Die heilsnotwendige Kirche
von Karl Adam
"Wer die Kirche nicht hört, der sei dir wie ein Heide und öffentlicher Sünder." (Matt. 18,17)
Die katholische Kirche ist als der Leib Christi, als die Verwirklichung des Gottesreichs auf Erden die Menschheitskirche. Sie zielt wesensmäßig auf die Eingliederung der Menschen aller Zeiten und Orte in die Einheit des Leibes Christi. Damit ist ihre äußere und innere Katholizität von selbst gegeben, ihre Weltweitheit und ihre Weltoffenheit. Damit ist aber auch ihre Exklusivität gegeben, d. h. ihr Anspruch, die Menschheitskirche schlechthin, die ausschließliche Heilsanstalt für alle Menschen zu sein. Wenn und weil sich die Kirche als die Menschheitskirche weiß, als jenes Gottesreich, dem schlechthin alle Menschen dem Willen Christi nach grundsätzlich zugehören, kann sie nicht zugeben, daß die Menschen auch in einer anderen Gemeinschaft, die neben der von Christus gestifteten Menschheitskirche und gegen sie aufgerichtet wird, ihr Heil finden. Auch Heiler (47) kann sich der zwingenden Gewalt dieser Folgerung nicht entziehen. "Sofern der Katholizismus wirklich Universalität ist, sofern er die Fülle religiöser Werte darstellt, muß er exklusiv sein. Es ist das aber nicht die Exklusivität der Einseitigkeit, sondern des unerschöpflichen Reichtums." Die Kirche würde ihr eigenstes tiefstes Wesensmerkmal verleugnen, das Vornehmste, was sie hat, ihre schlechthin erschöpfende Fülle und ihre diese Fülle erzeugende und tragende Wesenheit als Leib Christi, wenn sie jemals eine christliche Neben- und Gegenkirche als gleichberechtigte Schwester anerkennen würde. Sie kann diesen Kirchen eine historische Bedeutsamkeit zuerkennen. Sie kann dieselben als christliche Gemeinschaften, ja sogar als christliche Kirchen bezeichnen, aber niemals als die Kirche Christi. Ein Gott, ein Christus, eine Taufe, eine Kirche. Sowenig es einen zweiten Christus, sowenig kann es einen zweiten Leib Christi, eine zweite Versichtbarung Seines Geistes geben. Als im Frühjahr 1919 amerikanische Christen nach Rom gingen, um Papst Benedikt XV. zur Teilnahme an einer Weltkonferenz über "Glaube und Kirchenverfassung" zu veranlassen, da verkannten sie diese Grundforderung des katholischen Kirchenbegriffs. Die katholische Kirche kann und wird alle Gemeinschaftsbestrebungen der akatholischen Christenheit wohlwollend beurteilen und begünstigen (48). Sie kann und wird in ihnen einen ersten Ansatz erblicken, um die von der augenblicklichen Lage des Christentums im allgemeinen und des Abendlandes im besonderen geforderte Vereinigung aller Christen vorzubereiten. Aber sie kann die übrigen christlichen Gemeinschaften nicht als gleichgeordnete, gleichberechtigte Kirchen anerkennen. Das wäre ein Abfall von ihrem eigenen Wesen. Das wäre die schlimmste Untreue gegen sich selbst. Die katholische Kirche wird als die Kirche, als der Leib Christi, als das Reich Gottes sein, oder sie wird überhaupt nicht sein. Diese Ausschließlichkeit der Kirche ist in der Ausschließlichkeit Christi verwurzelt, in Seinem Anspruch, der Bringer des neuen Lebens, der Weg, die Wahrheit und das Leben zu sein. In Christus ist uns die Fülle des Göttlichen offenbar geworden. In Seiner gottmenschlichen Person liegt die letzte und vollkommenste Selbsterschließung Gottes an die Menschheit vor. In Ihm ist Gottes Weisheit und Güte und Barmherzigkeit Fleisch geworden. Aus Seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade um Gnade. Und darum gibt es keinen anderen Weg zu Gott hin als durch Christus. Es ist "kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, worin sie sollen selig werden" (Apg. 4,12). Christus aber vermögen wir nicht anders zu ergreifen denn durch Seine Kirche. Wohl hätte Er Sich und Seine Heilandskraft allen Menschen unmittelbar im persönlichen Erlebnis mitteilen können. Aber nicht darauf kommt es an, was an sich hätte sein können, sondern darauf, was Christus tatsächlich tun wollte. Tatsächlich wollte Er Sich den Menschen durch die Menschen schenken, auf dem Weg der Gemeinschaft, also nicht auf dem Weg der Vereinzelung und Zerstreuung. Die Gnade Jesu sollte die naturhaft zu einer einzigen solidarischen Gemeinschaft verbundenen Menschen nicht ohne oder gar gegen diese Gemeinschaft, sondern durch diese Gemeinschaft heimsuchen. Nicht eine unendliche Reihe begnadeter Auserwählter, sondern ein gegliedertes Reich heiliger Menschen, ein Gottesreich wollte Er erwecken. Dieser Weg der Gemeinschaftsvermittlung entsprach so ganz Seiner Grundforderung von der Liebe, die auf Gemeinschaft, auf Einheit der Brüder drängt und nur da sein kann, wo Gemeinschaft besteht. Sie entsprach auch der Wesensart des göttlichen Gnadenwirkens. Denn dieses wendet sich an alle Menschen zumal. Als umfassende, alle Menschen ergreifende, als katholische Macht will sich die Gnädigkeit Gottes offenbaren. So kann sie nicht anders denn in der Form einer durchgreifenden Einheit erscheinen. Wo Gott ist, da gibt es keinen Widerspruch und kein Andersmeinen und keine Spaltung. Die göttliche Wahrheit kann wesensmäßig nur eine Wahrheit, nur ein Leben, nur eine Liebe sein. Sie kann darum nur eine Seinsform haben, die der umfassenden, alle Menschen zu innerer Einheit verbindenden Gemeinschaft.
