Ideen verdichteten sich zu Niederschlägen, diese zu festen Kernen, an sie legten sich Schalen, Hüllen, Mäntel in immer steigender Menge, bis wir endlich Kirche, Dogmen, Gesetze, Einrichtungen ohne Ende, kurz die katholische Kirche haben. Mit dem Nicänum war das erste Unheil fertig, und nun begann der weitere Verfall, die innere Umgestaltung der Lehre und der Kirche. Die Anpassung des Christentums an die umgebende Welt, die naturnotwendige Bedingung für seinen Sieg über das Heidentum, zwang dazu, den heidnischen Gedanken zum Ausbau der Kirche und die heidnische Philosophie zur Ausgestaltung der bis dorthin noch immer recht einfachen Lehre heranzuziehen. So drangen die Welt, die Zeit, kurz die Umgebung siegreich ins Christentum ein. Mit jedem neuen Abschnitt der Geschichte finden wir einen neuen Einfall von außen, bald dogmatischer, bald philosophischer, bald kirchenrechtlicher Art, und jeder führte dazu, das Christentum auf eine neue Stufe der Evolution weiter zu drängen, es aber damit auch jedes Mal der ursprünglichen christlichen Idee immer mehr zu entfremden.
Die Reformation hat in anerkennenswerter Weise versucht, das Christentum auf seine erste Reinheit zurückzuführen. Da aber die Reformatoren selber noch vollständig in den katholischen Anschauungen befangen waren, konnten sie nur in höchst unvollkommener Weise ihren Aufgaben gerecht werden. Erst jetzt gelingt es allmählich der vorurteilslosen Wissenschaft, das Christentum, geläutert von all diesen historischen Auswüchsen, von Kirchen, von Dogmen und menschlichen Satzungen, auf dem Wege der Reduktion zu seiner richtigen Auffassung zurückzuführen, sein wahres Wesen, die ‚christliche Idee’, aus ihm ‚herauszuschälen’ und ihm jenen Charakter zu verschaffen, in dem es allein noch seine Stellung in der modernen Welt behaupten kann, den Charakter des ‚persönlichen’, des reinen geistigen Christentums. Dies mit den kürzesten Worten der Inbegriff der sogenannten modernen Religionsanschauung, mit der wir es nun zu tun haben.
Das Christentum braucht auf sie wahrhaftig nicht stolz zu werden, aber auch die moderne Religionswissenschaft nicht. Denn entweder stellt sie sich die Geschichte des Christentums vor wie die Entstehung und den Ausgang eines Hagelwetters, oder sie überträgt die Theorie von Laplace über den Ursprung der Welt auf das Christentum, leider nur dessen Anfang, aber nicht auf den Ausgang. Dort werden wir nach Millionen von Jahren aus den Urnebel schließlich auf festem Boden geführt, hier führt man uns so lang im Nebel herum, bis wir zuletzt den Boden unter den Füßen und den Halt im Kopf verlieren...
Christus hat nicht ein unfaßbares ‚Christentum an sich’, nicht eine inhaltsleere ‚christliche Idee’, nicht eine bodenlose ‚christliche Basis’ gestiftet, sondern eine sichtbare, greifbare Kirche, und selbst diese unmittelbar und in eigener Person nur in Gestalt der Hierarchie. Den vollständigen Ausbau hat er nur mittelbar durch seine Apostel vollzogen. Dieser Kirche hat er alle seine eigene Gewalt gegeben, ihr hat er die Ausbreitung seiner Lehre, ihr die Spendung der Sakramente übertragen, und das alles mit solcher Vollmacht, daß jeder, der ihrem Worte den Glauben, ihren Anordnungen den Gehorsam verweigert, ausgeschlossen ist vom Reiche Gottes, aus der sichtbaren Kirche diesseits, vom ewigen Leben jenseits. So sagt uns die apostolische Tradition, deren wir in diesem Fall auf doppelte Weise sicher sind, durch die Überlieferung der Kirche und durch das ausdrückliche Zeugnis der Heiligen Schrift selber. Dank dieser günstigen Lage können auch wir in diesem Falle die moderne dogmengeschichtliche Methode ohne Gefahr anwenden. Von den Tagen der apostolischen Väter an steht uns eine ununterbrochene Reihe von Zeugnissen zur Verfügung, die alle in der gleichen Weise dafür einstehen, daß das, was Christus gestiftet hat, nicht verloren gegangen, nicht umgeändert, trotz aller Weiterentwicklung nicht durch Neues ersetzt worden ist. Dank der göttlichen Vorsehung können wir also von der Überlieferung wie von der Heiligen Schrift die Integrität behaupten. Es ist nichts zu Grunde gegangen von allem, was uns Christus durch die Apostel übermittelt hat. Es ist nichts Neues in den Schatz der Überlieferung eingeschmuggelt worden, und dessen sind wir sicher, daß auch nie etwas in unserem Glauben eingeschmuggelt werden kann, was nicht von Anfang, wenigstens dem Wesen nach, der Kirche übergeben worden ist. Kein Papst, kein Konzil kann etwas als Dogma definieren, was nicht zur Hinterlage des Glaubens von allem Anfang gehört; keine Zeit, keine Bildungsstufe kann, sei es aus sich selbst heraus, sei es durch Übernahme aus den Zeitideen oder aus der eben herrschenden Weltanschauung, eine neue öffentliche Meinung schaffen, die sich zuletzt der Kirche mit überlegener Macht aufdrängt.
