DIE PASTORAL-REGELN DES HL. PAPSTES GREGOR D.GR.
(übers, v. Benedikt Sauter O.S.B., Freiburg / Brsg. 1904)
8. DER SEELSORGER SOLL SICH NICHT
DARUM BEMÜHEN, DEN MENSCHEN ZU GEFALLEN, ABER DOCH SICH SO VERHALTEN,
DASS MAN AN IHM GEFALLEN FINDEN KÖNNE.
Der Seelsorger muß sorgfältig darüber wachen, daß ihn nicht die
Begierde, den Menschen zu gefallen, stachle; daß er nicht bei der
eifrigen Pflege des inneren Lebens und der sorgfältigen Verwaltung der
äußeren Angelegenheiten mehr die Liebe seiner Untergebenen als die
Wahrheit suche, damit nicht die Eigenliebe ihn dem Schöpfer entfremde,
während er durch seine guten Werke der Welt entfremdet zu sein scheint.
Ein Feind des Erlösers ist ja, wer an Christi Stelle um der eigenen
guten Werke willen von der Gemeinde geliebt zu werden verlangt; denn
auch der Diener, durch welchen der Bräutigam seine Geschenke
überschickt, macht sich eines ehebrecherischen Gedankens schuldig, wenn
er den Augen der Braut zu gefallen strebt. Wenn diese Eigenliebe das
Herz des Seelsorgers einnimmt, so treibt sie ihn bisweilen zu
ungeordneter Nachsicht, bisweilen zu ungeordneter Strenge. Zur Schwäche
verleitet die Eigenliebe das Herz des Seelsorgers, wenn er die
Untergebenen sündigen sieht und sie nicht zu tadeln wagt, damit deren
Liebe zu ihm nicht erkalte; ja manchmal hätschelt er noch mit
Schmeicheleien die Fehler der Untergebenen, gegen die er seine Vorwürfe
richten sollte.
Mit Recht heißt es daher beim Propheten: "Wehe denen, die Pölsterchen
machen unter jeden Ellbogen und Kissen unter das Haupt der Menschen
jeglichen Alters, um Seelen zu fangen" (Ez 13,18). Pölsterchen unter
jeden Ellenbogen legen heißt, die vom geraden Weg abweichenden und zur
Weltliebe hinneigenden Seelen mit schmeichelndem Tröste beruhigen. Denn
gleichsam auf ein Pölsterchen stützt sich der Ellenbogen, oder auf ein
Bettkissen das Haupt, wenn dem Sünder die strenge Zurechtweisung
erspart und ihm parteiische Nachsicht zuteil wird; denn so bleibt er
ruhig in seiner Sünde liegen, da keine strenge Zurechtweisung ihn
aufstachelt.
Aber so machen es die von der Eigenliebe gefangenen Seelsorger ohne
Zweifel nur bei denen, von welchen sie eine Beeinträchtigung in ihrem
Bestreben nach irdischer Ehre zu fürchten hätten. Diejenigen dagegen,
welche sie als machtlos gegen sich erkennen, quälen sie unausgesetzt
mit harten und strengen Vorwürfen, ermahnen sie niemals mit Güte,
sondern schrecken sie, der Hirtensanftmut vergessend, auf Grund der
Gewalt. Solche tadelt Gottes Stimme durch den Propheten: "Mit Strenge
und Gewalt herrscht ihr über sie" (Ez 34,4). Denn da sie sich selbst
mehr als ihren Schöpfer lieben, erheben sie sich prahlerisch über ihre
Untergebenen und sehen nicht darauf, was sie ihrer Pflicht gemäß tun
sollten, sondern was sie vermöge ihrer Macht tun können; sie fürchten
sich nicht vor dem zukünftigen Gerichte und rühmen sich frevelhaft
ihrer zeitlichen Gewalt; es freut sie, daß sie auch Unerlaubtes tun
können, ohne daß ihnen jemand aus ihren Untergebenen Widerstand
leistet. Wer also Unrechtes zu tun strebt und doch verlangt, daß andere
dazu schweigen, der ist sich sein eigener Zeuge, daß er mehr geliebt
sein will als die Wahrheit selbst, welche er gegen sich nicht in Schutz
nehmen läßt. Niemand führt ja ein solches Leben, daß es dabei ohne alle
Fehler abgeht. Wer also wünscht, daß man die Wahrheit mehr als ihn
liebe, verlangt nicht, daß irgend jemand im Widerspruche mit der
Wahrheit seiner schone. Deshalb nahm Petrus den Tadel des Paulus
bereitwilligst an (Gal 2,11); auch David hörte demütig auf die
Zurechtweisung eines Untergebenen (2 Kn 12,7).