Schon in der Urgemeinde berief man sich nach dem Zeugnis des Matthäus (18, 17) für diese Heilsnotwendigkeit der einen Gemeinschaft auf ein ausdrückliches Herrenwort: "Wenn jemand die Kirche nicht hört, der sei dir wie ein Heide und öffentlicher Sünder". d. h. er gelte dir nicht mehr als ein Christ. Diese urchristliche Überzeugung sprach nachmals Cyprian in den wuchtigen, von der Christenheit niemals vergessenen Sätzen aus: "Damit einer Gott zum Vater haben könne, muß er die Kirche zur Mutter haben" (ep.74. 7) "Niemand kann selig werden außer in der Kirche" (ep. 4. 4). "Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil" (ep. 73. 21).
Damit war jene Formel geprägt, die den Anspruch der Kirche, die alleinseligmachende zu sein, am bündigsten zum Ausdruck brachte: außerhalb der Kirche kein Heil. Das 4. Laterankonzil vom Jahre 1215 übernahm sie wörtlich. Im sogenannten Symbolum Athanasianum, das die Kirche unter ihre Glaubensbekenntnisse aufgenommen hat, fand sie ihre ausführliche Umschreibung: "Wer nur immer selig sein will, für den tut es vor allem not, daß er den katholischen Glauben festhalte. Wenn er ihn nicht unversehrt und unverletzt bewahrt, wird er ohne Zweifel zugrunde gehen." Und noch unzweideutiger äußert sich das Konzil von Florenz im Jahre 1439, das alle Heiden, Juden, Häretiker und Schismatiker des ewigen Lebens verlustig erklärt und dem ewigen Feuer überantwortet.
Es ist kein Zweifel, so weltoffen und so weltweit die Kirche durch das Prinzip ihrer Katholizität ist, so selbstbezogen, abweisend und exklusiv ist sie durch den Anspruch, die alleinseligmachende zu sein. Der unbedingtesten, restlosesten Hingabe an die Welt der Werte, wo immer sie sich finden mögen, steht die stärkste, unbedingteste Selbstbehauptung, Selbstsetzung gegenüber. Diese unbedingte Selbstsetzung ist der wesensnotwendige Gegendruck gegen ihre unbedingte Selbsthingabe. Ohne diese starre, bewußte Selbstsetzung, ohne diese ungeheure Bewegung nach einwärts würde das Katholische an ihr, der Drang zur ganzen Menschheit, zur ganzen Welt und ihren Werten eine fortschreitende Auflösung des eigenen übernatürlichen Wesensgehaltes, eine Verschmelzung mit dem Kosmos des Natürlichen, also auch ein Zusammenwachsen mit fremden, ja gegensätzlichen religiösen Vorstellungen und Gebilden (Synkretismus) in gefahrvolle Nähe rücken. Gerade dadurch, daß sich die Kirche mit derselben Wucht und Kraft, mit der sie sich an die Welt hingibt, auf ihren übernatürlichen Ursprung, auf ihren Wesenszusammenhang mit Christus, auf ihre alleinseligmachende Heilandskraft besinnt, bleibt der übernatürliche Kern ihrer Botschaft erhalten und damit die Fähigkeit, alle von der Welt übernommenen natürlichen Werte ins Übernatürliche, Christusdurchlebte, Gottbezogene zu erheben. Ist die Katholizität ihre zentrifugale, so ist diese ihre Selbstbezogenheit ihre zentripetale Kraft. Und darin liegt das Geheimnis ihres Sichselbst-Treubleibens in der Fülle, daß diese beiden Kräfte in innerer Spannungseinheit erhalten bleiben, daß die Kirche katholisch und exklusiv zugleich ist.
So ist daran nicht zu deuteln: In der Frage nach einem etwaigen Heilandsberuf der übrigen christlichen Gemeinschaften, in der Frage, ob auch nichtkatholische Kirchen seligmachend seien, kennt die Kirche keine Duldung. Eben dadurch, daß sich alle diese Gemeinschaften gegen die ursprüngliche Einheit der Brüder im Glauben und in der Liebe aufrichteten, erwiesen sie sich für das katholische Bewußtsein als Gebilde, die nicht aus dem Geist Jesu erstanden sind, somit als rein menschliche, ja widerchristliche Schöpfungen. Ihnen gegenüber kennt die Kirche nur ein Verwerfungsurteil. Und sie wird dieses Urteil nicht zurücknehmen, bis daß der Herr kommt.
