Das sakramentale Wirken der Kirche
von Karl Adam
"Christus hat die Kirche geliebt und Sich für sie dahingegeben, um sie zu heiligen und zu reinigen durch das Bad des Wassers im Wort." (Eph. 5, 25 f.)
Der Endzweck der Kirche ist die Aufrichtung der Gottesherrschaft auf Erden, also die Heiligung der Menschen. Paulus umschreibt diesen Endzweck mit den Worten: "Christus hat die Kirche geliebt und Sich selbst für sie hingegeben, um sie zu heiligen, indem Er sie reinigte durch das Wasserbad im Wort. Herrlich wollte Er die Kirche für Sich Selbst darstellen, ohne Makel, ohne Runzel oder andere Gebrechen. Heilig sollte sie vielmehr sein und ohne Fehl." (Eph. 5, 25 ff.) Der Apostel zeichnet damit ein Ideal hin, das in der irdischen Kirche niemals restlose Erfüllung finden kann. Denn von ihr gilt, was Christus im Abendmahlssaal zu Seinen Jüngern bemerkte:
"Ihr seid rein, aber nicht alle" (Joh. 13, 10). Zu deutlich hatte es der Herr vorausgesagt, daß Unkraut unter dem Weizen, daß schlechte Fische unter den guten sein werden, und daß böse Ärgernisse kommen müssen. Solange die Kirche in dieser Welt der Ankunft Jesu entgegenharrt, wird sie nicht bloß beten: Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme zu uns. Sie wird immerdar zu rufen haben: Vergib uns unsere Schulden, führe uns nicht in Versuchung!
Aber so wenig die Diesseitskirche eine Gemeinschaft wahrer Heiliger genannt werden kann - wie denn auch das Neue Testament es vermeidet, in diesem Sinn von einer "heiligen Kirche" schlechthin zu reden -, so drängt doch ihre ganze Wesensanlage als Leib Christi dahin, die Menschen, alle Menschen, in langsamem, aber beharrlichem Prozeß aus ihrer Ichsucht zu erlösen und neue Menschen, Kinder Gottes, "Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes" (Eph.2. 19), eine "königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk" (1. Petr. 2, 9) aus ihnen zu gestalten. Von dieser ihrer Wesensaufgabe her gewinnt die Kirche den bereits von den apostolischen Vätern verwendeten und in das altkirchliche Glaubenssymbol aufgenommenen ehrwürdigen Namen: Heilige Kirche.
Wir beantworten heute und im nächsten Vortrag die Frage: Wodurch bewährt sich die katholische Kirche als die heilige Kirche? Worin liegt die heiligende Kraft ihrer Verkündigung? Wenn nach dem Apostelwort (1. Tim. 1, 5) die Liebe das Ziel aller Verkündigung ist, die Liebe, die "aus reinem Herzen stammt und aus einem guten Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben", erweist sie sich wirklich in Lehre und Kult als die hohe Schule dieser Liebe, als die Heilsanstalt in einzigartigem und umfassendem Sinn des Wortes?
Grundlegend für die Würdigung der kirchlichen Heilandsmacht ist ihre dogmatische Lehre über das Wesen und Werden des wiedergeborenen Menschen, des homo sanctus, also ihr Rechtfertigungsbegriff. Die kirchliche Rechtfertigungslehre ruht auf der Voraussetzung, daß der Mensch nicht zu einem bloß natürlichen Endziel, zur Erfüllung seines natürlichen Wesens, zur Auswirkung seiner natürlichen Kräfte und Anlagen berufen ist, sondern zu einer übernatürlichen, d. h. alle geschöpflichen Anlagen und Kräfte schlechthin überschreitenden Wesenserhöhung, zur Gotteskindschaft, zur Teilnahme am göttlichen Leben selbst. Das ist der Kern der christlichen Frohbotschaft: "Allen, die Er aufnahm, gab Er Macht, Kinder Gottes zu werden" (Joh.1, 12). "Geliebteste, jetzt sind wir Kinder Gottes, und was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen aber, daß wir Ihm ähnlich sein werden, wenn Er erscheint" (1. Joh. 3, 2).
Diese Ähnlichkeit besteht nach dem zweiten Petrusbrief in einer gnadenvollen Bereicherung, Erfüllung, Durchsättigung unseres Wesens mit göttlichen heiligen Lebenskräften: "Wir werden teilhaft der göttlichen Natur" (2. Petr. 1, 4). "Wir gewinnen Anteil an Seiner Herrlichkeit" (Hebr. 12, 10). Das Endziel des Menschen liegt also nicht im bloßen Menschentum selbst, sondern in einer neuen Art von Übermenschentum, in einer Erhöhung, Erhebung seines Daseins, welche alle geschöpflichen Kräfte wesensmäßig überschreitet und in eine schlechthin neue Seins- und Lebenssphäre emporträgt, in die Lebensfülle Gottes. Gerade dadurch erweist sich Gott am leuchtendsten als absolute, Sich Selbst wahrhaft besitzende, aller Weltbezogenheit entrückte Persönlichkeit, daß Er Sich uns persönlich erschließt, als ein Ich dem Du. Und gerade dadurch bezeugt Er Sich als wesenhafte Güte, daß Er Sich uns erschließt wie der Freund dem Freund, nein, wie der Vater dem Kind; daß wir durch die Kraft Seiner Liebesmacht Seines Geblütes werden und rufen dürfen:
Abba, Vater. Das kirchliche Erziehungswerk kann sich von da aus nicht mit der Herausformung des rein Menschlichen, des Edelmenschlichen bescheiden. Es ist nicht bloße Humanitätskultur. Das kirchliche Erziehungsideal heißt vielmehr: Übernatur, Vergöttlichung. Der Drang über sich selbst hinaus nach dem Besseren, Besten; der Zug zum höchsten Wert, den es im Himmel und auf Erden gibt; die Bewegung in die unergründlichen Tiefen des göttlichen Mysteriums hinein und damit die Liebe zum Heroischen, zu dem Nicht-mehr-Begreiflichen, Unfaßbaren, zu den Weiten des Unendlichen ist dem kirchlichen Ethos wesentlich. Im Leben des Einzelchristen wiederholt sich auf dem Weg der Gnade immer von neuem jenes Geheimnis der Erhebung des Menschen zu Gott, das in Christus einzigartige höchste Wirklichkeit wurde, als der dreifaltige Gott die menschliche Natur ein für allemal mit der göttlichen zur Einheit der Person verband.