So halten gute Seelsorger, welche die falsche Eigenliebe nicht kennen,
gerade ein Wort freimütiger Aufrichtigkeit von seiten ihrer
Untergebenen für demutsvolle Ergebenheit.
Dabei muß aber die Seelsorge mit solcher Klugheit geübt werden, daß die
Untergebenen ihre Meinung, falls sie das Richtige zu erkennen imstande
waren, zwar frei aussprechen können, daß äaer ihre Freimütigkeit nicht
in Hochmut ausarte; denn würde ihnen zu große Freiheit im Reden
eingeräumt, so würden sie ihres Lebens Demut verlieren. Auch ist zu
bemerken, daß gute Seelsorger allerdings darauf achten müssen, den
Menschen zu gefallen, aber nur, um durch ihre gewinnende
Anziehungskraft die Mitmenschen zur Liebe der Wahrheit anzulocken -
nicht aus Verlangen, selbst geliebt zu werden, sondern um die gegen sie
gehegte Liebe gleichsam als Weg zu benützen, auf welchem sie die Herzen
ihrer Gläubigen zur Liebe des Schöpfers führen. Denn ein Prediger, der
nicht beliebt ist, wird schwerlich gerne gehört, auch wenn er die
Wahrheit verkündet. Der Vorsteher muß daher allerdings wünschen,
geliebt zu werden, auf daß sein Wort Eingang finde; aber er darf diese
Liebe nicht für sich selbst suchen, damit er nicht durch geheime
Nachgiebigkeit in seinen Gedanken sich als Rebell gegen DEN erweise,
als dessen Diener er von Amtswegen erscheint. Dies gibt Paulus deutlich
zu verstehen, da er uns sein geheimes Streben mit den Worten enthüllt:
"Gleichwie auch ich allen in allem zu Gefallen bin" (1 Kor lo,33).
Dessen ungeachtet sagt er aber auch: "Wenn ich noch den Menschen
gefallen würde, so wäre ich kein Diener Christi" (Gal 1,lo). Paulus
also ist zu Gefallen und ist es nicht; denn wenn er zu gefallen sucht,
so verlangt er nicht, selbst zu gefallen, sondern daß um seinetwillen
die Wahrheit den Menschen gefalle.
9. DER SEELSORGER MUSS WOHL WISSEN, DASS DIE LASTER SICH GEMEINIGLICH FÜR TUGENDEN AUSGEBEN.
Der Seelsorger muß wohl beachten, daß die meisten Laster sich für
Tugenden ausgeben. So verbirgt sich oft der Geiz unter dem Namen der
Sparsamkeit; die Verschwendung dagegen verhüllt sich unter dem Namen
der Freigebigkeit. Oft wird ungeordnete Nachsicht für Milde gehalten,
und leidenschaftlicher Zorn gilt als Tugend geistlichen Eifers. Oft
erachtet man übereiltes Handeln für ein Zeichen gewandter Tüchtigkeit
und ein langsames Wesen für ernste Überlegung. Daher muß der
Seelenführer Tugenden und Laster sorgfältig unterscheiden, damit sein
Herz nicht vom Geize eingenommen werde, während er zur sparsamen
Haushaltung sich Glück wünscht - oder, während er etwas vergeudet,
seiner barmherzigen Freigebigkeit sich rühme - oder durch Nachsicht, wo
er strafen sollte, die Untergebenen der ewigen Strafe überliefere -
oder durch schonungsloses Bestrafen der Fehler selbst noch schwerer
sich vergehe - oder durch Voreiligkeit eine Sache überstürze, die mit
Genauigkeit und Ernst geschehen sollte; oder durch Hinausschieben das
Verdienst eines guten Werkes schmälere.