Es ist psychologisch begreiflich, daß die Anhänger nichtkatholischer Bekenntnisse diese dogmatische Unduldsamkeit der Kirche schmerzvoll empfinden und geneigt sind, in ihr das Wehen eines jesufremden, ja jesufeindlichen Geistes zu entdecken, den Geist der Lieblosigkeit und Härte. Wenn von einer "geradezu furchtbaren Exklusivität und Intoleranz" gesprochen wird (49), so vergißt man, daß die Wahrheit immer "furchtbar exklusiv und intolerant" sein muß. Und wenn in demselben Atemzug beteuert wird: "Vom alleinseligmachenden Glauben an Jesu Messianität führt ein gerader Weg zum Glauben an die alleinseligmachende Kirche", so ist doch mit der Wahrheit, daß Christus der einzige Name ist im Himmel und auf Erden, durch den wir können selig werden, auch die andere Wahrheit anerkannt, daß nur in der von Ihm gestifteten einen Kirche das wahre Heil zu finden ist. Der eine Christus und der eine Leib Christi gehören unlöslich zusammen. Wer die eine wahre Kirche leugnet, der wird durch die Unerbittlichkeit der Gedankenfolge nur allzu leicht dazu geführt, auch an Christus irre zu werden. Tatsächlich ist denn auch die Geschichte des Abfalls von der Kirche zugleich die Geschichte der fortschreitenden Auflösung des ursprünglichen Christusbildes geworden.
So steht denn die Wahrheit: Es gibt nur einen Christus, und es gibt nur eine seligmachende Kirche Christi, in ihrem inneren, ehernen Zusammenhang hart und unerbittlich da. Aber werden damit nicht alle Andersgläubigen zur Hölle verdammt?
Um das katholische Dogma: Außerhalb der Kirche kein Heil, richtig, d. h. so, wie die Kirche es verstanden haben will, zu deuten, muß man es aus seinen Ursprüngen zu begreifen suchen und in den Zusammenhang der übrigen Glaubenssätze rücken. Kein katholisches Dogma darf für sich allein gesehen werden. Jedes hat seinen Ort und seinen Sinn in einem einheitlichen Ganzen und empfängt erst von diesem Ganzen aus sein letztes Verständnis.
In erster Linie steht fest: Der Satz von der Heilsnotwendigkeit der Kirche richtet seine ursprüngliche Spitze nicht gegen den einzelnen Nichtkatholiken, gegen irgendeine Person als Person, sondern gegen nichtkatholische Kirchen und Gemeinschaften, insofern sie Gemeinschaften sind. Er will in positiver Wendung die Wahrheit sichern: Es gibt nur einen Leib Christi und darum nur eine Kirche, welche die Segensfülle Christi birgt und mitteilt. Negativ geformt lautet der Satz: Jede gegen die ursprüngliche Kirche Christi aufgerichtete Sonderkirche steht außerhalb der Gnadengemeinschaft mit Christus. Sie kann keine Heilsvermittlerin sein. Sie ist, insofern sie Sonderkirche, Gegenkirche ist, in Hinsicht auf das übernatürliche Leben wesenhaft unfruchtbar. Nicht für die Einzelpersönlichkeit soll also zunächst die geistige Unfruchtbarkeit behauptet werden, sondern für die außerkirchlichen Gemeinschaften als solche. Sie vermögen aus dem, was ihre Besonderheit ausmacht, was sie in ihrem Glauben und Kult von der katholischen Kirche unterscheidet, kein übernatürliches Leben zu wecken. Insofern und insoweit sie unkatholisch, antikatholisch sind, ihrer Eigenart nach also, gebührt ihnen nicht der auszeichnende Vorzug, fruchtbare "Mutter" der Gläubigen zu sein.
