DIE PASTORAL-REGELN DES HL. PAPSTES GREGOR D. GR.
(übers. von Benedikt Sauter O.S.B., Freiburg / Brsg. 19o4)
4. DER SEELSORGER MUSS WEISE IM SCHWEIGEN, NUTZBRINGEND IM REDEN SEIN.
Der Seelsorger muß weise im Schweigen, nutzbringend im Reden sein,
damit er nicht schweige, wo er reden, und rede, wo er schweigen sollte.
Denn gleichwie unvorsichtiges Reden in Irrtum führt, so läßt unzeitiges
Schweigen, jene im Irrtum, die man hätte belehren können. Oft scheuen
sich sorglose Seelenhirten, die Wahrheit freimütig zu bekennen aus
Furcht, die Gunst der Menschen einzubüßen, und bewachen so die Herde,
wie die ewige Wahrheit selbst sagt, nicht mit Hirtensorgfalt, sondern
nach Art der Mietlinge, weil sie, wenn der Wolf kommt, fliehen, indem
sie sich in Stillschweigen hüllen (Jo lo, 12). Deshalb tadelt sie der
Herr durch den Propheten als "stumme Hunde, die nicht bellen können"
(Is 56,lo). Und darum klagt er an einer anderen Stelle: "Ihr erhebet
euch nicht zum Widerstand und setzet euch nicht zur Mauer für das Haus
Israel, um fest zu stehen im Streite am Tage des Herrn" (Ez 13,5).
"Sich zum Widerstand erheben" heißt, zur Verteidigung der anvertrauten
Herde mit freimütigem Worte der weltlichen Gewalt entgegentreten. "Am
Tage des Herrn aber im Streit feststehen" heißt, aus Liebe zur
Gerechtigkeit ungerechten Gegnern Widerstand leisten. Wenn ein Hirte
sich fürchtet, die Wahrheit zu sagen, was ist das anderes als die
Flucht ergreifen durch eben dieses Schweigen? Wer aber für seine Herde
sich der Gefahr aussetzt, der setzt sich als Mauer für das Haus Israel
den Feinden entgegen. Darum wird anderswo zu dem sündhaften Volke
gesagt: "Deine Propheten erschauten die Lüge und Torheit und enthüllten
deine Missetaten nicht, um dich zur Buße zu bewegen" (Klgl 2,14). Die
Lehrer werden nämlich in der Heiligen Schrift bisweilen Propheten
genannt, weil sie auf die Vergänglichkeit der gegenwärtigen Dinge
hinweisen und so die Zukunft enthüllen. Von ihnen sagt das Wort Gottes,
daß sie Lügen erschauen, wenn sie sich fürchten, die Sünden zu rügen
und mit eitler Beruhigung den Lasterhaften schmeicheln. Solche decken
die Ungerechtigkeit der Sünder nicht auf, weil sie jedes Wort des
Tadels zurückhalten. Die Strafrede ist der Schlüssel, der die Einsicht
in eine Sünde erschließt, die oft derjenige selbst nicht erkannte, der
sie beging. Darum sagt Paulus vom geistlichen Vorsteher: "Er soll
imstande sein, in der gesunden Lehre zu unterrichten und die Gegner zu
widerlegen" (Tit 1,9). Und Malachias sagt: "Die Lippen des Priesters
sollen die Wissenschaft bewahren, und das Gesetz soll man holen aus
seinem Munde, denn er ist ein Engel (Bote) des Herrn der Heerscharen"
(Mal 2,7)! Und Isaias sagt: "Rufe ohne Unterlaß, wie eine Posaune
erhebe deine Stimme" (Is 58,1). Ein Heroldamt übernimmt, wer immer zum
Priestertum emporsteigt, und rufend geht er der Ankunft des Richters
voraus, der - von Schrecken begleitet - ihm nachfolgt. Wenn aber der
Priester nicht zu predigen weiß, welche Stimme wird er alsdann als
stummer Herold von sich geben?
In Gestalt von Zungen hat sich der Heilige Geist auf die ersten Hirten
der Kirche niedergelassen, um dadurch anzudeuten, daß er diejenigen,
welche er erfüllt, durch seine Gabe beredt macht (Apg 2,3). Aus
demselben Grunde wurde dem Moses befohlen, daß der Hohepriester beim
Eintritt ins heilige Zelt von Glöckchen umgeben sei (Ex 28,33); was so
viel heißt, als daß er zu predigen verstehen müsse, damit er nicht den
vom Himmel herniederschauenden Richter durch sein Stillschweigen
beleidige. Denn es steht geschrieben: "Sein Schall werde gehört, wenn
er ein- und ausgeht, im Heiligtume, damit er nicht sterbe" (Ex 28,35).