10. WIE DES SEELSORGERS KLUGHEIT IN
BEZUG AUF ZURECHTWEISUNG UND STILLSCHWEIGENDES ÜBERSEHEN, WIE SEIN
EIFER UND SEINE SANFTMUT SICH ZEIGEN SOLLEN.
Auch dies ist zu bemerken, daß man bisweilen die Fehler der
Untergebenen in kluger Weise übersehen, dabei aber zeigen muß, daß man
sie übersehe. Bisweilen muß man auch die Fehler, welche klar vor Augen
liegen, mit reiflicher Erwägung ertragen, bisweilen aber die
verborgenen eingehend ausforschen; bisweilen muß man sie sanft rügen,
bisweilen aber ernstlich tadeln.
Einige Fehler also, wie gesagt, muß man in kluger Weise übersehen,
dabei aber zeigen, daß man sie übersehe, damit der Fehlende erkennt,
daß man sie bemerke und ungerügt lasse, und damit er sich scheue,
dieselben noch zu vergrößern, wohl wissend, daß man sie an ihm
stillschweigend ertrage, und damit er sich nach eigenem Urteil strafe,
da ihn der Vorgesetzte in wohlwollender Geduld bei sich selbst
entschuldigt. Dieses Übersehen stellt der Herr dem Judenlande vor, da
er durch den Propheten spricht: "Du lügst und gedenkest nicht mein,
noch nimmst du es dir zu Herzen, daß ich schwieg und tat, als ob ich es
nicht sehe" (Is 57,11). Er übersah also die Vergehen, und doch zeigte
er sie an; denn er schwieg gegenüber dem sündigen Lande und ließ ihm
doch kundtun, daß er geschwiegen habe.
Bisweilen aber muß man auch solche Fehler, die klar vor Augen liegen,
wohl erwogen ertragen, wenn nämlich die Umstände eine offene
Zurechtweisung nicht zulassen. Unzeitig aufgeschnittene Wunden
entzünden sich ja noch gefährlicher; und wenn die Arzneimittel nicht
zur rechten Zeit angewendet werden, verlieren sie ohne Zweifel ihre
Heilkraft. Während so der Vorgesetzte die rechte Zeit für die
Zurechtweisung seiner Untergebenen abwartet, wird er sich selbst unter
der Last der Fehler seiner Untergebenen in der Geduld geübt. Mit Recht
heißt es daher beim Psalmisten: " Auf meinem Rücken schmiedeten die
Sünder" (Ps 128,3). Auf dem Rücken trägt man die Lasten. Der Psalmist
klagt also, daß auf seinem Rücken die Sünder schmieden, gleich als
wollte er sagen: Die ich nicht bessern kann, trage ich wie eine
auferlegte Last.
Geheime Fehler aber muß der Seelsorger bisweilen eingehend ausforschen,
um aus dem Hervortreten gewisser Anzeichen die verborgenen Geheimnisse
im Herzen seiner Untergebenen ausfindig zu machen, und mit Hilfe der
Zurechtweisung vom Kleineren auf das Größere zu kommen. Bedeutsam wird
deshalb zu Ezechiel gesagt: "Menschensohn, grabe in die Wand" (8,8).