Diese Erhebung des Menschen zur innigsten Lebens- und Liebesgemeinschaft mit Gott kann nicht das Werk des Menschen selbst sein. Sie kann durch keine menschliche Anstrengung verdient werden. Sie ist die Tat Gottes allein. Gott schenkt Sich denen, denen Er Sich schenken will, aus freiester Erbarmung und Liebe. Darum ist es kirchliches Dogma, daß jede Bewegung des Menschen zu Gott hin, jeder besinnliche, gute Gedanke, jeder heilige Entschluß, jeder reine Affekt von Gottes Gnade ausgelöst und getragen wird - die Theologen sprechen insofern von einer wirkenden Gnade -; und weiter, daß die endgültige Begründung des neuen Lebens in der Seele, die Zuständlichkeit einer unmittelbaren Lebens- und Liebesgemeinschaft mit Gott - das, was die Theologie heiligmachende Gnade nennt - von Gott allein ohne jedes menschliche Verdienst in der Seele bewirkt wird. Es ist die ewige Liebe allein, die zum Kind Gottes macht, ein geheimnisvolles, übernatürlich gewirktes Aufbrechen göttlicher Kräfte im Menschen.
Das Kind Gottes, der Heilige ist darum im Sinn der Kirche wesentlich eine Schöpfung der Gnade, ein Kind der ewigen Liebe. Und insofern es im Wesen Christi und des Christentums gelegen ist, daß die göttliche Liebe und Gnade dem ans Sinnliche gebundenen Menschen unter der Hülle sichtbarer, anschaulicher Zeichen nahegebracht wird, ist die sakramentale Vermittlung der Gnade Christi die erste und vornehmste Aufgabe des kirchlichen Erziehungswerks. Die sieben Sakramente sind die gottgewollte Form, in welcher der Mensch für gewöhnlich (ordinario modo) das Wirken der Gnade Christi, die Erhebung seines Wesens in den göttlichen Liebes- und Lebensstrom erfährt. Daß damit außerordentliche Gnadenwege und Gnadenführungen nicht ausgeschlossen sind, wurde bereits im letzten Vortrag dargelegt. Anderseits - und hier unterscheidet sich die katholische Rechtfertigungslehre vornehmlich von der orthodox-lutherischen - ist es nicht so, als ob sich der Mensch wie ein toter Stein oder Klotz rein passiv gegenüber dem Walten der Gnade verhielte. Nach dem kirchlichen Erbsündebegriff ist die natürliche, religiös-sittliche Veranlagung des Menschen durch die Urschuld nicht derart zerstört, daß, wie die lutherische Konkordienformel sich ausdrückt, "kein Fünklein geistiger Kräfte zur Erkenntnis des Wahren und zur Vollbringung des Guten vorhanden wäre". Die religiös-sittlichen Kräfte des Menschen sind nicht in ihrem natürlichen Wesen, sondern nur in ihrer Wirksamkeit insofern geschwächt, als sie durch die Ursünde von ihrer übernatürlichen Zielrichtung abgebogen, also falsch eingestellt wurden. Die Gnade, die im Menschen aufquellende ewige Liebe vermag diese Kräfte wieder in ihre ursprüngliche Zielrichtung zu bringen und gerade dadurch wieder allseits zu entbinden und frei zu machen.
Die Gnade ist darum nicht bloß verzeihende Barmherzigkeit. Sie ist nicht wie ein strahlender Goldmantel, der über den menschlichen Leichnam gelegt wird. Die Gnade ist vielmehr nach katholischer Betrachtungsweise eine Lebensmacht, welche die seelischen Kräfte des Menschen, seinen Verstand, seinen Willen, sein Gemüt weckt und aufruft und mit einem neuen Höhenstreben durchglüht, mit einer neuen Aufgeschlossenheit für die Wahrheit, mit einem neuen Schrecken vor Gott und Seinem Gericht, mit einer neuen Sehnsucht für das Heilig-Erhabene und für das grenzenlos Gütige. Indem die Gnade derart auf den sündigen Menschen einhämmert und ihn wie durch einen verborgenen Stachel immer wieder zur Höhe hinauftreibt, erzeugt sie im Menschen jene geistige Haltung des Glaubens, der Furcht und des Vertrauens, welche die Rechtfertigung auf Seiten des Menschen vorbereitet. Die diesen Akten folgende Rechtfertigung selbst ist Gottes Tat allein. Im Sakrament der Taufe oder Buße antwortet Gott auf den Flehruf des Büßers mit dem Kuß der vergebenden Liebe: Ich taufe dich, Ich spreche dich los.