Der Priester stirbt, wenn bei seinem Ein- und Austritt der Schall von
ihm nicht gehört wird, weil er den Zorn des verborgenen Richters sich
zuzieht, wenn er ohne den Schall der Predigt einhergeht. Von Bedeutung
ist, was die Schrift sagt, daß die Glöckchen an seinen Kleidern
befestigt waren. Denn was anderes haben wir unter den Kleidern des
Priesters zu verstehen, als die guten Werke nach den Worten des
Propheten, der da sagt: "Es sollen deine Priester in Gerechtigkeit sich
kleiden" (Ps 131,9). An den Kleidern hängen also die Glöckchen, weil
auch die Werke des Priesters zugleich mit dem Schall seiner Stimme den
Weg des Lebens verkündigen sollen. Wenn aber der Seelenhirte sich zum
Reden anschickt, muß er auch erwägen, mit welch sorgsamer Vorsicht er
zu reden habe, damit er nicht, indem er sich vom ungeordneten Redestrom
fortreißen läßt, die Herzen der Zuhörer in verderblichen Irrtum führe
und das Band der Einheit unweise zerreiße, während er vielleicht als
Weiser erscheinen möchte. Mit Bezug hierauf sagt die ewige Wahrheit:
"Habet Salz in euch und Frieden untereinander" (Mk 9,49). Das Salz
bedeutet die Weisheit im Reden. Wer darum mit Weisheit reden will, der
muß sich in acht nehmen, daß er nicht durch seine Rede die Einigkeit
unter seinen Zuhörern störe. Daher mahnt Paulus, "nicht höher zu
denken, als sich geziemt, sondern in seinen Gedanken Maß zu halten"
(Rom 12,3).
Deshalb wechseln nach göttlicher Anordnung an dem hohenpriesterlichen
Gewände Granatäpfel mit den Glöckchen ab (Ex 28,34). Denn was anders
bedeuten die Granatäpfel als die Einheit des Glaubens? Gleichwie bei
dem Granatapfel eine äußere Schale viele Kerne im Innern umschließt, so
umfaßt die Einheit des Glaubens im Schöße der heiligen Kirche die
unzähligen Völker, die vermöge ihrer verschiedenartigen Verdienste
innerlich zusammengehalten werden. Damit also der Seelsorger sich nicht
unbesonnen ins Reden einlasse, ruft, wie schon zuvor gesagt, die ewige
Wahrheit mit eigenem Munde ihren Jüngern zu: "Habet Salz in euch und
Frieden untereinander", gleich als ob sie bildlich durch die Kleidung
des Hohenpriesters sagen wollte: Laßt Granatäpfel mit den Glödcchen
abwechseln, damit ihr durch alles, was ihr sprechet, mit vorsichtiger
Überlegung die Einheit des Glaubens bewahret. Auch müssen die
Seelsorger mit aller Sorgfalt darauf achten, daß sie nicht nur nichts
Verkehrtes, sondern auch das Richtige nicht übertrieben und ungeordnet
vorbringen. Denn oft verlieren die Worte ihre Kraft, da sie an den
Herzen der Zuhörer wegen unzeitiger und unvorsichtiger Geschwätzigkeit
des Redners abprallen; und eben diese Geschwätzigkeit, die den Zuhörern
nicht zum Fortschritt zu verhelfen weiß, verunreinigt nur ihren eigenen
Herrn. Deswegen wird gar recht durch den Moses gesagt: "Ein Mann,
welcher an dem Samenfluß leidet, soll unrein sein" (Lv 15,2). Der
Ausdruck und Vortrag des Redners nämlich ist für den Zuhörer gleichsam
der Samen des daraus entstehenden Begriffes. Das Ohr empfängt das Wort,
und die Seele gebährt den Gedanken. Die Weisen dieser Welt nannten
deswegen den vortrefflichen Lehrer Paulus den Halbwörtler (vgl. Apo
17,18). Wer also an der oben angezeigten Krankheit leidet, der wird für
einen Unreinen gehalten. Denn als ein Vielschwätzer entehrt er sich.
Hätte er aber durch einen ordentlichen Vortrag seine Gedanken an den
Mann gebracht, so wären etwa auch Früchte guter Gedanken aus der
Aussaat erfolgt: doch er ließ sich unbesonnen in eine Vieschwätzigkeit
ein, und so fruchtete der Samen des Wortes zu keiner Erzeugung
rechtschaffener Christen, sondern ging auf eine unreine Weise verloren.