Gleich darauf fügt der Prophet hinzu: "Und als ich in die Mauer
gegraben hatte, erschien eine Tür. Und Er sprach zu mir: Geh hinein und
schaue die überbösen Greuel, welche sie hier tun. Und ich ging hinein
und schaute; und siehe, da waren allerlei Gebilde von Gewürm und andern
Tieren, und alle Götzengreuel des Hauses Israel waren da abgemalt an
der Wand" (Ez 8,9-lo). Ezechiel bedeutet hier die Person
derVorgesetzten; die Wand aber bezeichnet die Herzenshärtigkeit der
Untergebenen; das Graben in die Mauer besagt nichts anderes, als daß
man durch genaue Nachforschung die Herzenshärtigkeit durchbrechen
müsse. Als er in die Mauer gegraben hatte, erschien eine Tür; denn wenn
die Herzenshärtigkeit entweder durch sorgfältiges Nachforschen oder
durch ernste Rügen gebrochen ist, zeigt sich gleichsam eine Tür, durch
welche man die ganze innere Gedankenwelt des Tadelnswerten sehen kann.
Darum heißt es an jener Stelle mit Recht weiter: "Geh hinein und sieh'
die überbösen Greuel, die sie hier tun." So geht gleichsam der
Vorgesetzte hinein, um Greuel zu schauen, indem sein Auge, nachdem er
gewisse äußerlich hervortretende Anzeichen erforscht hat, so tief in
das Herz der Untergebenen blickt, daß all ihre bösen Gedanken offen vor
ihm daliegen. Darum heißt es weiter: "Und ich trat hinein und schaute;
und sieh', da waren allerlei Gebilde von Gewürm und der Greuel von
anderen Tieren." Das Gewürm sind die ganz irdischen Gedanken; die
anderen Tiere bedeuten solche Gedanken, die sich zwar etwas über die
Erde erheben, bei denen man aber noch nach irdischen Lohn Verlangen
trägt. Denn das Gewürm kriecht mit dem ganzen Körper am Boden dahin,
während die anderen Tiere sich mit einem großen Teile ihres Körpers
über die Erde erheben, zu der sie sich aber immer des Futters wegen
hinabneigen.
Gewürm also ist innerhalb der Mauer, wenn sich in der Seele Gedanken
herumtreiben, die sich nie über irdische Gelüste erheben. Auch Tiere
befinden sich innerhalb der Mauer, wenn die sonst rechten und ehrbaren
Gedanken nur der Sucht nach irdischem Gewinn und nach Ehre dienstbar
sind. An sich sind solche Gedanken schon so zu sagen über die Erde
erhoben, aber gleichsam um des Futters willen neigen sie sich nach
unten. Nicht ohne Grund ist deshalb beigefügt: "Alle Götzengreuel des
Hauses Israel waren abgemalt an der Mauer." Es steht nämlich
geschrieben: "Der Geiz ist Götzendienst" (Kol 3,5). Mit Recht also
werden nach den Tieren die Götzenbilder angeführt; denn wenn auch
manche durch ein ehrbares Geschäft schon gleichsam sich über die Erde
erheben, so senken sie sich doch durch unordentliche Begier wieder zur
Erde nieder. Treffend heißt es auch, "daß sie abgemalt waren"; denn
wenn man die Formen äußerer Dinge in das Herz aufnimmt, so malt sich
gleichsam in demselben ab, was man mit Wissen und Willen sich
vorstellen pflegt. Auch ist zu bemerken, daß zuerst ein Loch in der
Mauer, dann die Türe sichtbar wird, und daß zuletzt erst der geheime
Greuel sich offenbart; denn zuerst zeigen sich bei jeder Sünde die
äußeren Zeichen, dann die durch die Tür angedeutete, offen daliegende
Versündigung, und dann erst wird das ganze, innerlich verborgene Übel
aufgedeckt.