Aber - und hier wird das Besondere der katholischen Rechtfertigungslehre, das Dynamische ihres Rechtfertigungsbegriffs von neuem sichtbar - Gott vergibt nicht bloß. Indem Er vergibt, heiligt Er zugleich. Die Rechtfertigung ist also nicht ein Zudecken der Sünde und die äußere Anrechnung der Gerechtigkeit Christi. Sie ist Mitteilung einer wahren inneren Gerechtigkeit, einer neuen, den ganzen Menschen umgestaltenden Liebe. Sie ist Heiligung. Rechtfertigung und Heiligung fallen nicht auseinander, als ob die Heiligung nur eine süße Frucht der Rechtfertigung wäre. Das rechtfertigende Vergebungswort Gottes ist vielmehr ein den Menschen neu schaffendes Allmachtswort, das dem Büßer nicht bloß vergibt, sondern das ihm übernatürliches Leben mitteilt; ja, das ihm gerade dadurch vergibt, daß es den Keim des neuen Lebens in ihn legt. Das Erste, was Gottes Barmherzigkeit im Büßer wirkt, ist die Erweckung dieses neuen Lebens, dieser neuen Liebe, es ist das, was die Theologen "Eingießung der Liebe" (infusio caritatis) nennen, das Aufquellen eines neuen Kindersinns, der Abba, Vater ruft. Die Rechtfertigungsgnade schafft also nach katholischer Lehre nicht bloß ein neues Verhältnis zu Gott, sondern sie begründet darüber hinaus ein neues Verhalten. Sie schafft ein neues Herz, eine neue Liebe.
Nicht von ungefähr und wie etwas Magisches wird dieses neue Herz, der neue Zustand der Gerechtigkeit und Heiligkeit im Menschen erweckt. Der Mensch ist ja bereits innerlich durch seine von der Gnade getragenen Vorbereitungsakte des Glaubens, der Furcht und der Liebe auf das neue Leben hingeordnet. Seine Seele verlangt nach dem Herrn. Sie schreit nach Ihm wie der Hirsch nach der Wasserquelle. Und solchem Rufen antwortet Gott. Er neigt Sich zur Seele nieder und durchlebt sie mit Seiner neuen Liebe. Die Rechtfertigungsgnade hat also ihre seelischen Anknüpfungspunkte in den gnadegewirkten Vorbereitungsakten des Gerechtfertigten. Und sie kommt auch nicht von außen wie ein fremder Zauber, sondern so, wie der Schöpfer zum Geschöpf. Gott ist als schaffende Urkraft alles Seins in uns. Er ist uns näher als wir uns selbst. Er ist der Urgrund, in dem unser Seinskern wesenhaft verwurzelt ist. Aus diesem uns inwendigsten göttlichen Urgrund, der doch wiederum nicht wir selbst sind, steigt das neue Leben empor. Es entbindet alle wertvollen seelischen Kräfte in mir. Es ersteht der neue Drang zu Gott hin, der neue große, starke Wille, die neue Gotterfülltheit, die heilige Liebe. Sie ist nicht von mir, und doch ist sie ganz mein. Denn sie ist aus dem göttlichen Urgrund, der mein Wesen erhält und trägt. Der Ausdruck "Eingießung der Liebe" will also besagen: Die neue Liebe strömt aus einem Urgrund in mich ein, der nicht mein eigenes Selbst ist. Aber dieser Urgrund ist nicht fern von mir, sondern inwendigst in mir, denn in ihm wurzelt mein Sein. Wer mit der Wirklichkeit Gottes Ernst macht, der muß auch mit dem Gedanken Ernst machen, daß in dieser göttlichen Wirklichkeit allein der Quellgrund aller Kraft und alles Segens liegt, daß also der Anbeginn des neuen Lebens nicht von mir, sondern von Gott kommt. Das meint der Ausdruck "Eingießung". Wer seinen theologischen Gehalt leugnet, kommt aus der Enge seiner Bewußtseinswelt nicht heraus. Er gelangt zu: keiner außerpersönlichen Gottwirklichkeit. Er bleibt in seinem Ich gefangen und ist letzten Endes genötigt, dieses Ich selbst im Sinn des idealistischen Monismus zum Weltgrund auszudeuten.
Der Rechtfertigungsakt besteht nach dem Gesagten in der schöpferischen Herstellung eines neuen Menschen, des Menschen der Wiedergeburt. Aber dieser neue Mensch ist noch wie ein Kind, das Milch zu sich nimmt, keine feste Speise. Die neue, durch die heiligmachende Gnade eingegossene Liebe muß sprossen und wachsen bis zum Vollalter Christi. In diesem Wachsenkönnen der Rechtfertigungsgnade ist das dritte Unterscheidungsmerkmal der katholischen Rechtfertigungslehre gelegen. "Wer gerecht ist, werde noch gerechter; wer heilig ist, werde noch heiliger" (Offenb. 22, 11). Die neue, in die Seele gepflanzte Liebe ist wie eine übernatürliche Seinsform, welche immer neue Kräfte und Energien aus der Seele lockt, alles religiös-sittliche Weben und Streben des Menschen ergreift und durchherrscht, und die dadurch selbst an Tiefe und Kraft fort und fort zunimmt.
