Unter Noes Zeitgenossen
von Theol. Prof. Dr. P. Severin Grill
Der hl. Ephräm erwähnt in seinen Werken, daß sich Noe sehr kränkte über den Unglauben und die Unsittlichkeit der Kainiten, zu denen immer mehr Sethiten atwanderten. "Es sahen die Gesetzlichen, daß schön seien die Töchter Kains, nahmen aus ihnen sich Frauen und wählten sie aus zur Unzucht. Die Züchtigen sahen die Schamlosen und liebten sie, anhingen Gerechte den Unkeuschen und liefen ihen nach, sich befleckend. Verdarben die Ehe von Anfang an, an den Straßen saßen die Dirnen. Die Tauben gingen ein zu denVipern, den Töchtern der Schlange. Diese empfingen und gebaren böses Gewürm, das sich mehrte auf Erden." Unter diesen Verkommenen blieb Noe heilig: "war Weizen im Unkraut, Traube in der Wüste, Taube unter den Geiern' das Rebhuhn unter den Milven. Er übte keine Wahrsagerei und kein Pfeilorakel. Er wurde vielmehr unmittelbar von Gott als Prophet erleuchtet und sah als solcher die Katastrophe voraus, die über das sündige Geschlecht kommen mußte. Daher begann er die Arche zu bauen im trockenen Land, weit abgelegen vom Meere und erregte Hohn und Spott bei den Schlemmern. Diese schmausten und tranken, nahmen und gaben zur Ehe bis zu dem Tage, da Noe in die Arche ging. Sie kamen nicht zur Einsicht, bis die Sündflut hereinbrach und alle hinwegraffte." ( Mt 24,37)
Wir erleben heute noachitische Zeiten in den Erfahrungen des täglichen Lebens und im theologischen Schrifitum. Wir stoßen auf Erscheinungen, die uns mit Unbehagen und Bangen erfüllen, weil wir instinktiv spüren, daß das kein gutes Ende nehmen kann. Die Staßen gehören nicht mehr allen Menschen, also auch den Fußgängern, sondern den sausenden Autos, den Traktoren und Lastwagen, die die Menschen beständig in Gefahr versetzen. Bäche und Flüsse haben ihre Frische verloren, weil sie Abwässer der Fabriken aufnehmen und ableiten müssen. Mädchen und Frauen kleiden sich nach einer schamlosen Mode und erregen die Gelüste sittlich schwacher Buben und Männer. Man wagt es, in diesen Aufzügen die Kirchen zu betreten: den Gottesdiest beizuwohnen und zur Kommunion, natürlich Handkommunion, zu gehen. Man findet nichts dabei, daß dazu eine Zirkusorgel spielt und Jazzlieder gesungen werden. Man nimmt an einer Messe teil, von der man oft zweifeln muß, ob sie gültig ist, jedenfalls nur Mahl und nicht Opfer Christi. Man hört Lesungen aus der Bibel, die man nicht verstebt, weil sie einer eigenen Erklärung bedürften, wozu die Zeit nicht reicht. Man hört Predigten, welche die vorkonziliare Kirche anklagen und beschuldigen und die postkonziliare Situation beschönigen, obwohl der Schwund der Kirchenbesucher und die Kirchenaustritte das Gegenteil beweisen. Die Moral sinkt rapid und der Prophet Oseas behält recht, da er sagt: "Es ist keine Treue, keine Liebe, keine Erkenntnis Gottes im Lande, sondern Gotteslästerung. Ehebruch, Lüge und Diebstahl und Mordtat reiht sich an Mordtat." (4.1-2)
Wir erleiden einen Anstoß um den andern, wenn wir Einblick nehmen in die moderne theologische Literatur. Mit Schrecken gewahren wir, daß uns da vielfach eine fremde Lehre entgegentritt, und daß es sich um eine Pseudotheologie handelt. Ein Wandel ist eingetreten im Rangverhältnis Theologie und Philosophie. Die letztere ist nicht mehr Magd der Theologie und ihre Sekretärin, sondern sie hat sich in revolutionärer Erhebung selbst zur Herrin gemacht und die Theologie zur Magd und Sekretarin degradiert. Das zeigt sich in allen theologischen Dissiplinen, wo man einen neuen Grund legen zu können glaubt. (1 Kor 3,11) Statt die Bibel nach der Glaubensanalogie auf ein Ziel (Erlösung der Menschheit) hin dogmatisch auezulegen, will man einen Gegensatz zwischen Exegese und Dogmatik sehen. "Die eigentlich Leidtragenden daran sind die jungen Theologen und in der Konsequenz die Hörer der Predigten." Als ob man nicht schon seit den frühesten Zeiten getrachtet hätte, die Bibel recht zu interpretieren und die wahre Glaubenslehre aus ihr abzuleiten. Wenn inswischen text- und literarkritische Forschungen neue Erkenntnisse geliefert haben, so berührt das doch die Substanz des Dogmas nicht! Wenn aber Text- und Literarkritik ihr Maß überschreiten und zu weit gehen, so hat das Lehramt die Pflicht, sich dagegen zu wehren, weil sonst der ganze Glaube in Gefahr kommt. Ein derartiger Fall liegt vor, wenn in einer endlosen Jesusliteratur Gestalt und Wirken