Einiges hingegen muß man mit Sanftmut rügen; denn da nicht aus Bosheit,
sondern aus Unwissenheit und Schwäche gefehlt wird, so muß die Rüge des
Fehlers mit großer Mäßigung vorgenommen werden. Denn wir alle, so lange
wir uns im sterblichen Fleische befinden, unterliegen den Schwachheiten
unserer verderbten Natur. Von sich selbst also muß jeder abnehmen, wie
er mit der Schwachheit anderer Mitleid haben müsse, damit es nicht
aussehe, als habe er seiner selbst vergessen, wenn er gegen die
Schwachheit des Nächsten zu heftig mit Scheltworten loszieht. Treffend
ermahnt darum Paulus: "Wenn ein Mensch von irgend einer Sünde übereilt
worden wäre, so unterweiset einen solchen, ihr, die ihr geistlich seid,
im Geiste der Sanftmut; und hab' acht auf dich selbst, daß nicht auch
du versucht werdest" (Gal 6,1). Was der Apostel sagen will, ist
offenbar dies: "Wenn dir mißfällt, was du an der Schwachheit eines
anderen siehst, so erwäge, was du selbst bist; damit der Geist im Eifer
der Zurechtweisung sich mäßige, weil er auch für sich fürchtet, was er
andern vorhalten muß."
Manches aber muß man kräftig tadeln, damit der Schuldige aus den Tadel
worten erkenne, wie schwerwiegend die Schuld sei, die er nicht einsehen
will. Und wenn jemand das Böse, so er getan, gering anschlägt, so soll
er durch die Strenge der Zurechtweisung zu ernster Furcht darüber
angeregt werden. Pflicht des Seelsorgers ist es ja, die Herrlichkeit
des himmlischen Vaterlandes durch das Wort der Predigt zu zeigen - zu
enthüllen, wie große Versuchungen des alten Feindes auf dem Wege durch
dieses Leben verborgen sind - sowie auch die Sünden der Untergebenen,
die man nicht mit nachsichtiger Milde ertragen darf, mit großer,
eifernder Strenge zu rügen, damit er nicht, wenn er es an Eifer gegen
die Sünden fehlen läßt, selber aller Sünden der anderen sich schuldig
mache. Daher wird bedeutungsvoll zu Ezechiel gesagt: "Nimm dir einen
Ziegel und leg' ihn vor dich hin, und zeichne darauf die Stadt
Jerusalem" (Ez 4,1 ff). Und gleich darauf wird hinzugefügt: "Und ordne
eine Belagerung wider sie und bau' Bollwerke und einen Wall auf, und
laß ein Heer wider sie lagern, und stelle ringsum Böcke" (d.i.
Sturmwerkzeuge der Alten bei einer Belagerung). Hierauf wird dem
Propheten selbst gesagt, wie er sich befestigen soll: "Nimm dann eine
eiserne Pfanne, und stelle sie als eiserne Mauer zwischen dich und die
Stadt." Denn wessen Bild anders als das der Lehrer stellt der Prophet
Ezechiel dar, wenn ihm gesagt wird: "Nimm dir einen Ziegel, und leg'
ihn vor dich hin, und zeichne darauf die Stadt Jerusalem."
Die heiligen Lehrer nämlich nehmen sich einen Ziegel, wenn sie es
unternehmen, das irdisch gesinnte Herz ihrer Zuhörer zu belehren.