Das meinen die Theologen, wenn sie von der Vermehrung der heiligmachenden Gnade reden. Und alles, was der Mensch aus dieser neuen Liebe heraus wirkt, ist eben deshalb nichts Profanes, Natürliches, rein Menschliches mehr, sondern hat übernatürlichen Gehalt. Es hat, weil vom Hauch der Liebe Christi durchlebt, Heilswert, es ist verdienstlich. Das ist eine weitere Folgerung des katholischen Rechtfertigungsbegriffs. Weil die Rechtfertigung gottgeschenkte Heiligung, Eingießung der Liebe ist, weil also die Liebe nicht von mir, sondern von Gott kommt, ist alles, was aus ihr hervorgetrieben wird, göttlicher Art, geprägt mit dem Zeichen Christi. Es ist verdienstlich. Der Katholik lehnt es mit dem hl. Paulus entschieden ab, daß der Mensch mit natürlichen Kräften auch nur das Geringste zum ewigen Heil verdienen könne. Es gibt kein Naturverdienst; aber es gibt ein Gnadenverdienst. Gerade darin bewährt sich die wahrhaft schöpferische Segensmacht der Rechtfertigung, daß sie unsere natürlichen religiös-sittlichen Kräfte mit der neuen, gottgeborenen Liebe durchtränkt, auf daß wir gleich der Rebe am Weinstock (vgl. Jo.15, 8) für das ewige Leben Frucht bringen. Das ewige Leben wird so, wie St. Paulus sich ausdrückt, zugleich zum Lohn und zur Vergeltung. Aber indem ich Lohn und Vergeltung sage, sage ich damit zugleich Gnade und Kraft Christi. Denn sie allein ist es, welche meinem Wirken einen Wert vor Gott zueignet. Christi Gnade, nicht meine Kraft erfüllt und belohnt sich in meinem Wirken. Darum hat selbstgefälliger Hochmut keinen Raum. Wo Gnade Christi ist, da ist Demut des Christen. "Wenn ihr alles getan habt, so sagt, ihr seid unnütze Knechte." Das Gnadenverdienst schließt also die Demut nicht aus, sondern ein.
Das wird durch eine weitere Beobachtung noch deutlicher: Aus der Bestimmung der Rechtfertigung als "Eingießung der Liebe" folgt weiterhin, daß die neue Liebe auch wieder verloren werden kann, daß also auch für den Gerechtfertigten das Apostelwort zu Recht besteht: "Wirkt euer Heil mit Furcht und Zittern." Der Gerechtfertigte hat zwar eine unbedingte Glaubensgewißheit, aber keine unbedingte Heilsgewißheit, d. h. er weiß nicht mit unbedingter Sicherheit, ob er dauernd der Liebe oder des Hasses würdig ist. Wohl kann er aus gewissen Kennzeichen auf Grund ernster Selbstbeobachtung mit einiger Sicherheit erfahren, ob er augenblicklich vom neuen Geist der Liebe getrieben wird, ob er also ein Kind der Gnade, ein Kind Gottes ist. Aber er hat ohne besondere göttliche Offenbarung keine unbedingte Sicherheit dafür, daß er augenblicklich in der Gnade stehe. Noch weniger besitzt er eine unbedingte Gewähr, daß er nicht in der Zukunft durch Mißbrauch der Freiheit, durch eigene Schuld die Liebe Gottes einbüßen werde. So bleibt sein Frömmigkeitsleben, so hochgestimmt und wagemutig es ist, doch vor allem geistigen Hochmut und vor vermessenem Vertrauen bewahrt. Aus seinem Grund blüht die Demut auf, das lebendige Bewußtsein, ganz in Gottes Hand zu stehen und jederzeit mit dem Zöllner beten und stammeln zu müssen: "Herr, sei mir armem Sünder gnädig!" Man klagt die Kirche an, daß sie durch diese ihre Lehre von der Ungewißheit des Heils die katholischen Gewissen beunruhige, und daß sie die Gewissensangst zu einer eingewurzelten Krankheit im Katholizismus gemacht habe. Dieser Vorwurf leidet an starker Übertreibung. Gewiß, es gibt, zumal in der menschlichen Reifezeit, krankhafte Zustände, die sich mit Vorliebe aus religiösen Vorstellungen nähren. Sie treten besonders stark auf, wenn der Religionsunterricht versagt oder ungeschickte Seelenführer im Spiele sind.
Aber solche verängstigte Gemüter hat auch der Protestantismus. Klagt doch Goethe selbst über seine religiösen Jugendskrupel. Diese Gemüter sind in den meisten Fällen nicht verängstigt, weil sie diese und jene Glaubenswahrheit erschüttert, sondern sie lassen sich davon erschüttern, weil sie verängstigt sind. Es liegt hier ein leib-seelischer Schwächezustand vor, den die religiösen Vorstellungen nicht erst schaffen, sondern nur zur Auslösung bringen. Er äußert sich zumal in Mangel an Lebensmut, Lebenszuversicht einerseits und in einer übertriebenen Ichbezogenheit anderseits. In leichteren Fällen wird der Seelenarzt helfen können, in schwereren nur der Psychiater. Die katholische Seelsorge betont mit demselben Nachdruck, mit dem sie vor vermessenem Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit warnt, den unermeßlichen Reichtum der Güte Gottes - "denn Er ist gütig" (quia benignus est). Es liegt nicht an der Kirche, sondern am Kranken, wenn er nur das eine hört und nicht auch das andere.