Jesu "auf einen Begriff zu bringen versucht wird" und man dabei "für historisch gehaltene Nachrichten wörtlich nimmt" wie die Annahme, daß Jesus von einer Jungfrau geboren wurde, daß er alle Wunder gewirkt habe, die ihm in den Evangelien zugeschrieben werden, und: daß er schon zu Lebzeiten das Bewußtsein hatte, der eingeborene Gottessohn zu sein und vor der Menschwerdung eine rein göttliche Existenz im Schoß des Vaters geführt habe so komme die historisch-kritische Jesusforschung zum Ergebnis, daß diese und andere Angaben der Evangelien bereits dem christologischen Glauben der Gemeinde entstammen, und damit verliert das altkirchliche Dogma viel von seiner jahrhundertelang unangefochtenen Sicherheit. "Der Jesus, den man so gut aus den Evangelien zu kennen vermeinte, hat in Wirklichkeit anders auegesehen. 2) Das ist der Tenor der ungläubigen Jesusforschung, der leider auch katholische Gelehrte immer mehr unterliegen, statt Wasser aus der eigenen Quelle zu trinken (Spr 5,15), d.h. sich Licht und Wärme bei den Kirchenvätern zu holen. 3)
Sonderbar nimmt sich aus, wenn der Kirche "weitgehende Vernachlässigung in der Moral vorgeworfen wird. Sie habe besondere das 6. Gebot zu streng auegelegt, das 8. Gebot aber zu lax. Aber Exegeten, Dogmatiker und Moralisten wagten es nicht, auf fehlerhafte Entscheidungen aufmerkeam zu machen." 4) Wahr ist vielmehr, daß die Xirche durch die Jahrhunderte die einzige Zeugin für Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit war und als solche in die Schranken trat, wenn es auch ein Martyrium eintrug. Auch heute muß sie wieder eintreten für die Würde der Person, die Heiligheit der Ehe gegen die Abschaffung des sexuellen Tabus, für die eine Reihe von katholischen Theologen plädieren.
Trauer und Schmerz erfassen uns, wenn wir sehen, wie die neuen verderblichen Lehren durch die neuen Katechismen und Religionsbücher in das schlichte Volk und die gläubige Kinderwelt eindringen. Der holländische Katechismus hat einen Auszug bekommen in einem Kinderkatechismuus, in dem wie in jenem wichtige Glaubenswahrheiten nicht berührt oder verwässert dargestellt werden. In der letzten Nummer der "Entscheidung" (September 1972) referiert Prälat Erwin Hesse über das Religionslehrbuch eines Norbert Hofer und kommt zum Schlusse: "Wir stehen nicht an, ihm (dem Verfasser) zu attestieren, daß sein Buch jedem kirchenfeindlichen Kulturressort zur Ehre gereicht." (S.9) Hofer behauptet unter anderem, daß die Bibelwissenschaft lange Zeit ein "Reservat der evangelischen und Stiefkind der katholischen Theologie war." (S. 5) Von den wertvollen exegetischen Leistungen der Kirchenväter und Scholastiker, der nachtridentinischen Exegeten und jenen hervorragenden Erklärern der letzten Jahrzehnte (Hummelauer, Schlögl, Kortleitner) hat der unerfahrene Autor keine Ahnung. Über die freisinnige Bibelforschung des 19.Jahrhunderts hat der Historiker Wolfgang Menzel (1873 gestorben) das Urteil gefällt: "Hinter all dem gelehrten Unsinn verbergen sich doch nur Glaubenssweifel und Haß gegen die christliche Wahrheit und das Trachten, die Jugend zu verführen."
Wenig zufrieden können wir sein von so manchen Erzeugnissen der schönen Literatur, die das Katholische oder sogar überhaupt Christliche herabsetzen und ihre Giftspritzer unbemerkt austeilen.- Es sei hier erwähnt der Jesusroman von R. Graves, der Jesus in einer spiritistischen Sitzung erscheinen und zu Petrus sagen läßt: Weide meine Lämmer, weide meine Schafe, denn ich habe sie irregeführt." Ein ähnliches Urteil ist zu fällen über einen Paulusroman der Caldwell Taylor, in dem die Gestalt des Apostels in einem ungünstigen Lichte dargestellt wird (Häßlichkeit, Verführung eines Mädchens) und seine Missionstätigkeit fast ganz in den Hintergrund tritt. Von der modernen Unkunst zu reden erübrigt sich.
Das alles und anderes mehr erzeugt in uns das Gefühl, daß wir in einer Zeit leben, die jener vor der Sündflut gleicht: unter einer Menschheit, die keinen Glauben hat und keine Erkenutnis für den einzigartigen Wert der Kirche als Haus der Disziplin und Rettungsanstalt für Zeit und Ewigkeit.
Anmerkungen: 1) H. Vorgrimmler, Exegese und Dogmatik, Mainz 1962, Vorwort 2) Bibel und Kirche, 1972' Heft 2/2 3) Siehe die Glaubensbriefe des Jakob von Sarug, Heiligenkreuz, 1971-1972 4) Hans Küng, Wahrhaftigkeit' Herder 1968
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