Diesen Ziegel legen "sie vor sich hin, zum Zeichen, daß sie mit ganzer
Aufmerksamkeit des Geistes über das Herz wachen. Die Stadt Jerusalem
aber müssen sie auf den Ziegel zeichnen, um dadurch anzudeuten, daß sie
sich bei ihrer Predigt bemühen sollen, irdischen Herzen zu zeigen, wie
der himmlische Friede sich offenbare. Weil es aber nutzlos wäre, die
Herrlichkeit des himmlischen Vaterlandes zu kennen, wenn man nicht auch
wüßte, von welch großen Versuchungen des listigen Feindes man hinieden
überfallen wird, so ist treffend beigefügt: "Und ordne eine Belagerung
wider sie an und baue Bollwerke." Die heiligen Lehrer ordnen nämlich
eine Belagerung um den Ziegel, auf welchem Jerusalem abgezeichnet ist,
wenn sie einem irdisch gesinnten Herzen, das aber schon nach dem
himmlischen Vaterland Verlangen trägt, zeigen, welch heftigen Kampf
gegen die Sünde man während dieses Lebens zu führen habe. Wenn nämlich
gezeigt wird, wie jede Sünde auf dem Weg des geistlichen Fortschrittes
ein Fallstrick sei, so wird durch das Wort des Predigers gleichsam eine
Belagerung um die Stadt Jerusalem geordnet. Weil sie aber nicht bloß
die Anfechtungen der Laster, sondern auch die Kräftigung erklären
müssen, welche aus der standhaften Tugendübung entspringt, ist mit
Grund beigefügt: "Und baue Bollwerke". Bollwerke erbaut der heilige
Lehrer, wenn er zeigt, durch welche Tugenden man den verschiednen
Lastern Widerstand leisten könne. Und weil mit dem Wachstum der Tugend
meistens auch die Kämpfe und Versuchungen sich mehren, wird noch
bemerkenswert hinzugefügt: "Und wirf einen Wall auf, und laß ein Heer
wider sie lagern, und stelle ringsum Böcke auf". Einen Wall wirft der
Prediger auf, wenn er den Druck der zunehmenden Versuchung schildert.
Ein Heer läßt er wider Jerusalem lagern, wenn er den bereitwilligen
Zuhörern die schlauen und fast unergründlichen Nachstellungen ihres
listigen Feindes vorhersagt. Böcke stellt er ringsum auf, wenn er
mitteilt, welch starke Versuchungen uns in diesem Leben von allen
Seiten befallen und die Mauer der Tugend zu durchbrechen suchen.
Aber wenn auch der Seelsorger dies alles sorgfältig einschärft, so
macht er sich doch von der Verantwortung in der Ewigkeit nicht frei,
wenn er nicht gegen die Sünden der einzelnen vom Geiste des Eifers
erglüht. Darum heißt es treffend noch weiter an jener Stelle: "Und du
nimm dann eine eiserne Pfanne und stelle sie als eiserne Mauer zwischen
dich und die Stadt." Die Pfanne bedeutet nämlich, daß der Geist
gleichsam geröstet werden müsse, das Eisen aber die Kraft der
Zurechtweisung. Denn was röstet und peinigt die Seele des Lehrers mehr
als der Eifer für Gott? Also fühlte Paulus das Feuer dieser Röstpfanne,
da er sprach: "Wer ist krank und ich bin es nicht mit ihm? Wer wird
geärgert und ich entbrenne nicht darüber?" (2 Kor 11,29) Und weil
jeder, der von Eifer für Gott erglüht, um nicht wegen Nachlässigkeit
verdammt zu werden, sich mit einer starken Schutzwehr für die Ewigkeit
umgibt, darum heißt es bezeichnend: "Stelle sie als eiserne Mauer
zwischen dich und die Stadt." Die eiserne Pfanne wird als eiserne Mauer
zwischen den Propheten und die Stadt gestellt, weil den Seelsorgern,
wenn sie jetzt kraftvollen Eifer beweisen, gerade dieser Eifer einst
zur kräftigen Verteidigung im Gerichte zwischen ihnen und den Zuhörern
gereichen wird; alsdann werden sie nicht der Rache preisgegeben sein,
wenn sie jetzt in der Zurechtweisung nicht nachlässig waren.