Fassen wir zusammen: Die Besonderheit der katholischen Rechtfertigungslehre liegt in der scharfen, folgestrengen Betonung des Gnadentums, der Ungeschuldetheit des neuen Lebens und der neuen Liebe einerseits und in der entschiedenen Heranholung der religiös-sittlichen Kräfte des Menschen zum Gnadenwerk anderseits. Die Ungeschuldetheit der Rechtfertigung tritt im Sakramentarismus der Kirche zutage. Das entscheidende Wort der Begnadigung spricht nicht der Mensch, sondern Gott im sichtbaren Gnadenzeichen des Sakraments. Anderseits ist die Gnade eine schöpferisch aufreißende Macht, welche die gesamten religiös-sittlichen Kräfte des Menschen für das Heilswerk entbindet. So tritt zum göttlichen sakramentalen Faktor der menschlich-sittliche, die eigene von der Gnade ausgelöste und durchherrschte Tat. Gott und Mensch einen sich im Heilswerk, Gnade und Natur, Sakrament und Ethos. Auch in der Rechtfertigung wiederholt sich somit das Grundgeheimnis des Christentums: die Herablassung Gottes zum Menschen und die Erhebung des Menschen zu Gott. Das Heilswirken des Gerechtfertigten ist weder ein rein göttliches noch ein rein menschliches, sondern ein göttliches und menschliches Tun zugleich.
Von da aus wird verständlich, inwiefern sich die Seelsorge der Kirche scheinbar in zwei verschiedenen Linien bewegt, in der sakramental-mystischen einerseits und in der sittlich-aszetischen anderseits. Diese beiden Linien verlaufen in Wirklichkeit nicht nebeneinander oder gar gegeneinander, sondern ineinander. Sie verschlingen sich gegenseitig. Es gibt kein Heiligkeitsleben in der Kirche, das nicht sakramental wäre, und es gibt keinen Sakramentsempfang in der Kirche, der sich nicht in Heiligkeitsstreben umsetzte. Das will beachtet sein, wenn wir im folgenden die heiligenden Kräfte und Mittel der heiligen Kirche kennzeichnen. Sie liegen entsprechend dem katholischen Rechtfertigungsbegriff einesteils auf dem religiös-sakramentalen Gebiet, andernteils im Bereich des Ethischen und Aszetischen. Zunächst sei von der sakramentalen Wirksamkeit der Kirche die Rede.
Wir legten schon früher dar, wie die sieben Sakramente der Kirche das ganze menschliche Leben umspannen, und wie sie alle seine Höhen und Tiefen heiligen: Die gottfrohe Seele in der Firmung und Eucharistie, die sündengedrückte Seele in der Taufe und Beichte, die leidenbeschwerte, vom Todesschauer durchrüttelte Seele in der heiligen Ölung. Und auch das Gemeinschaftslchen wird vom sakramentalen Segen berührt: Die soziale Gemeinschaft durch das Sakrament der Ehe, die religiöse Gemeinschaft durch das Sakrament der Priesterweihe. Was dem katholischen Sakramentskult seine religiös-sittliche Bedeutsamkeit gibt, das ist vor allem der Glaube an den Wirklichkeitsgehalt des Sakraments. Für den Katholiken verflüchtigt sich das Sakrament nicht zu leerem Gleichnis oder zu einem Gnadenzeichen, das erst vom subjektiven Glauben her seine Wirksamkeit empfängt. Als Werkzeug der Erlösermacht Jesu, als Sein Gnadenzeichen sichert es vielmehr die Gegenwart des Heiligen schon durch sich selbst, durch seinen objektiven Vollzug. Das ist ein Hauptsatz der katholischen Sakramentslehre: "Nicht dadurch kommt ein Sakrament zustande. daß man daran glaubt, sondern dadurch, daß man es vollzieht."
Durch die Sakramente gewinnt so Gottes Gnadenwirken greifbare Wirklichkeit, es wird ein anschaulicher Gegenwartswert. Der Katholik ist im Sakramentsempfang der Gegenwart der göttlichen Liebe so gewiß wie das Kind der Liebe seiner Mutter. Im Meßopfer wird an das Kreuzopfer Christi nicht bloß in sinnbildlicher Form erinnert. Das Opfer von Golgotha tritt vielmehr nach seinem überzeitlichen Wirklichkeitsgehalt in die unmittelbare Gegenwart. Raum und Zeit sind dahin. Derselbe Jesus ist hier, der am Kreuze starb. Die ganze Gemeinde vereinigt sich mit Seinem heiligen Opferwillen und weiht sich durch den gegenwärtigen Jesus dem himmlischen Vater als lebendiges Opfer. So ist die heilige Messe ein erschütterndes Wirklichkeitserlebnis, das Erlebnis der Wirklichkeit von Golgotha. Und ein Strom von Reue und Buße, von Liebe und Andacht, von Opfergeist und Heldenmut geht vom Altar aus durch die betende Gemeinde. Das sind nicht bloße Worte. Tausende von Katholiken holen sich täglich aus dieser sakramentalen Vergegenwärtigung des Kreuzopfers Jesu die Kraft und die Freude zu den kleinen und großen Opfern des Alltags. Hier im Schatten des Altars sind die katholischen Heiligengestalten gewachsen. diese Heroen der Hingabe für Christus und Seine Brüder.