Damit haben wir schon die zweite dogmatische Einschränkung genannt, die der Satz von der alleinseligmachenden Kirche innerhalb des katholischen Glaubensgefüges erfährt. Die akatholischen Gemeinschaften sind nicht bloß unkatholisch und antikatholisch. Als sie sich gegen die ursprüngliche Christuskirche aufrichteten, übernahmen und behielten sie einen beträchtlichen Teil des katholischen Glaubensschatzes wie auch diese und jene Gnadenmittel, vor allem das Sakrament der Taufe. Sie sind also, in ihrer Ganzheit gesehen, nicht bloß Gegensatz und Verneinung, sondern zu einem guten Teil auch Bejahung des alten, von Christus und den Aposteln übernommenen Erbes an Wahrheit und Gnade. Sie haben sich neben ihrer unkatholischen Eigenart urkatholisches Heilsgut eingebaut. Und insofern und insoweit, als sie in Glaube und Kult wahrhaft katholisch sind, kann und wird und muß es geschehen, daß auch außerhalb der sichtbaren Kirche ein wahres, übernatürliches Leben, ein Emporwachsen und Hineinwachsen in die Gemeinschaft mit Christus feststellbar ist. So erfüllt sich Jesu Verheißung: "Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Schafstall sind" (Joh. 10, 16). Überall, wo Jesu Wort treu verkündet wird, und wo man auf Seinen heiligen Namen gläubig tauft, da kann Jesu Segen emporblühen. Als die Jünger es verwehren wollten, daß einer, der sich Jesus nicht angeschlossen hatte, dennoch in Jesu Namen Teufel austreibe, erklärte der Herr: "Wehret ihm nicht. Denn keiner, der ein Wunder tut in Meinem Namen, wird so bald Übles von Mir sprechen können. Wer nicht gegen euch ist, ist für euch" (Mk. 9. 39). Ganz im Geist dieses Herrenwortes verteidigte die Kirche in hartem Kampf gegen Cyprian und die afrikanische Tradition und nachmals in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen mit den Donatisten die Gültigkeit einer außerhalb der katholischen Gemeinschaft im Namen Jesu gespendeten Taufe. Und es war gerade das ob seiner "Unduldsamkeit" so sehr befehdete Rom, es war Papst Stephan, der selbst auf die Gefahr eines afrikanischen Schismas hin an der Gültigkeit der Ketzertaufe nicht rütteln ließ. Denselben Grundsatz der Duldung verfolgt die Kirche in Hinsicht auf die gültige Spendung der anderen Sakramente, soweit sie ihrem Wesen nach nur den Vollzug der kirchlichen Weihegewalt, nicht auch den der kirchlichen Rechtsgewalt bedingen. In jenen nichtkatholischen Gemeinschaften, in denen das Apostelamt auf dem Weg der rechtmäßigen Bischofsweihe noch forterhalten wurde, wie in den von Rom getrennten schismatischen Kirchen des Ostens, ferner beiden jansenistischen und altkatholischen Gemeinschaften erkennt sie noch heute die Gültigkeit sämtlicher Sakramente an, soweit ihr Vollzug nur der kirchlichen Weihegewalt, nicht auch der kirchlichen Rechtsgewalt unterstellt ist. In all diesen Kirchen wird also nach katholischer Lehre der wahre Leib und das wahre Blut Christi empfangen, nicht deshalb, weil sie schismatische Kirchen sind, nicht also durch die Kraft ihrer Eigenart, sondern weil sie trotz ihrer Eigenart noch urkatholisches Erbe bergen. Das Katholische an ihnen ist es, das immer noch zu heiligen und zu erlösen vermag.
Dabei ist es nicht so - und damit kommen wir zur dritten dogmatischen Beleuchtung des Satzes von der alleinseligmachenden Kirche -, als ob diese außerhalb der Kirche gespendeten Sakramente nur objektiv gültig, aber nicht subjektiv wirksam sein könnten. Noch Augustin scheint die außerkirchliche Wirksamkeit der Sakramente in diesem Sinn verstanden zu haben. Die von den außerkirchlichen Sakramenten objektiv bereitgestellte Heilsgnade könne, so vermutete er, sich in den Häretikern und Schismatikern nicht subjektiv auswirken, weil sie alle bösen Willens (mala fide) seien, tieferhin, weil sie bewußt und hartnäckig dem Geist der Einheit und damit dem Heiligen Geist widerstrebten. Im Anschluß an Augustin vertraten die Jansenisten des 17. Jahrhunderts dieselbe irrige Meinung und stellten den Leitsatz auf: "Außerhalb der Kirche gibt es keine Gnade" (extra ecclesiam nulla conceditur gratia). Aber wiederum war es Rom, Papst Clemens XI. im Jahre 1713, der diesen Satz ausdrücklich verwarf.