Hierbei ist aber zu bemerken, daß es für den Lehrer, wenn er bei der
Zurechtweisung im Geiste sich ereifert, sehr schwer ist, immer und bei
jeder Gelegenheit jedes ungehörige Wort zu vermeiden. Und nicht selten
geschieht es, daß sich die Zunge des Meisters, während er die
Verschuldungen der Untergebenen heftig tadelt, zu irgend einer
übertriebenen Äußerung fortreißen läßt. Bei so heftiger Erregung im
Zurechtweisen fallen dann die Herzen derer, die sich vergangen haben,
in Mutlosigkeit und Verzweiflung. Darum muß der Seelsorger, wenn er
sieht, daß er in seiner Erbitterung mehr, als recht ist, das Gemüt
seiner Untergebenen verwundet habe, immer in seinem eigenen Innern zur
Buße die Zuflucht nehmen, um durch reuevolle Klage vor den Augen der
ewigen Wahrheit auch für das Verzeihung zu erlangen, was er durch
seinen Übereifer gefehlt hat. Dies befiehlt der Herr vorbildlich durch
Moses mit den Worten: "Wenn jemand arglos mit seinem Freunde in den
Wald ging, Holz zu fällen und die Axt seiner Hand entglitt, und das
Eisen aus dem Stiel fiel und seinen Freund traf und tötete, der soll in
eine der vorherbezeichneten Städte fliehen und am Leben bleiben, auf
daß nidit etwa der Verwandte desjenigen, dessen Blut vergossen worden
ist, vom Schmerz getrieben, ihn verfolge, ergreife und erschlage" (Dt
19,4 f.).
Mit einem Freunde gehen wir in den Wald, so oft wir uns daran machen,
die Fehler der Untergebenen ins Auge zu fassen. Arglos fällen wir Holz,
wennwir in guter Absicht ihre Fehler zu beseitigen suchen. Die Axt aber
entfällt der Hand, wenn die Zurechtweisung über Gebühr sich erbittert.
Das Eisen fällt aus dem Stiel, wenn die Zurechtweisung zur harten
Behandlung ausartet. Es trifft und tötet den Freund; denn die zugefügte
Beleidigung ertötet in dem, an den sie gerichtet ist, den Geist der
Liebe. Schnell verfällt ja der Mensch infolge des Tadels in Haß, wenn
er durch einen Vorwurf über Maß und Gebühr gestraft wird. Wer aber
unvorsichtig Holz fällt und dabei seinen Nächsten tötet, der muß zu den
drei Städten fliehen, damit er in einer derselben gesichert leben
könne. Das will sagen: Wenn jemand einen Menschen getötet hat, sich
aber bekehrt, Buße tut und in der Einigkeit des Sakramentes unter dem
Schild der Hoffnung und dem Mantel der Liebe sich verbirgt, so wird er
des verübten Mordes nicht mehr für schuldig erachtet. Der Verwandte des
Getöteten, d.i. Christus, tötet ihn nicht, auch wenn er ihn findet.
Denn wenn der strenge Richter kommen wird, der sich uns durch Annahme
unserer Natur verwandt gemacht hat, so wird er ohne Zweifel denjenigen
seiner Sünde wegen nicht zur Strafe ziehen, welchen der Glaube, die
Hoffnung und die Liebe unter dem Schütze seiner Gnade verbergen.