In seiner Praktischen Theologie ("Praktische Theologie", 1919, S. 41) macht der Professor der evangelischen Theologie Friedrich Niebergall auf diesen Hochwert der heiligen Messe aufmerksam: "Wir können von der römischen Messe als einer geistigen Großmacht des religiösen Lebens nicht hoch genug denken." Heiler ("Das Wesen des Katholizismus", 1920, S. 105) beklagt es lebhaft, daß die Reformatoren durch die Erneuerung des Gemeindegottesdienstes "nicht jenes innige und warme Gebetsleben zu entzünden vermochten, das durch die katholische Meßliturgie erregt wird". "Ich habe das Gebetsleben in beiden Kirchen lange, sorgsam und in voller Unbefangenheit beobachtet. Aber ich habe immer wieder den Eindruck bekommen, daß - von engen Sekten und Gemeinschaftskreisen abgesehen - im katholischen Gottesdienst mehr und inniger gebetet wird als im evangelischen. Wenn ich darüber nachdenke, so kommt mir immer wieder ein eigenartiges Wort Wellhausens in den Sinn, der evangelische Gottesdienst sei im Grund der katholische, nur daß ihm das Herz ausgeschnitten sei." Dieses Herz, das Wellhausen und Heiler meinen, ist das katholische Wirklichkeitserlebnis im Mysterium, die Gewißheit, daß hier der Gnadensegen Christi wirklich und wahrhaft in die raum-zeitliche Welt hereintritt und die Seele berührt. Die Urgewalt dieses Wirklichkeitserlebnisses, seine reinigende, heiligende, tröstende, beglückende Macht, tritt neben der heiligen Messe zumal im Empfang der Eucharistie und in der Beichte zutage. Der gläubige Katholik vertraut nicht bloß darauf, daß Jesus zu ihm kommen werde. Er weiß: Jesus ist da, so wirklich und wahrhaft wie einst im Abendmahlssaal oder am See Genezareth. Dieses Bewußtsein Seiner Gegenwart löst in ihm die ganze Stufenfolge religiöser Empfindungen aus, vom "0 Herr, ich bin nicht würdig" bis zu dem innig seligen "Jesu, mein süß Gedenken" (Jesu dulcis memoria). Die Kommunion ist lebendiger Umgang mit dem gegenwärtigen Jesus und darum der Jungbrunnen der Nachfolge Jesu. Sie ist, wie Heiler ("Das Wesen des Katholizismus", 1920, S. 110) mit Recht hervorhebt, "der Höhepunkt der katholischen Frömmigkeit. In ihr erlangt das katholische Gebetsleben jene Tiefe, Wärme und Kraft, welche nur der kennt, der sie selbst erlebt hat." Und weil Jesus nicht bloß im Augenblick des Genusses, sondern so lange gegenwärtig ist, als die Gestalten, die sichtbaren Anschauungsmittel Seiner Gegenwart, fortdauern, entzündet sich das religiös-sittliche Leben des Katholiken auch außerhalb der eigentlichen Liturgie in jeder Kirche, in der das Allerheiligste aufbewahrt ist. Nicht der freundliche Schimmer des ewigen Lichtes, das vor dem Altar brennt, nicht der Ernst der Heiligenbilder an den Kirchenwänden, nicht das weihevolle Halbdunkel des Raumes und sein majestätisches Schweigen ist es, was den Zauber der Gottinnigkeit und Andacht über das katholische Gotteshaus ausstrahlt. All das mag die Andacht schützen und fördern. Was sie aber entzündet, das ist der lebendige Glaube an die Gegenwart Jesu. Hier vor dem Tabernakel feiert die katholische Seele ihre Weihestunden, hier nimmt sie das Leben in seinem tiefsten, gotterfüllten Kern, hier schweigt alle Zeit, hier redet die Ewigkeit.
Nicht besser könnte Heilers Satz vom synkretistischen, mit Fremdstoffen überladenen Wesen des Katholizismus widerlegt werden als durch das, was er vormals selbst ("Das Wesen des Katholizismus", 1920, S. 1105) über diese eucharistischen Andachten im katholischen Gotteshaus zu sagen wußte: "Wer in den katholischen Kirchen diese betenden Menschen in ihrer kontemplativen Versunkenheit beobachtet, der muß anerkennen, daß in dieser Kirche wirklich Gottes Geist lebt ... und wer in den evangelischen Kirchen nach einer Parallele zu diesem Leben sucht, der muß zu seinem Schmerz erkennen, daß diese nichts Ähnliches aufzuweisen haben."