Es kann auch nichts, was einmal zu Überlieferung gehörte, in einem anderen Sinn erklärt werden als früher, so daß wohl die Worte blieben, deren Inhalt aber wechselte. Daraus folgt von selbst die Kontinuität, die beschauliche, gleichmäßige, und ununterbrochene Fortdauer der Tradition. Es mag sein, das wir nicht alle einzelnen Lehren für jede einzelne Zeit nachweisen können. Es mag auch geschehen, daß in Zeiten großer Stürme manche Lehren in den Hintergrund treten gegenüber anderen, die eben die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Immer aber wird sich zeigen, daß auch sie später, wenn Bedürfnis dafür entsteht, wieder zum Vorschein kommen, und zwar ganz in der Gestalt, in der sie vor langer Zeit in Geltung waren, ja vielleicht, trotz des scheinbaren Schlummers, in dem sie gelegen zu haben scheinen, deutlicher ausgebildet als früher. Denn das Beharren schließt keineswegs die Entwicklung aus. Diese ist die dritte Eigenschaft, die der Überlieferung zukommt. Sie ist nun aber gerade jene, die der modernen Wissenschaft die gröbsten Schwierigkeiten bietet. Diese kann, wenn sie von Evolution redet, keine andere Entwicklung denken als eine Umbildung durch Annahme fremder, durch Ausstoßung eigener Bestandteile, durch Umgestaltung in eine neue Seinsweise. Keine von diesen Erklärungen trifft aber bei der kirchlichen Überlieferung zu, wie schon Vinzenz von Lerin in seinem unschätzbaren Commonitorium durchgeführt hat. Daß eine Weiterbildung nicht bloß der kirchlichen Disziplin, sondern auch der kirchlichen Lehre stattfindet, das bedarf keines Wortes…
Die Evolution in der christlichen Lehre ist nicht ein Weiterschreiten nach außen, sondern ein Ausreifen nach innen, eine nähere Bestimmung ihrer Bedeutung. Bald wird auf diese Weise der Inhalt der Dogmen in neuer, tieferer Fülle klargestellt, bald treten Tragweite, Anwendbarkeit und Konsequenzen in desto weiterem Umfang an den Tag, je mehr die neuen Ideen der Geschichte nach ihrer Verwandtschaft oder nach ihrem Gegensatz mit Ihnen in Verbindung gebracht werden. Das zeigt aber schon, daß dieser Fortschritt keine Veränderung mit sich bringt, sondern daß gleichwohl das Dogma, aller Ausbildung ungeachtet, in seinem Wesen das gleiche bleibt.“
Zur Einheit des Glaubens hat Papst Leo XIII. in seinem Apostolischen Rundschreiben „SATIS COGNITUM“ vom 29.6.1896 (vollständiger Abdruck: ‚Einsicht’ 4/2009, S. 57 ff) ausgeführt:
„Er, der nur eine einzige Kirche gründete, hat sie auch einig gewollt, und zwar derart, daß alle, die zu ihr gehören sollten, durch die innigsten Bande miteinander vereinigt durchaus nur ein Volk, ein Reich, einen Leib ausmachen. ‚Ein Leib und ein Geist, so wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Bestimmung’ (Eph 4, 4). Den diesbezüglichen Willen hat Christus kurz vor seinem Tode noch bestätigt und feierlich besiegelt, da er zum Vater betete: ‚Nicht für sie allein bitte ich, sondern auch für jene, die einst auf ihr Wort hin an mich glauben werden..., damit auch sie in uns eins seien ..., damit sie vollkommen eins seien’ (Joh 17, 20 , 21 und 23); Ja, eine so innige und vollkommene Einheit forderte er unter seinen Jüngern, daß sie in gewisser Beziehung seiner Einheit mit dem Vater gleichkomme: ‚Ich bitte darum ..., daß sie alle eins seien wie du, Vater, in mir bist und ich in dir’ (Joh 17, 21).