Die Behauptung (50), die spätere katholische Kirche habe die cyprianisch-augu-stinischen Gedanken fortgeführt, sie habe "das Prinzip der Exklusivität immer mehr verschärft und so den gesamten Katholizismus immer mehr verengt", widerstreitet dem klaren geschichtlichen Sachverhalt. Gerade die spätere Kirche hat den ursprünglichen engen, strengen Standpunkt der alten afrikanischen Theologie nachdrücklich in dem Sinn gemildert, daß auch außerhalb der katholischen Kirche ein göttliches Gnadenwirken statthaben kann. Die außerkirchlichen Sakramente vermögen auch subjektiv zu erlösen und zu heiligen. So ist es nach katholischer Auffassung denkbar, daß auch in jenen nichtkatholischen Gemeinschaften, die an Jesus glauben und auf Seinen Namen taufen, ein reines, frommes, christliches Leben erblüht. Wir Katholiken bringen diesem christlichen Leben überall, wo es sichtbar wird, unsere ungeheuchelte Ehrfurcht und unsere dankbare Liebe entgegen. Wir blicken mit innerer Hochachtung auf die Diakonissin und auf Gestalten wie Wiehern und Bodelschwingh. Wir bewundern das Liebeswirken der inneren Mission. Und fast wie "Heimatmelodien aus dem alten Vaterhaus" (Knöpfler) erklingen uns die Lieder eines Paul Gerhardt, die Matthäuspassion eines Sebastian Bach und die Oratorien von Händel. Ja, nicht bloß christliches Leben, auch christliches Volleben, Höhenleben, ein Leben nach dem "Vollalter Christi", ein heiliges Leben ist vom katholischen Standpunkt aus in den unkatholischen Bekenntnisgemeinschaften denkbar. Wohl wird es sich nicht in diesen reichen Formen entwickeln können wie da, wo Jesu ganze Fülle, wo Sein Leib ist. Und niemals wird dieses heilige Leben antikatholisches Gepräge haben. Aber es wird heiliges Leben sein. Denn wo die Gnade ist, da kann auch die Edelfrucht der Gnade reifen. Solche Edelgestalten blühten und blühen vor allem in der griechisch-russischen Kirche empor (51), die ja noch im weitesten Ausmaß altkirchliehes Heilsgut bewahrt hat, in den Heiligengestalten eines Dmitri, Innozenz, Tykhon und Theodosius. Aber auch in den protestantischen Gemeinschaften sind Heilige und Märtyrer vom katholischen Gesichtspunkt aus nicht unmöglich (52). Ja, die Gnade Christi wirkt nach katholischer Lehre nicht bloß innerhalb der christlichen Gemeinschaften. sondern auch in der außerchristlichen Welt, bei den Juden so gut wie bei den Japanern und Türken (52). In jedem katholischen Katechismus wird neben dem ordentlichen Heilsmittel der Taufe das außerordentliche Heilsmittel der Begierdetaufe hervorgehoben, d. h. die heiligende Macht jener vollkommenen, von der Heilandskraft Jesu erweckten und getragenen Liebe, die den Willen Gottes derart entschieden bejaht, daß der Begnadete ohne weiteres die Taufe empfangen würde, wenn er von ihr wüßte oder sie empfangen könnte. Wie Seinen Regen und Sonnenschein so sendet Gott Seine obsiegende Gnade in alle Herzen, die sich dafür bereit halten, die also tun, was an ihnen liegt, was ihr Gewissen ihnen sagt. Seitdem Christus auf Erden erschienen ist und Sein Gottesreich gegründet hat, gibt es keine rein natürliche Sittlichkeit mehr, so sehr sie an sich möglich wäre. Überall, wo sich das Gewissen regt, wo der Mensch seine Augen für Gott und Seinen heiligen Willen aufschlägt, da wirkt auch schon zugleich die Gnade Christi mit und legt den Keim des neuen übernatürlichen Lebens in die Seele. Heiler selbst zitiert, ohne des grimmigen Widerspruchs mit seiner anderen Behauptung gewahr zu werden, daß die spätere Kirche sich verengt habe, den in der katholischen Theologie hochangesehenen Jesuiten De Lugo, der die katholische Lehre dahin zusammenfaßt: "Gott gibt genügend Licht für die Erlösung einer jeden Seele, die zum Gebrauch der Vernunft in diesem Leben gelangt (…) Die verschiedenen Philosophenschulen und religiösen Gemeinschaften in der Menschheit besitzen und vermitteln ein Stück Wahrheit (…) und die Regel ist die: Die Seele, die in gutem Glauben Gott sucht, Seine Wahrheit und Liebe, konzentriert ihre Aufmerksamkeit unter dem Einfluß der Gnade auf diese Wahrheitselemente (mögen sie nun viele oder wenige sein), die ihr geboten werden in den heiligen Büchern, den Unterweisungen, Gottesdiensten und Versammlungen der Kirche, Sekte oder Philosophenschule, in welcher sie aufgewachsen ist. Sie nährt sich von diesen Elementen, besser gesagt: Die göttliche Gnade nährt und erlöst die Seele unter der Hülle dieser Wahrheitselemente." Es ist also die eigentliche Meinung De Lugos - und sie ist die Meinung der ganzen kirchlichen Theologie -, daß alle die Wahrheitselemente, alle die "Samenkörner" der Wahrheit, die in den verschiedensten Sekten, Philosophenschulen und Kulten ausgestreut sind, für das Gnadenwirken Christi Ansatzpunkte werden können, um aus dem natürlichen Menschen einen neuen übernatürlichen Menschen des Glaubens und der Liebe zu erwecken. So schroff und entschieden die Kirche ihren Anspruch, der eigentliche und einzige Leib Christi zu sein, aufrechterhält und immer wieder betont, so großzügig und frei urteilt sie über das Gnadenwirken Christi. Es ist schlechthin ohne Enden und Grenzen, es ist unendlich wie das Herz Gottes selbst.