Wie in der Messe und Eucharistie so bewährt die katholische Sakramentsidee, die Idee von der sakramental dargebotenen Wirklichkeit der göttlichen Gnade, ihre ethisch erneuernde Kraft nicht zuletzt in der Beichte. Gerade das Bewußtsein, daß der Priester nicht in eigener Vollmacht, sondern an Gottes Statt die Beichte entgegennimmt, daß all das, was er im Namen Jesu auf Erden bindet und löst, auch im Himmel gebunden und gelöst wird, gibt der Beichte ihren tiefen Ernst, ihre unbedingte Wahrhaftigkeit und ihre stählende Kraft. In jeder guten Beichte feiert das sittliche Verantwortungsgefühl, der Wille zum Reinen und Guten, die Sehnsucht nach Gott und nach dem Frieden des Herzens die heiligsten Triumphe. Die Beichte ist der Quell eines neuen Lebensmutes, einer neuen Lebenszuversicht und der Anbeginn einer neuen Lebensführung für Millionen und Milliarden geworden. Kein Geringerer als der Altmeister Goethe preist den tiefen Sinn der katholischen Beichte und beklagt es, daß es ihm in seiner Jugend verwehrt gewesen sei, die seltsamen religiösen Zweifel, die.er hatte, durch eine Beichte zu berichtigen (Dichtung und Wahrheit, II. Teil. 7. Buch). In seinen Reden und Aufsätzen scheut sich Harnack (Reden und Aufsätze", S. 249) nicht, es als eine "sträfliche Torheit" zu bezeichnen, daß der Protestantismus "der wurmstichigen Früchte wegen den ganzen Baum der Beichte ausgerottet habe". Freilich, der "Baum" allein tut es nicht, wenn es kein lebendiger Baum ist. Und dieses Leben hat er vom katholischen Dogma, daß im Sakrament der Beichte das Vergebungswort Jesu nicht bloß Sehnsucht, sondern trostvolle Wirklichkeit ist.
Aber es ist nicht nur der Realismus des Sakramentsbegriffs, welcher der katholischen Sakramentsmystik ihre Fruchtbarkeit verleiht. Die Kirche weiß ebenso wirksam wie mit feinem, psychologischem Verständnis die Sakramente an ihre Gläubigen heranzubringen. Sie tut das teils durch die positive Forderung, daß jeder, der zu ihrer Gemeinschaft zählen will, alle Sonn- und Feiertage dem Meßopfer beiwohne und sich hier den Geist der Liebe und des Opfers für die kommende Arbeitswoche hole; daß weiterhin jeder zum sittlichen Bewußtsein erwachte Gläubige wenigstens einmal im Jahr durch eine gültige Beichte sein sittliches Leben erneuere und an Ostern den Leib des Herrn empfange. Durch diese positiven Bestimmungen sichert sie allen Gläubigen wenigstens ein Mindestmaß religiös-sittlichen, übernatürlichen Lebens.
Aber noch wirksamer und durchgreifender als durch diese positiven Gesetze fördert die Kirche die sakramentale Frömmigkeit durch die weise Einbettung des Sakramentsempfangs in den Rhythmus der Zeit, des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens und seiner Ordnungen. Goethe sagt einmal (a. a. 0.): "In sittlichen und religiösen Dingen … mag der Mensch nicht gern etwas aus dem Stegreif tun." Die Kirehe weiß das, und darum wartet sie nicht, bis der Mensch durch eigenen Entschluß zum Mysterium kommt, sondern sie stellt! das Mysterium mitten in die Bewegungen des Lebens hinein, so daß der Mensch in diesen Bewegungen auch das Mysterium verspüren und beachten muß. Darin liegt der Sinn des Kirchenjahres. Die ganze Erlösungsgeschichte, von der Adventshoffnung der Patriarchen und Propheten über die Krippe bis zum Kreuz und darüber hinaus bis zum Alleluja der Osterwoche und dem Brausen des Pfingsttages, ist in den Ablauf des natürlichen Jahres verwoben. Mit den Monaten, Wochen und Tagen wechselt auch die Verkündigung der Kirche und ihre Liturgie. Sie enthüllt immer neue Tiefen des göttlichen Geheimnisses, immer neue Weisen der Liebe und Gnade Christi.
So wird der Gläubige immer wieder aus dem Alltag aufgerufen und mit immer neuen Eindrücken, Einsichten und Kräften befruchtet. Es wird ein lebendiges, fortgesetztes Fühlungnehmen, Fühlunghalten mit der Kirche ermöglicht. Zumal die kirchlichen Festtage sind Volksfeste im edelsten Sinn des Wortes, ein fröhliches Danken und Feiern vor dem Allerheiligsten. Aber auch die übrige Zeit ist in den Dienst des kirchlichen Lebens und seiner Mysterien gestellt - vom Angelusläuten am Morgen bis zum Aveläuten am Abend. Kein Tag, der nicht den Namen eines Heiligen trüge. Kein Wochentag, der nicht besonderen Andachten geweiht wäre: Der Donnerstag gilt der Verehrung des Altarssakraments, der Freitag dem Gedächtnis des Leidens Christi, der Samstag der Verehrung der reinsten Jungfrau. Und jeder einzelne Monat hinwieder hat eine besondere religiöse Prägung: Der Mai ist der Marienmonat, der Juni der Herz-Jesu-Monat, der Juli der Monat des kostbaren Blutes, der Oktober der Rosenkranzmonat, der November der Armeseelenmonat. Und wie die Zeit im allgemeinen so ist auch das persönliche Leben in seinem inneren Rhythmus von der Sakramentsmystik erfaßt und durchdrungen.