Deshalb gab Paulus seinem Jünger in Bezug des ernsten Ermahnens in der
Predigt eine Belehrung, da er sprach: "Ich beschwöre dich vor Gott und
Jesus Christus, der die Lebendigen und die Toten richten wird, bei
seiner Wiederkunft und seinem Reiche: Predige das Wort, halte an damit,
es sei gelegen oder ungelegen" (2 Tit 4,1). Wenn der Apostel hier sagt
"ungelegen", so hat er vorausgeschickt "gelegen"; denn wenn das
Ungelegene sich nicht gelegen zu machen versteht, so richtet es sich
selbst im Herzen des Zuhörers durch seine Bedeutungslosigkeit zu
Grunde.
5. DER SEELSORGER MUSS GEGEN JEDERMANN VOLL LIEBE UND TEILNAHME SEIN UND MEHR ALS ALLE ANDEREN DER KONTEMPLATION ERGEBEN SEIN.
Der Seelsorger sei gegen alle voll Liebe und Teilnahme und mehr als
alle der Betrachtung ergeben, damit er mit einem Herzen voll Liebe die
Schwachheit der anderen in sich selber aufnehme und zu gleicher Zeit
durch erhabene Beschauung im Verlangen nach der unsichtbaren Welt über
sich selbst sich erhebe, damit er nicht im Streben nach dem Hohen die
Schwachheit des Nächsten verachte, oder bei der Herablassung zu dem
Elende des Nächsten das höhere Streben aufgebe. So wurde Paulus in das
Paradies geführt und durchforschte die Geheimnisse des dritten Himmels
(2 Kor 12,3), und doch gibt er die Betrachtung himmlischer Dinge auf
und richtet sein Auge auf das Ehegemach fleischlicher Menschen und
entscheidet, wie sie sich in ihren verborgenen Beziehungen zu verhalten
haben, indem er sagt: "Um die Unenthaltsamkeit zu vermeiden, habe jeder
sein Weib, und die Frau habe ihren Mann. Dem Weibe leiste der Mann die
Pflicht, und ebenso das Weib dem Manne" (1 Kor 7,2). Und gleich darauf
heißt es: "Entziehet euch einander nicht, außer mit gegenseitiger
Einwilligung eine Zeit lang, um euch dem Gebete zu widmen. Dann kommet
wieder zusammen, damit euch der Satan nicht versuche" (1 Kor 7,5).
Siehe, schon war er in die himmlischen Geheimnisse eingeweiht, und doch
beschäftigt er sich in herablassender Liebe mit den ehelichen Pflichten
fleischlicher Menschen; und dasselbe Geistesauge, das er entzückt zu
den unsichtbaren Dingen erhebt, senkt er herab zu den heimlichen Werken
der Schwachen. Bis über den Himmel erschwingt er sich in der
Beschauung, aber seine Sorgfalt ist nicht unbekümmert wegen des
Ruhelagers fleischlicher Menschen. Durch das Band der Liebe ist er mit
dem Höchsten und dem Niedrigsten verknüpft. Und während er sich selbst
durch die Kraft des Geistes mächtig nach oben erhebt, wird er ohne
Widerstreben aus Mitleid mit anderen schwach. Deshalb spricht er: "Wer
ist schwach, und ich bin es nicht mit ihm? Wer wird geärgert und ich
entbrenne nicht darüber?" (2 Kor 11,29) Und wiederum sagt er: "Den
Juden bin ich wie ein Jude geworden" (1 Kor 9,2o). Dies behauptet er
nicht, als wollte er den Glauben aufgeben, sondern indem er seine Liebe
ausdehnt, und die Ungläubigen gleichsam in seine Person umgestaltet,
damit er an sich selbst erkenne, wie er anderer sich erbarmen müsse, um
ihnen leisten zu können, was er selbst in gleicher Lage mit Recht
wünschen würde, daß es ihm geleistet werde. Darum sagt er auch: "Sei
es, daß wir im Geiste entrückt sind, so ist es für Gott, oder daß wir
nüchternen Sinnes sind, so ist es für euch" (2 Kor 5,13). Denn er
verstand es, sowohl durch die Beschauung sich über sich selbst zu
erheben, als auch herablassend sich seinen Zuhörern anzupassen. Deshalb
sah Jakob, als oben der Herr auf der Leiter stand, und unten der Stein
gesalbt wurde, die Engel auf- und niedersteigen (Gn 28,12). Dies