Rücken wir den Anspruch der Kirche, die alleinseligmachende zu sein, in das helle, strahlende Licht ihres Glaubens an die Unbegrenztheit, Weltweitheit des göttlichen Gnadenwirkens, so schließt sich uns sein eigentlicher tiefster Sinn ohne weiteres auf. Die Kirche versteht diesen Anspruch dahin, daß sie kraft der ausdrücklichen Stiftung Christi im Heilsplan Gottes die ordentliche eigentliche Anstalt der Wahrheit und Gnade Jesu auf Erden ist. Die katholische Kirche allein ist die Stelle, in welcher die in Christus offenbar gewordene Heilsmacht in ursprünglicher Kraft, in ungetrübter Reinheit und in vollendeter, erschöpfender Fülle in die Welt einströmt. In ursprünglicher Kraft - denn während die nichtkatholischen Gemeinschaften alles, was sie an urchristlicher Wahrheit und Gnade besitzen, von der katholischen Kirche haben, empfängt es die Kirche ohne jedwede Vermittlung in ursprünglicher Frische von Jesus selbst. Sie ist ja nichts anderes als Seine räumlich und zeitlich ausgeweitete Jüngergemeinde. In ungetrübter Reinheit - denn sie hat dieses christliche Urgut nicht gleich diesen und jenen Sekten mit Gemächten der neuen und neuesten Zeit vermengt, sondern in der ununterbrochenen Reihenfolge ihrer Bischöfe so unbefleckt forterhalten, wie sie es von Christus überkommen hat. In erschöpfender Fülle - denn sie nennt das ganze in Bibel und Tradition niedergelegte Offenbarungsgut ihr eigen, nicht nur diesen und jenen kostbaren Edelstein. Sie ist also die eigentliche, ordentliche Anstalt der Gnade und Wahrheit Jesu. Das schließt nicht aus, daß es neben dieser ordentlichen Heilsanstalt außerordentliche Heilswege gibt, daß Christi Gnade diesen und jenen Menschen ohne kirchliche Vermittlung unmittelbar heimsucht. Aber auch alle diese von der Gnade Jesu unmittelbar Berührten gehören zur Kirche, weil und insofern diese als Leib Christi die übergreifende Einheit aller in Christus Erlösten ist. Sie gehören nicht zwar zu ihrem äußeren, sichtbaren Leib, wohl aber zu ihrer geistigen, unsichtbaren Seele, zu ihrem übernatürlichen Wesenskern. Denn die Gnade Christi wirkt niemals für sich allein in diesem und jenem. Sie wirkt stets in Verbundenheit mit Seinem Leib, wie St. Augustin immer wieder hervorhebt. "Willst du vom Geist Christi leben, mußt du im Leib Christi sein. (…) Denn nur der Leib Christi kann vom Geist Christi leben" (in Ev. Joh. tract. 26, 13; vgl. 27, 6). In diesem Sinn gilt auch für die vom äußeren Organismus der Kirche getrennten Brüder, daß sie nicht ohne und gegen die Kirche Christi, sondern nur in ihr selig werden.
Aber wie ist es denkbar, daß es wahre Christen gibt, die zur Seele der Kirche gehören, aber dennoch von ihrem sichtbaren Leib getrennt sind? Wie kann es sein, daß man dem Leib Christi angehört und doch nicht dem Leib der Kirche? Indem wir diese Frage kurz beantworten, gehen wir von der theologischen zur psychologischen Beleuchtung unseres Dogmas über. Vom rein theologischen Gesichtspunkt aus, im Licht der Glaubenswahrheit vom inneren Wesenszusammenhang zwischen Christus und der Kirche kann, es für alle Häretiker und Schismatiker, für alle Juden und Heiden nur Jenes Verwertungsurteil geben, welches das Konzil von Florenz über sie ausgesprochen hat. Insofern sie außerhalb der einen Kirche Christi sind und sein wollen, stehen sie nach dem strengen Sinngehalt des Dogmas außerhalb der Gnadensphäre Christi und außerhalb des Heils. Von diesem rein dogmatischen Standpunkt aus sind die scharfen Verwerfungsurteile der Kirche gegen alle Häretiker und Schismatiker zu verstehen, auch die in der so viel angefochtenen Borromäus-Enzyklika des Papstes Pius X. Die Kirche will hierbei nicht für den Einzelfall entscheiden, ob ein Häretiker die Wahrheit guten Glaubens oder böswillig leugnet. Sie will noch weniger über sein Endschicksal zu Gericht sitzen. Ihr Verdammungsurteil besagt unmittelbar nur, daß diese Häretiker Vertreter und Zeugen einer widerkirchlichen Idee sind. Da, wo Ideen aufeinanderprallen, wo Wahrheit gegen den Irrtum, wo Offenbarung gegen Menschenwitz streitet, da gibt es kein Entgegenkommen und keine Schonung. Hätte Christus solche Schonung geübt, wäre Er nicht gekreuzigt worden. Als Er die Pharisäer übertünchte Gräber und Natternbrut, und als Er den Herodes einen Fuchs nannte, da war es der ganze ungeheure Ernst der Idee, nicht irgendein Haß gegen Einzelpersönlichkeiten, da war es das heiße, starke Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der ewigen Wahrheit, das Ihn gegen den Irrtum und seine Vertreter so eifernde Worte finden ließ. Wo dieser Kampf um die Wahrheit nicht mehr ist, da ist alle geistig-sittliche Kraft dahin, da herrscht die Grundsatzlosigkeit, da wird Gott verleugnet. Die dogmatische Intoleranz ist also sittliche Pflicht, Pflicht der unbedingten Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
In dem Augenblick aber, wo nicht Ideen gegen Ideen auszutragen sind, wo es sich um lebendige Menschen handelt, um die Beurteilung dieses und jenes Andersgläubigen, da wird der Theologe zum Psychologen, der Dogmatiker zum Seelsorger. Er macht darauf aufmerksam, daß der lebendige Mensch nur äußerst selten der lebendige Ausdruck einer Idee ist, daß das Vorstellungsnetz des lebendigen Menschen und seine Geistigkeit derart verästelt und verwickelt ist, daß man sein Wesen nicht auf eine einfache, reinliche Formel bringen kann. Mit andern Worten: Der Ketzer, der Jude, der Heide im dogmatischen Vollsinn existiert nicht allzu häufig. Es existieren gemeinhin nur lebendige Menschen, deren Grundhaltung in diesem und jenem von abwegigen Ideen beeinflußt oder beherrscht ist. Darum unterscheidet die Kirche ausdrücklich zwischen "formellen" und "materiellen" Häretikern, je nachdem diese die Kirche und ihr Dogma grundsätzlich und mit vollem Bedacht oder nur aus Mangel an genügender Aufklärung unter dem Bann falscher Vorurteile oder einer kirchenfeindlichen Erziehung verwerfen. Augustin (55) verbietet es, jemand schon deshalb Häretiker zu schelten, weil er von häretischen Eltern stammt, wenn er anders nur ohne kecke Selbstherrlichkeit, ohne trotziges Sichverschließen gegen jede bessere Erkenntnis schlicht und treu nach der Wahrheit sucht. Da, wo die Kirche solch suchende Menschen vor sich hat, erinnert sie sich daran, daß Christus wohl den Pharisäismus aufs schärfste verurteilte, aber nicht den einzelnen Pharisäer, daß Er mit Nikodemus tiefe, liebe Worte wechselte und sich von Simon zu Gaste laden ließ. Augustins Wort: "Liebet die Menschen. tötet den Irrtum!" ist auch ihr Leitwort in ihrer Seelensorge.