Jeder gläubige Katholik hat seine bestimmten Festzeiten, an denen er dem Tisch des Herrn naht. Und nichts Fröhliches und nichts Düsteres tritt in sein Leben, das ihn nicht zum Altar führte, von der Hochzeitsmesse an bis zur Totenmesse. Für alle seine persönlichen Anliegen, Hoffnungen und Sorgen bestehen Triduen und Novenen vor dem Allerheiligsten. Und um auch den Rhythmus des gesellschaftlichen Lebens mit Gleichgesinnten religiös-sakramental auszuwirken, gibt es zahllose kirchlich approbierte Bruderschaften und Vereine, Bruderschaftsaltäre, Bruderschaftsfahnen, Bruderschaftsfeste, in denen das religiöse Bedürfnis nach einem besonderen intimen und gehobenen gemeinschaftlichen Ausdruck ringt. Insofern kann man sagen (E. Krebs: "Die Protestanten und wir", S. 64): Der Katholizismus ist die Religion der gehobenen Momente. Aus der unendlichen Fülle seines Reichtums hebt er mit der wechselnden Stunde immer neue Kleinodien und Werte ans Licht, die den Gläubigen immer wieder aufs neue anregen und bereichern und sein Interesse nicht stille stehen lassen. Niebergall (Bei H. Rost a.a.O., S. 164) nennt deshalb die Kirche "die Freudenmeisterin ihrer Kinder". Eine unschuldige Fröhlichkeit, eine klassische Heiterkeit liegt über dem kirchlichen Leben und Weben, eine fromme Fröhlichkeit. Der Quell all dieser frommen Fröhlichkeit ist der Tabernakel, der Glaube an die segensvolle Gegenwart der ewigen Liebe im Gotteshaus. Aus dieser frommen Fröhlichkeit ist die ganze kirchliche Kunst erwachsen. "Die Gotik ist nur da heimisch, wo das Meßglöcklein tönt", schrieb einmal der protestantische Dekan Lechler (K. Lechler: "Die Konfessionen in ihrem Verhältnis zu Christus" 1877, S. 161) Und er fügt mit Recht hinzu: "Ohne den katholischen Gottesdienst hätten weder Raffael noch Fra Angelico, weder Hubert van Eyck noch der jüngere Holbein, noch auch Lorenzo Ghiberti, Veit Stoß und Peter Vischer die Wunderwerke ihres Pinsels und Meißels zutage gefördert und die Gemeinde Gottes auf Erden mit einem Reichtum von heiliger Schönheit ausgestattet, die ein Kleinod aller Zeiten bleiben wird." Ich weiß nicht, ob dieser innige Zusammenhang von Eucharistie und christlicher Kunst, von Tabernakel und Dom allseitig erkannt ist. Die katholischen Gotteshäuser alter und neuer Zeit samt ihrer köstlichen Feinheit sind eucharistische Schöpfungen. Sie sind aus dem lebendigen Glauben an die Gegenwart Jesu im Sakrament erstanden. Und wo dieser Glaube nicht mehr ist, da verlieren sie ihren tiefsten Sinn, ihre schöpferisch belebende Idee. Sie sind ein schöner, aber toter Leib, ein Leib ohne Seele.
Noch viel wäre davon zu reden, wie die sakramentale Seelsorge der Kirche nicht bloß die Zeit, sondern auch den Raum erfüllt, vom konsekrierten Altarstein an bis hinauf zu den geweihten Kirchenglocken. Wie sie in der Bittwoche die Fluren segnet, und wie sie am Fronleichnamstag das Allerheiligste durch den Frühling trägt. Die ganze Natur, die Blumen des Feldes, das Wachs der Biene und die Weizenähre, das Salz und der Weihrauch, Gold, Edelstein und schlichtes Linnen - nichts ist, was sie nicht in den Dienst des Heiligen zöge und mit tausend Zungen vom Heiligen reden ließe. Die ganze Natur wird unter ihren Händen ein "Aufwärts die Herzen", ein "Lobpreiset den Herrn". "Uberall läßt sie das Heilige schauen und spüren und erfüllt die ganze Umwelt ihrer Angehörigen mit seinem Zauber und Glanz" (Niebergall). Und wo die Kirche nicht ist, da sind ihre Kinder. Da richten sie mit ungelenken, schüchternen Händen, aber leuchtenden Auges auf dem Feldrain und Bergsteig ihre heiligen Bilder und Kreuze auf und tragen den Schimmer und die Weihe des Göttlichen bis hinauf zum ragenden Ferner und bis hinunter zum schäumenden Gießbach. Katholisches Volk, katholisches Land - das ist das Land, wo die Bilder der Madonna am Wegrand stehen, wo die Aveglocken läuten, und wo die Menschen noch grüßen: Gelobt sei Jesus Christus!
In kurzen Strichen haben wir versucht, den sakramental-mystischen Aufgabenbereich der Kirche in der Herstellung des homo sanctus, des Heiligen, zu würdigen. Wir sahen: Ebenso umfassend wie durchgreifend., ebenso wirklichkeitsnah und eindringlich wie psychologisch feinfühlig weiß sie Gottes Gnadenhilfe zum Menschen heranzubringen und mitten im Staub des Alltags das Allerheiligste mit tausend Lichtern sichtbar zu machen. Doch das ist nur die eine Seite des christlichen Heilswerks. Im nächsten Vortrag werden wir darzulegen haben, inwiefern die Kirche entsprechend dem katholischen Rechtfertigungsbegriff auch der anderen Seite ihrer Aufgabe gerecht wird, d. h. inwiefern - nicht bloß das Reich Gottes zum Menschen, sondern auch den Menschen zum Reich Gottes heranholt. |