Eine derart innige und unbedingte Eintracht muß jedoch die Übereinstimmung der Geister zur Grundlage haben. Alsdann wird von selbst die Eintracht im Willen und die Gleichförmigkeit im Handeln zustande kommen. Deshalb verlangte er gemäß seinem göttlichen Ratschluß in seiner Kirche die Einheit des Glaubens. Diese Tugend ist nämlich das erste Band zwischen uns und Gott, weshalb wir auch den Namen ‚Gläubige’ tragen. ‚Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe’ (Eph 4, 5). Wie wir nur einen Herrn haben und nur eine Taufe, so sollen alle Christen auf der ganzen Welt nur einen Glauben haben… Um nun die Geister zu einen, um Eintracht in der Lehre herbeizuführen und zu sichern, bedurfte es außer der Heiligen Schrift noch einer anderen Grundlage. Das ist eine Forderung der göttlichen Weisheit. Denn Gott konnte nicht die Einheit im Glauben wollen, ohne zugleich ein wirksames Mittel zur Bewahrung dieser Einheit vorzusehen…
Jesus Christus beweist seine Gottheit und seine göttliche Sendung durch die Kraft seiner Wunder; er unterrichtet mit Hingebung das Volk in den himmlischen Wahrheiten, er verlangt durchaus, daß man seiner Lehre Glauben schenke, unter Verheißung von ewigem Lohn und ewiger Strafe. ‚Wenn ich nicht die Werke meines Vaters tue, so mögt ihr mir den Glauben verweigern’ (Joh 10, 37). ‚Hätte ich nicht die Werke unter ihnen getan, die kein anderer vollbracht, so hätten sie keine Sünde’ (Joh 15, 24). ‚Wenn ich sie aber vollbringe, und ihr wollt mir nicht glauben, so glaubet doch den Werken’ (Joh 10, 38). Was er immer befiehlt, befiehlt er mit derselben Autorität; wo er die Zustimmung des Verstandes fordert, nimmt er nichts aus. Wenn sie selig werden wollten, hatten also jene, die Jesus hörten, die Pflicht, nicht bloß seine gesamte Lehre im allgemeinen anzunehmen, sondern auch jeder einzelnen von ihm gelehrten Wahrheit innerlich restlos zuzustimmen. Es ist eben ein Widerspruch, behaupten zu wollen, man dürfe auch nur in einem einzigen Punkte Gott den Glauben verweigern…
Daher verordnete er, daß die Lehre der Apostel ebenso ehrerbietig anzunehmen und treu zu halten sei, wie seine eigene: ‚Wer auf euch hört, hört auf mich, wer euch verachtet, der verachtet mich’ (Lk 10, 16). Die Apostel sind also die Gesandten Christi, wie er selbst der Gesandte des Vaters ist: ‚Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch’ (Joh 20, 21), wie daher die Apostel und Jünger dem Worte Christi glauben mußten, so sollten auch alle jene den Aposteln glauben, denen sie kraft göttlichen Auftrages predigten. Wie es nicht erlaubt war, einen Punkt der Lehre Christi abzulehnen, ebenso wenig durfte eine Vorschrift der Apostellehre verworfen werden…