Wohl gab es im Mittelalter Ketzerprozesse und Ketzerverbrennungen. Aber sie gab es nicht bloß in katholischen Ländern. Ließ doch Calvin selbst den Arzt Servet verbrennen. Gegen die Wiedertäufer wurde, zumal in Thüringen und Kursachsen, mit Todesstrafe vorgegangen. Nach dem protestantischen Theologen Walter Köhler (56) sah auch Luther seit dem Jahre 1530 die Todesstrafe als berechtigte Strafe für alle Ketzerei an. Diese Tatsache, daß auch bei den nichtkatholischen Gemeinschaften die Ketzerverfolgungen grundsätzlich gebilligt und hier und dort auch tatsächlich durchgeführt wurden, mag allein schon beweisen, daß sie nicht aus dem Wesen des Katholizismus entsprungen sind, näherhin aus seinem Anspruch, die alleinseligmachende Kirche zu sein. Sie erwuchsen vielmehr in erster Linie aus der byzantinisch-mittelalterlichen Staatsidee, welche jeden Angriff gegen die Einheit des Glaubens als ein öffentliches Verbrechen gegen die Einheit und den Bestand des Reiches betrachtete und mit den harten Rechtsmitteln der Zeit ahnden zu müssen glaubte. Zu diesem staatspolitischen Grund kam ein geistesgeschichtlicher. Der mittelalterliche Mensch war der Mensch der reinen, ungebrochenen Religiosität. Für ihn klaffte Religion und Sittlichkeit noch nicht unselig auseinander. Jeder Abfall vom katholischen Glauben erschien ihm darum als eine sittliche Untat, als eine Art Seelen- und Gottesmord, verruchter denn der Frevel eines Parricida (57). Anderseits war er logisch, nicht psychologisch eingestellt. Mit der Freude an der Erkenntnis der Wahrheit hielt das Verständnis für die lebendigen seelischen Bedingungen einer Wahrheitserkenntnis nicht gleichen Schritt. Man bewegte sich in den dialektischen Gegensätzen von Ja-Nein, Entweder-Oder, ohne genügend zu beachten, daß der lebendige Mensch, daß das Leben nicht in den schroffen Gegensätzen von Ja und Nein, von Wahrheit und Irrtum, von Glaube und Unglaube, von Tugend und Laster sich entfaltet, sondern in einer unendlichen Fülle von Übergängen und Zwischenstufen, daß es im lebendigen Menschen nicht auf die überführende Kraft der Wahrheit allein ankommt, sondern auch auf die besondere Art seiner Geistigkeit, der seelischen Zuständlichkeit, mit der er die Wahrheit entgegennimmt. Weil man für diesen bunten Reichtum der seelischen Zuständlichkeiten kein scharfes Auge hatte, war man allzu leicht geneigt, überall da, wo die Wahrheit geleugnet wurde, ohne weiteres "bösen Willen" (mala fides) anzunehmen und ein Strafurteil zu fällen, auch wenn tatsächlich unüberwindliche seelische Hemmungen (ignorantia invincibilis) für die Wahrheitserkenntnis vorlagen. Diese vornehmlich logische Betrachtungsweise lag im Geist der mittelalterlichen Zeit. Es gebrach an dem Sinn für das strömende Leben und dessen Eigengesetzlichkeit, für die Geschichte in uns und außer uns. Diese Einstellung konnte erst überwunden und korrigiert werden, als der Geist der Zeit selbst ein anderer geworden war, als im Lauf der Jahrhunderte und über viele Entwicklungen hindurch eine neue Geistigkeit die Menschen zu beherrschen begann. Nicht aus dem Wesen des Katholizismus erwuchsen also die Ketzerverfolgungen, sondern aus der politischen und geistigen Einstellung des Mittelalters.