11. WIE SEHR DER SEELSORGER ES SICH MÜSSE ANGELEGEN SEIN LASSEN, DAS HEILIGE GESETZ ZU BETRACHTEN.
Dies alles aber geschieht vom Seelsorger alsdann auf die rechte Weise,
wenn er vom Geiste der Furcht und Liebe Gottes entflammt, täglich es
sich angelegen sein läßt, die Vorschriften des göttlichen Gesetzes zu
betrachten. So werden alsdann die Worte der göttlichen Ermahnung die
Kraft des Eifers, und in Bezug auf das himmlische Leben die weise
Vorsicht, welche durch den gewohnten Umgang mit dem Menschen beständig
Schaden leidet, in ihm wieder erwecken. Wie er durch die Gesellschaft
der Weltleute zu dem alten Leben verleitet wird, so muß er durch
Seufzer der Zerknirschung immer wieder zur Liebe des himmlischen
Vaterlandes angeregt werden; denn gar sehr gießt das Herz bei dem
vielen Reden und Verkehr mit Menschen sich aus. Da es also
unzweifelhaft feststeht, daß die innere Triebkraft beim Drang äußerer
Geschäfte in Verfall gerät, so muß der Seelsorger unablässig bemüht
sein, durch das Streben nach innerer Belehrung beständig sich zu
erheben. Deshalb ermahnt Paulus seinen Schüler, der einer Herde
vorgesetzt war, mit den Worten: "Fahre fort mit Lesen bis ich komme" (1
Tim 4,13). Und der König David spricht: "Wie hab' so lieb, o Herr, ich
Dein Gesetz; den ganzen Tag ist es mein Sinnen". (Ps 1 16^97) Daher
befahl der Herr für das Tragen der Bundeslade dem Moses: "Mache vier
goldene Ringe und setze sie an die vier Ecken der Lade; mache dazu
Stangen von Akazienholz und überziehe sie mit Gold, und stecke sie
durch die Ringe, die an der Seite der Lade sind, dsß sie damit getragen
werde. Diese Stangen sollen stets in den Ringen bleiben und niemals aus
den selben herausgezogen werden" (Ex 25,12).
Was anders ist durch die Lade vorgebildet als die heilige Kirche? Wenn
vier goldene Ringe an den Ecken der Lade angebracht werden müssen, so
wird dadurch ohne Zweifel angedeutet, daß die Kirche nach allen vier
Weltgegenden sich ausdehne, und mit den vier Büchern des Evangeliums
gleichsam umgürtet sei. Die Stangen werden von Akazienholz gemacht und
zum Tragen in die Ringe geschoben, wodurch angedeutet wird, daß man
kräftige, ausdauernde Lehrer gleich unverweslichem Holze aussuchen
müsse, die allzeit dem Unterrichte in den heiligen Schriften obliegend,
die Einheit der heiligen Kirche verkünden und so die Lade tragen
sollen, gleich als wären sie in ihre Ringe eingeschoben. Die Lade mit
Stangen tragen heißt, durch gute Lehrer die hl. Kirche in den
ungelehrigen Sinn der Ungläubigen mittels der Predigt einführen. Auch
sollen die Stangen mit Gold überzogen sein, zum Zeichen, daß die
Lehrer, während sie anderen predigen, auch durch den Glanz ihres
eigenen Lebens leuchten müssen. Von den Stangen wird noch treffend
bemerkt: "Sie sollen immer in den Ringen sein und nie aus ihnen
herausgezogen werden." Denn wer dem Predigtamte obliegt, darf in der
heiligen Lesung niemals vom Eifer ablassen. Und zwar sollen diese
Stangen immer in den Ringen sein, damit wenn sich eine Veranlassung zum
Tragen der Lade ergibt, nicht durch das Einschieben der Stangen das
Tragen verzögert werde; so wäre es auch sehr schmachvoll für den
Hirten, wenn er, in einer geistlichen Angelegenheit von seinen
Untergebenen befragt, erst sich zu unterrichten suchen müßte, wo er
schon die Frage lösen sollte; es sollen vielmehr die Stangen in den
Ringen bleiben, auf daß die Lehrer, in ihrem Herzen das göttliche Wort
allzeit betrachtend, ohne Verzug die Bundes lade erheben, d.h. sogleich
lehren können, was not tut. Darum ermahnt der oberste Hirte der hl.
Kirche alle übrigen Hirten: "Seid allzeit bereit zur Verantwortung
gegen jeden, der von euch Rechenschaft fordert über eure Hoffnung" (1
Petr 3,13, gleich als ob er sagen wollte: Auf daß keine Verzögerung
beim Tragen der Lade entstehe, sollen die Stangen nie aus den Ringen
herausgenommen werden. |