Wie wir bereits dargelegt haben, war jedoch das Amt der Apostel nicht derart, daß es mit den Aposteln untergehen oder mit der Zeit verschwinden konnte, war es doch für alle bestimmt und zum Heile der Menschheit gestiftet. Jesus befahl nämlich seinen Aposteln, das Evangelium der ganzen Schöpfung zu predigen und seinen Namen vor Könige und Völker zu tragen und seine Zeugen zu sein bis an die Grenzen der Erde. Überdies versprach er ihnen, er werde ihnen beistehen in der Verwaltung dieses hohen Amtes, nicht bloß auf einige Jahre oder Jahrhunderte, sondern für alle Zeiten bis zum Ende der Welt. Darum sagt Hieronymus: ‚Wer verspricht, er werde bis zum Ende der Welt bei seinen Jüngern bleiben, sagt damit auch, dass sie fortleben und daß er selber nie von den Gläubigen weichen werde’…
Einerseits muß also das Amt, alles zu lehren, was Christus gelehrt, ständig und unwandelbar fortdauern; anderseits ist aber auch beständig und unwandelbar die Pflicht, jene Lehre anzunehmen und zu bekennen…
Ausgerüstet mit diesem Auftrag und eingedenk ihres Amtes, hat die Kirche auf nichts anderes größeren Eifer und größere Tatkraft verwandt, als auf die allseitige Verteidigung der Unversehrtheit des Glaubens. Deshalb hat sie alle jene, die in irgendeinem Punkte der Lehre nicht mit ihr übereinstimmten, alsbald des Hochverrates schuldig erklärt und aus ihrer Mitte ausgeschlossen…
In ähnlicher Weise sind alle verurteilt worden, die zu verschiedenen Zeiten als Urheber von Irrlehren aufgetreten sind. ‚Es gibt nichts Gefährlicheres als diese Irrlehrer; über alles reden sie zwar tadellos, mit einem Wörtchen aber verderben sie, wie mit einem Tröpflein Gift, den reinen und unverfälschten Glauben an die göttliche und folglich auch an die apostolische Überlieferung’.
So hat die Kirche stets gehandelt, gestützt auf das einstimmige Urteil der Väter; diese waren immer der Überzeugung, es sei aus der katholischen Gemeinschaft ausgeschlossen und von der Kirche abgefallen, wer auch nur im geringsten von der durch das beglaubigte Lehramt vorgetragenen Lehre abgewichen sei…
Aus dem Gesagten geht eindeutig hervor, daß Jesus Christus ein lebendiges, beglaubigtes und ewig fortdauerndes Lehramt in der Kirche eingesetzt hat, das er mit seiner Vollmacht ausstattete, mit dem Geist der Wahrheit ausrüstete und durch Wunder bestätigte; und er hat gewollt und aufs nachdrücklichste eingeschärft, man solle die Vorschriften dieses Lehramtes aufnehmen, wie wenn es seine eigenen wären. Sooft folglich dieses Lehramt erklärt, diese oder jene Wahrheit gehöre zum Inhalt der von Gott geoffenbarten Lehre, dann hat jedermann fest zu glauben, daß dies wahr ist; könnte das jemals falsch sein, so würde daraus folgen, was ein offensichtlicher Widerspruch ist, daß nämlich Gott selber der Urheber des Irrtums im Menschen wäre…
Ist demnach jeder Grund zum Zweifel ausgeschlossen, wie kann dann jemand auch nur eine einzige jener Wahrheiten verwerfen, ohne sich damit in offene Häresie hineinzustürzen, ohne sich von der Kirche zu trennen und mit dem einen Satz die ganze christliche Lehre zu verwerfen?