Mit dem Mittelalter hörten denn auch die Ketzerverfolgungen allgemach auf. Das neue kirchliche Rechtsbuch verbietet ausdrücklich jede Gewaltanwendung in Sachen des Glaubens (58). Die große Idee von dem einen Kaiser und Reich ging unter. Und ein fortschreitendes psychologisches und historisches Verständnis machte den Theologen immer behutsamer in der Anwendung des Begriffs eines bösen Willens auf den Andersgläubigen. Es schärfte seinen Blick für die tausend Möglichkeiten eines entschuldbaren unüberwindlichen Irrtums (error invincibilis). "Es muß für sicher gelten", so erklärte Papst Pius IX. in einer Ansprache vom 9. Dezember 1854, "daß, wer die wahre Religion nicht kennt, vor Gottes Augen noch keine Schuld hat, sofern diese Unkenntnis unüberwindlich ist. Wer wollte sich anmaßen, näher hin die Grenzen dieser Unwissenheit anzugeben bei der so vielfachen Art und Verschiedenheit der Völker, der Länder, der Geistesanlagen und so vieler anderer Umstände. Wenn wir einmal, von den Banden dieses Körpers befreit, Gott schauen werden, wie Er ist, dann werden wir gewiß erkennen, wie innig und schön die göttliche Erbarmung und Gerechtigkeit miteinander verbunden sind." Der kirchliche Anspruch, die Alleinseligmachende zu sein, schließt also durchaus nicht die liebende, einfühlende Würdigung der subjektiven Bedingungen und Umstände aus, unter denen eine Häresie entstanden ist. Das Verdammungsurteil der Kirche über eine Häresie ist nicht immer auch zugleich ein Verdammungsurteil über den Häretiker. Es ist für die Weitherzigkeit der katholischen Betrachtungsweise bezeichnend. daß der berühmte Redemptorist Clemens Maria Hofbauer sich gegen den lutherischen Verleger Friedrich Perthes einmal unverhohlen über die Entstehungsgründe der Reformation dahin äußerte: "Der Abfall von der Kirche ist eingetreten, weil die Deutschen das Bedürfnis hatten und haben, fromm zu sein (59)." Hofbauer war ein überzeugter Katholik, der jede Häresie als religiös-sittliche Untat, als eine Vergewaltigung des einen Leibes Christi verurteilte. Er war sich auch wohl bewußt, daß die auslösenden Ursachen der Reformation durchaus nicht bloß religiöse gewesen sind. Aber diese Einsicht hielt ihn nicht ab, den Ernst auch der religiösen Kräfte zu würdigen, von denen die Reformation zu einem guten Teil getragen war. Daß derselbe Clemens Maria Hofbauer von der Kirche heiliggesprochen wurde, mag beweisen, daß sie seine Äußerung nicht mißbilligte, sondern in ihr nur eine Bestätigung dessen fand, was sie von jeher über die Möglichkeit eines unüberwindlichen Irrtums und eines guten Glaubens beim Häretiker festgehalten hatte.
Von da aus gewinnt der kirchliche Hauptsatz: außerhalb der Kirche kein Heil, erst sein entscheidendes Verständnis. Wohl gibt es nur eine Kirche Christi. Sie allein ist Christi Leib, und ohne sie gibt es kein Heil. Sie ist in objektivem, sachlichem Betracht der ordentliche Heilsweg, die einzige ausschließliche Lichtquelle, durch die alle Wahrheit und Gnade Christi in die raum-zeitliche Welt einströmt. Aber von dieser Lichtquelle empfangen in einem tiefen, wahren Sinn auch die, welche sie nicht kennen: ja, die sie verkennen und bekämpfen, wenn anders sie nur guten Willens sind und bleiben, wenn sie ohne selbstgerechte Eigenwilligkeit schlicht und treu nach der Wahrheit suchen. Reicht ihnen das Brot der Wahrheit und Gnade auch nicht die katholische Kirche selbst, es ist doch katholisches Brot, das sie essen. Und indem sie davon essen, werden sie, ohne daß sie es wissen oder wollen, dem übernatürlichen Wesenskern der Kirche eingefügt. Sie gehören ihrer Seele an, mögen sie auch äußerlich von ihr getrennt sein.
Die entscheidende Einheit mit dieser Kirche ist also auch für den Nichtkatholiken, der guten Willens ist, bereits da. Er sieht sie nur nicht. Aber sie ist da, unsichtbar, geheimnisvoll. Und je mehr er im Glauben und in der Liebe wächst, desto deutlicher wird er sie auch wirklich sehen. Viele haben sie schon gesehen. Und noch viel mehr werden sie sehen. Zumal da, wo der Protestantismus auf dem Glauben an Christus, den Gottmenschen, steht, da ist auch der Ansatzpunkt zu einer Wiedervereinigung mit der katholischen Kirche gegeben. Gerade weil die entscheidende Einheit so vieler Nichtkatholiken mit der Kirche bereits unsichtbar gegeben ist, lassen wir nicht von der Überzeugung, daß diese geistige Einheit dereinst in voller Schöne in die Sichtbarkeit hereintreten werde, daß - je bewußter und rückhaltloser wir alle zusammen Christi Geist in uns ausgestalten - desto gewisser jene Gnadenstunde nahen wird, in der die Schleier von unseren Augen fallen. in der wir alle Vorurteile und Mißverständnisse und alle Verbitterung abtun, in der wir uns wieder die Bruderhand drücken als wie in alter Zeit: Ein Gott, Ein Christus, Ein Hirt, Eine Herde. |