bedeutet, daß die echten Prediger nicht nur in ihrer Betrachtung das
heilige Haupt der Kirche, den Herrn in der Höhe suchen, sondern auch zu
seinen Gliedern in Barmherzigkeit sich herablassen. So geht auch Moses
im heiligen Zelte öfters ein und aus. Und während er in demselben in
Beschauung versenkt ist, lädt er draußen die Anliegen der Schwachen auf
sich. Drinnen betrachtet er die Geheimnisse Gottes, draußen trägt er
die Lasten fleischlich gesinnter Menschen. Auch nahm er in
zweifelhaften Fällen immer zur Stiftshütte sein Zuflucht und beriet
sich mit dem Herrn vor der Bundeslade. Dadurch gab er den Seelenführern
ein Beispiel, wie sie bei jedem Zweifel hinsichtlich ihrer äußeren
Anordnungen sich im Innern wie in einem heiligen Zelte sammeln und
gleichsam wie vor der Bundeslade den Herrn beraten sollen, indem sie in
innerer Sammlung die Blätter des göttlichen Wortes über ihre Zweifel
befragen. Auch die ewige Wahrheit, die sich uns durch Annahme unserer
Natur offenbarte, vertiefte sich auf dem Berge ins Gebet und wirkte
Wunder in den Städten (Lk 6,12). Sie wollte dadurch den guten
Seelenhirten den Weg zur Nachfolge bahnen, auf daß sie zwar in der
Betrachtung das erhabenste Ziel anstreben, aber voll Mitleid den
Bedürfnissen der Schwachen entgegenkommen sollten. Denn dann erhebt
sich die Liebe wunderbar zur Höhe, wenn sie barmherzig sich an das
Elend des Nächsten kettet. Durch dieselbe Kraft schwingt sie sich
mächtig zur höchsten Höhe, durch die sie auch zur tiefsten Tiefe
liebreich herniedersteigt.
Aber hierbei müssen sich die Hirten so benehmen, daß ihre Untergebenen
sich nicht scheuen, ihnen auch ihre geheimen Fehler anzuvertrauen;
sondern wie kleine Kinder zum Mutterherzen, so sollen die noch
Schwachen, wenn sie den Sturm der Versuchung erleiden, zum Herzen ihres
Hirten eilen und durch seine Ermahnung aufgerichtet, mit Gebetstränen
das hinwegwaschen, womit sie sich infolge des Reizes der Sünde befleckt
fühlen. Deshalb befand sich vor der Tempelpforte das "eherne Meer",
d.h. das Waschbecken zur Handwaschung für die Eintretenden, von zwölf
Rindern getragen, deren Kopf nach außen sichtbar, deren Rücken aber
verborgen war (3 Kn 7,25). Was bedeuten diese zwölf Rinder anderes als
die Gesamtheit der Hirten? Von diesen sagt das Gesetz, wie Paulus
anführt: "Du sollst dem dreschenden Ochsen nicht das Maul verbinden" (1
Kor 9,9j. Wir sehen von ihnen ihre äußeren Werke, aber es ist uns
verborgen, was sie im geheimen Gerichte vor dem strengen Richter
erwartet. Wenn sie nun ihre herablassende Geduld den Bekenntnissen und
der Tilgung der Sünden ihrer Mitmenschen zuwenden, dann tragen sie
gleichsam das Waschbecken vor der Tempelpforte, damit jeder, der zur
Pforte des ewigen Lebens eingehen will, dem Herzen des Hirten seine
Versuchungen offenabren und gleichsam in dem von Rindern getragenen
Waschbecken von den Sünden in Gedanken oder Werken sich reinigen könne.
Dabei kommt es nicht selten vor, daß auch des Hirten Seele durch
dieselben Versuchungen belästigt wird, die er von andern, um ihnen zu
helfen, gehört hat; denn natürlich wird das Wasser des Beckens durch
denselben Schmutz verunreinigt, den es an der Volksmenge getilgt hat.
Indem es den Schmutz aller, die sich waschen, in sich aufnimmt,
verliert es den Glanz der eigenen Reinheit. Deswegen aber soll der
Hirte sich nicht fürchten, denn vor Gott, der alles genau abwägt,
entgeht er umso leichter der eigenen Versuchung, mit je größerer
Barmherzigkeit er sich wegen einer fremden Versuchung abgemüht hat.
(Fortsetzung folgt) |