Aus der Natur des Glaubens folgt, daß nichts ihm so sehr widerspricht, als wenn man das eine glaubt und das andere verwirft. Die Kirche lehrt nämlich, ‚daß der Glaube ... eine übernatürliche Tugend ist, durch die wir unter Anregung und mit Hilfe der Gnade Gottes seine Offenbarung für wahr halten, nicht wegen der natürlichen Vernunfteinsicht in den inneren Wahrheitsgehalt des Gegenstandes, sondern wegen der Autorität des offenbarenden Gottes selbst, der weder sich täuschen noch andere irreführen kann’ (Vatikan. Konzil)…
Wer hingegen die geoffenbarten Wahrheiten auch nur in einem Punkte leugnet, streift in Wirklichkeit den Glauben ganz ab, da er sich weigert, Gott als die höchste Wahrheit und als den eigentlichen Beweggrund des Glaubens zu achten.“
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Und wie eine vorweggenommene Zusammenfassung der eben zitierten, zeitlich später in „Satis cognitum“ von Papst Leo XIII. vorgetragenen Lehre der Kirche lautet das Urteil von Hergenröther (a.a.O., S. 15, f.), das in Wirklichkeit jedoch nichts anderes als die Essenz der stets vorgetragenen Lehre der Kirche enthält:
„Seiner Kirche hat Christus die Perpetuität und Indefectibilität verheißen. Ist der Zweck der Kirche, das Heil, das in Christus erschienen ist, allen Menschen aller Zeiten zu vermitteln, so muß auch die Kirche fortbestehen und in ihr all das, was zur Erreichung dieses Zweckes nothwendig ist. Das Christentum ist die absolut vollkommenste Religion und kann daher nie aufhören, nie beseitigt werden, darum auch die Kirche nicht, die dessen nothwendige Darstellung ist. Die Kirche ist gestiftet für alle Zeiten, sie ist eine societas perpetuo duratura, und darum auch unveränderlich. Denn die Gesellschaft hört auf, ist nicht mehr dieselbe, wenn ihr Wesen verändert wird. Das Wesen der Kirche muß immer dasselbe bleiben, wenn sie die Kirche Christi sein soll. Wohl gehen Veränderungen in der Kirche vor, sonst hätte sie auch keine Geschichte; es wechseln Personen und Zeiten; wie die Kirche selbst aus dem kleinen Senfkorn zum mächtigen Baume sich entwickelte, so entfaltet sie auch ihre Disciplin, werden neue Gesetze nothwendig, ja selbst ihr Glaube wird immer mehr entwickelt, erklärt, durchdrungen, aber ohne Vermehrung und Verminderung des depositum fidei (Anmerkung d. Verf.: des Glaubensgutes der Kirche). Die Veränderungen, die an der Kirche vorgehen, sind nur modale, accidentelle, keine substanziellen; das Wesen der Kirche ist unveränderlich. Daraus folgt... nothwendig die Unverirrlichkeit, Unfehlbarkeit der Kirche. Kann die Kirche nicht aufhören, so auch nicht ihre wesentliche Grundlage, ihr Glaube; ist die Kirche unveränderlich in ihrem Wesen, so muß sie es in ihrem Glauben sein. Diese Unfehlbarkeit hat Christus, der die Wahrheit selbst ist, seiner Kirche verheißen; er hat uns angewiesen, überall der Kirche zu folgen, ihrem Ausspruch unser Urtheil zu unterwerfen (vergl. 2 Kor. 10, 5); Er selbst würde uns in Irrthum führen, wenn die Kirche irren, also in Irrthum führen könnte. Würde die von Christus gestiftete Kirche in Irrthum fallen, so wäre nicht mehr bei ihr der Geist der Wahrheit, der nach Christi Verheißung bei ihr bleiben und sie in alle Wahrheit einführen soll; sie wäre nicht mehr, wie der Apostel sie nennt, die Kirche des lebendigen Gottes, Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit. Die Unverirrlichkeit der Kirche (passive Unfehlbarkeit) beruht aber auf dem Lehramt der Kirche, dem Christus die (active) Unfehlbarkeit verheißen hat.“ Und Kanon 1322 § 1 CIC („Codex iuris canonici Pii X. Ponificis Maximi jussu digestus, Benedicti Papae XV. auctoritate promulgatus“, publiziert in den „Acta Apostolicae Sedis“ mit der Konstitution „providentissima mater ecclesia“ vom 27.5.1917 - das am 19.5.1918 in Kraft getretene Gesetzbuch der Kirche, eine – bis auf Vorschriften zur Liturgie (vergl. Kanon 2 CIC) - zusammenfassende Abhandlung des Kirchenrechts, basierend auf einzelnen, jeweils Teilgebiete des Kirchenrechts umfassenden Kodifikationen (vergl. Perathoner, a.a.O., S. 43, f; Retzbach, a.a.O., S. XVIII, f.)) lautet: „Unser Herr Jesus Christus hat den Schatz der in Tradition und Hl. Schrift enthaltenen Offenbarungen (depositum fidei) seiner Kirche anvertraut, damit sie diese Offenbarung unter dem ständigen Beistand des Hl. Geistes heilig bewahre und den Gläubigen unverfälscht darbiete.“
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